Schriften von Georg R. Brinke
Die Weltreiche im Lichte der Prophetie
Dan 2,1-11 - Der Traum NebukadnezarsDan 2,1-11 - Der Traum Nebukadnezars
Der mächtige Nebukadnezar hatte Großes vollbracht, so daß alle Welt voll Anerkennung über das Geleistete war. Das damalige große Ägypten hatte er bei Karchemis im Jahre 605 besiegt. Auch das starke Assyrien, mit seiner ausgedehnten Hauptstadt Ninive, lag überwunden am Boden. Ja, selbst Juda, das Gott so oft von mächtigen Feinden errettet hatte (man bedenke an einen seiner letzten Siege über Sanherib), lag nun gefangen in Babylon. Nebukadnezar hatte in der Tat erstaunliches vollbracht, weil Gott ihm Gelingen schenkte und alle Königreiche in seine Hände gab. Und dennoch war Nebukadnezar in seinem Geiste beunruhigt (Vers 1). Er wußte nur zu gut, mit welchen ungerechten Mitteln er die Reiche überwunden hatte und, daß sein Reich auf Blut und Tränen gegründet war. Was wird die Zukunft bringen? – Das war die beängstigende Frage, die ihn nun beschäftigte. Werden sich andere Völker gegen mich auflehnen und mir antun, was ich ihnen angetan habe, oder wird es mit der Zeit zur Revolution kommen? Wird mein Reich Bestand haben? Solche und ähnliche Fragen mag der große Monarch stark erwogen haben. Da er jedoch den Schleier einer ungewissen Zukunft nicht lüften konnte, schlief er unter diesen peinlichen Gedanken ein. Wie schon manchmal in der Geschichte, knüpfte Gott auch hier mit einem Traum an, um auf diese Weise mit einem Menschen zu reden. Unser Text zeigt uns eindeutig, daß Gott die Geschichte der Völker in Seiner Hand hält und den Nationen die Grenzen setzt.
Der Träumer. Diesmal handelt es sich nicht um einen einsamen Wanderer, wie Jakob, oder um einen siebzehnjährigen Jüngling, wie Josef, sondern um den mächtigsten Monarchen seiner Zeit, um das goldene Haupt der Völkerwelt. Es kommt einem eigenartig vor, daß ein Mann wie er, der die halbe Welt zu seinen Füßen gelegt hatte und sich vor niemandem fürchtete, im Gegenteil, vor dem alle Welt zitterte ‑, eines Traumes wegen in große Unruhe geriet. Mächtige Fürsten, Gelehrte und Diplomaten standen um seinen Thron. Allen fiel die merkwürdige Unruhe des Monarchen auf. Hatte er schlechte Nachrichten erhalten, oder drohte gar eine Umwälzung in seinem Reich? In jedem Fall war der König sichtlich bewegt. Der Mensch, ohne Gemeinschaft mit Gott, gerät schnell in Unruhe. Nicht selten wird das Gewissen Nebukadnezars, das nicht zur Ruhe kam, ihn wegen seiner Grausamkeit angeklagt haben. Wenn Nebukadnezar schon am Abend v o r dem Traum im Geiste so unruhig war, wie wird es ihm erst am Morgen, n a c h dem merkwürdigen Traum, den er dazu noch vergessen hatte, zumute gewesen sein! Kein noch so angestrengtes Nachdenken verhalf ihm auf dessen Spur.
Der Traum. Gott antwortete also Nebukadnezar auf sein Nachsinnen über die zukünftige Gestaltung seines Reiches mit einem Nachtgesicht, und zeigte ihm die Geschichte der Völkerwelt bis hinaus in jene wunderbare Zeit, da her Herr selbst Sein Reich auf Erden aufrichten wird. Das war aber nicht das erstemal, daß Gott Sein Vorhaben mit den Völkern auf diese Weise kund getan hatte. Man lese 1. Mose 15,13-21, als Gott dem Abraham die Zukunft seiner Nachkommen offenbarte und ihn durch das Bild des rauchenden Ofens unterrichtete, durch welche Not sie in Ägypten geben würden. Auch Josef zeigte durch die Deutung des Traumes, den Pharao hatte, Gottes Vorhaben der damaligen Weltmacht „Ägypten“ an. Der große Kolumbus träumte von einer neuen Welt, machte sich später auf die Reise nach ihr und entdeckte Amerika. Die schönste aller Allegorien „Bunyans Pilgerreise“ ist das Ergebnis eines Traumes.
Und ist es nicht wunderbar, wie schicht und einfach Gott im Traume auch mit Nebukadnezar redete? Wäre es nicht bei Größe des Gottes des Himmels entsprechender und würdiger gewesen, wenn Er sich irgend eines gewaltigen Menschen bedient hätte, um die Zukunft zu enthüllen? Es ist vielfach Seine Weise, durch kleine Mittel große Dinge zu schaffen. Anderseits paßt Er sich auch der Ohnmacht Seiner Geschöpfe an, die Ihn sonst nicht verstehen würden. Sein Tun ist stets weise, und dient immer Seinem Zweck und Ziel. So auch hier! Es war eine angstvolle und dennoch sehr nützliche Unruhe, in die der König gekommen war, weil sie ihn zu jener notwendigen Erkenntnis führte: „ In Wahrheit, euer Gott ist der Gott der Götter und der Herr der Könige, und ein Offenbarer der Geheimnisse“ (Vers 47).
Nebukadnezars armselige Zuflucht. Unsagbar arm sind alle Menschen, ob groß oder klein, die nicht den Herrn als ihren Berater und Führer kennen. Menschen, vom Schlage eines Nebukadnezars, haben zu allen Zeiten ihre ,Zuflucht zu Medien, zum Kartenlegen, Tischklopfen und ähnlichen betrügerischen Dingen genommen. Ja, bis in die Gegenwart hinein lassen sich Regenten und Lenker großer Völker in ihren Schicksalsstunden durch solche Mittel beraten, anstatt ihre alleinige Zuflucht zum Gott des Himmels zu nehmen. Allerdings trifft Nebukadnezar weniger Schuld als die Regenten unserer Tage, weil er Gott nicht kannte. Priester, Propheten, Wahrsager, Zauberer, Sterndeuter und Gelehrte waren die damaligen Religionsvertreter. Sie saßen an des Königs Tisch, wie einst die 450 Priester der Aschera und die 400 Baalspfaffen am Tisch der Isebel aßen. Herren, die alles wußten ‑ bis daß ihr Wissen auf die Probe gestellt wurde! Auf des Königs Kommando hin wurden alle Weisen eiligst zum König gerufen. Mit dem üblichen „Heil dem König“ erschienen sie in seinem Palast, gespannt, den Grund des plötzlichen Befehls zu erfahren. Das ernste Aussehen des Königs ließ sie nichts gutes ahnen.
Nebukadnezar hob an: „Ich habe einen Traum gehabt.“ „Recht so“, mag die Antwort gelautet haben. „Bitte, o König, sag uns den Traum an und wir wollen ihn auslegen!“ Nebukadnezar aber mußte ihnen erwidern, daß er das Gesicht völlig vergessen habe. Da die Weisen vorgaben, Beziehungen zu den Göttern zu haben, erwartete der König ohne weiteres, daß sie den Traum anzeigen und deuten könnten. Ihre Unfähigkeit in dieser Sache erwecke aber großes Mißtrauen bei dem König. Er geriet mit seiner gepriesenen Staatsreligion ins Wanken, und ihre Vertreter erklärte er zu Kindern des Todes, weil sie in so wichtiger Stunde versagten. Aus allem heraus ist wohl anzunehmen, daß diese Männer dem König manchmal ihre angebliche Allwissenheit in Verbindung mit den Göttern gerühmt und den König betrogen hatten; denn sonst wäre es gerade zu undenkbar, daß Nebukadnezar entschlossen war, alle Weisen Babylons umbringen zu lassen.
Versagen nicht alle Religionen in der Stunde der Not und des Todes? Wie war es in Rußland zur Zeit der Revolution? Hat die in bloßen Formen erstarrte Kirche, im brausenden Sturm Halt und Schutz zu bieten vermocht? Oder liefern die dortigen Vorgänge, wie z. B. die Abschaffung der Religion, nicht jammervolle Beweise des Versagens einer insgesamt christuslosen Kirche? Leider wurden dann auch die wenigen lebendigen Christen, die bestimmt die besten Elemente im Staate waren, ins gleiche Band einbezogen. Und wie ist es um unsere Kirche bestellt? Ist sie das, was sie zu sein vorgibt, oder nach der Schrift sein sollte? Teilt sie der hungernden Menge das„Brot des Lebens“ aus? Ist sie in ihrer Gesamtheit die Offenbarerin der göttlichen Wahrheit? Entschieden müssen wir sagen: sie ist es nicht. Aber hier bahnt sich gewiß ein Gericht an, schlimmer als jenes in Nebukadnezars Tagen. Hat nicht das Volk längst gemerkt, daß der Leuchter weggerückt und das Salz dumm geworden ist und deshalb von der Menge zertreten werden wird. Die abgewichene Kirche kann unmöglich ihrem Schicksal entgehen, sonst wäre die Bibel nicht wahr, es sei denn, ihre Verantwortlichen kehren endlich in Sack und Asche zu Gott zurück und beugen sich tief über ihr Versagen. Tut die Kirche aber wahrhaft Buße, so vermag sie ebenso wie Daniel und seine Freunde, die Helferin aus der Not und die Offenbarerin göttlichen Geheimnisses zu sein.
Wie sehr es dem Menschen darum zu tun ist, in der Stunde der Not die Wahrheit zu erfahren, zeigt unsere Geschichte und die Tatsache, daß Nebukadnezar große Ehre und großen Reichtum denen anbot, die vermochten, ihm aus seiner inneren Verlegenheit herauszuhelfen. Und wo sind die Helfer in unsern Tagen, die getrieben von der Liebe Christi und in der Kraft des heiligen Geistes, der von Satan betrogenen Menge, dienen? Sie sind sehr dünn gesät; in der Regel die Vergessenen, die in die Ecke gestellten, wie Daniel, während die Menge religiöser Großtuer sich an Isebels Tisch labt. Aber wie jene das Gericht ereilte, so muß und wird es alle diejenigen ereilen, die die Menge mit christuslosen Predigten speisen. Mögen diese Erwägungen uns allen dienen und uns zu tiefer, innerer Einkehr führen! Nicht durch vieles Wissen, noch durch Halten und Anhören schöner Predigten, sondern allein durch das, was Gott uns in Seinem Wort geoffenbart hat, können wir dem Menschen dienen. Aber Gottes Offenbarungen kann nur der verstehen, der von Gott über seinen eigenen Zustand erleuchtet, den Stab über sich selbst gebrochen hat.
Was Nebukadnezar lernen sollte. Kehren wir, ehe wir das Blatt wenden, noch einen Augenblick zum König zurück. In der ersten Hälfte dieses Kapitels tritt uns die Unzulänglichkeit alles menschlichen Wissens entgegen. Die Ohnmacht des Geschöpfes gegenüber seinem Schöpfer. Nebukadnezar, der König, soll und muß zu der Erkenntnis kommen, daß seine Zauberer und Schriftgelehrten, mit all ihrer Weisheit nicht im Stande sind, ihm die so wichtige Sache anzuzeigen, die er wissen wollte. Er soll und muß erkennen, daß nur einer der weggeführten aus dem Lande Juda, mit Namen „Daniel“, allein fähig ist, Licht in das Dunkel zu bringen.