Nur zu schnell vergessen wir besondere Segenstage und machen uns neue Sorgen. Auch Jakob hatte bald das große Erlebnis von Mahanaim vergessen. Die Engel, die ihm schon im Traum von der Himmelsleiter eine Zusicherung der Bewahrung bedeuten sollten und ihm in Mahanaim sogar für's Auge sichtbar begegnet waren, wollten ihm sagen: „Jakob, du wirst Feinden begegnen, aber wir ziehen vor dir her. Du hast wohl irdische Feinde, aber weit mehr himmlische Freunde, die mit dir ziehen.“ Jakob scheint nun gar nicht mehr an sie zu denken, auch nicht an die Verheißungen Gottes, sondern nur an den rachesüchtigen Esau, den er fürchtete. Zwar wird, je mehr er der Heimat naht, seine Sehnsucht nach ihr umso stärker. Doch die ungeordnete Vergangenheit will ihm geradezu den Rückweg verschließen. Jakob sinnt auf rein menschliche Auswege, um mit Esau ins reine zu kommen, anstatt sich demütig vor seinem Gott niederzuwerfen. Solange der Mensch sich nicht gründlich vor Gott gedemütigt hat und mit Ihm ins reine gekommen ist, können ihm aber selbst Engel nicht helfen.
Jakobs erste Tat in Kanaan. Er versucht, mit Esau zu einer Versöhnung zu kommen. Das hätte er vor mehr als zwanzig Jahren tun sollen. Ein Familienrat unter Leitung der Eltern und vor allem unter der Beachtung der klaren Gottesverheißungen und unter gegenseitiger Beugung hätte bestimmt damals schon zu einer Versöhnung geführt. Jakob hatte für den Augenblick den leichteren Ausweg gewählt, die Flucht. Man läßt sich vom Feind etwa einflüstern, daß die Zeit der beste Arzt sei, die Wunde zu heilen; doch darin irren die Menschen sich meistens. Ein unruhiges, quälendes Gewissen kommt so nie zur Ruhe. Viele schleppen, wie Jakob, die schwere Last Jahrzehnte mit sich herum, anstatt sich einen weisen Seelsorger zu erbitten, der ihnen den rechten, Gott wohlgefälligen Weg zeigt, auf dem sie zur Ruhe und Fruchtbarkeit gelangen.
Jakob sandte nun eine Botschaft an Esau. Sie war in Form und Inhalt sehr demütig. Jakob nannte Esau seinen Herrn und sich selbst dessen Knecht; aber das Gegenteil war nach Gottes Willen und Verheißungen der Fall. (Vgl. auch Kap. 27,37). Nach Gottes Absicht war also Jakob der Herr und Esau der Knecht, aber die Sünde bringt den Menschen immer in Knechtschaft.
Jakob mag mit seiner demütigen Anrede beabsichtigt haben, den Ehrgeiz seines Bruders zu befriedigen. Deshalb war er überaus höflich. Er beabsichtigte, durch das Gefilde Edoms zu ziehen und wollte dies seinem Bruder kundtun. Aufrichtige Höflichkeit vermag Feindschaften zu überwinden. Jakob handelte zugleich sehr brüderlich und familiär. Er gab seinem Bruder Einsicht in seine Familienverhältnisse und berichtete über seinen langen Aufenthalt in Haran und über alle Erlebnisse, die er in der Fremde gehabt hatte. Zur Versöhnung mit Esau brachte Jakob ein großes Opfer. Er schenkte ihm 580 Stück Vieh. Was unternehmen wir, wenn wir mit Brüdern entzweit sind, um zur Versöhnung mit ihnen zu gelangen? Beschämt nicht Jakob viele? Ihm lag sehr daran, sein Verhältnis mit Esau zu ordnen, und darum brachte er dieses große Opfer.
Eine beunruhigende Nachricht. Esau mußte bereits von der Rückkehr Jakobs gehört haben und eilte ihm entgegen. Diese Nachricht ängstigte Jakob sehr. Erneut stand die ganze Geschichte mit dem unaufrichtigen Erstgeburtshandel und dem erstohlenen Segen Isaaks vor ihm. Wiederum mag der damalige Schrei Esaus wie ein fernes Echo an sein Ohr gedrungen sein. Wiederum wurde er erinnert an die angedrohte Rache (Kap. 27,41.42).
Jakob fragte sich, was wohl Esaus Anmarsch für ihn bedeute. Wie konnte er mit seinem kleinen Häuflein 400 Reitern begegnen? Jene Vierhundert mögen rauhe Männer wie Esau gewesen sein. Jäger, die ans Blutvergießen gewöhnt waren. Der zehnte Teil von ihnen wäre dem unbewaffneten Jakob schon zu stark gewesen. Eine ungeordnete Vergangenheit bleibt immer ein Schrecken. Es beunruhigen uns immer wieder neue, böse Gerüchte. Jakob vergaß aber gerade jetzt etwas Tröstliches: die Erscheinung der Engelheere von Mahanaim.
Jakob schmiedet neue Pläne. An guten Einfällen hat es ihm nie gefehlt. Ganz der Gefahr zu entgehen, erscheint ihm unmöglich. Was nun machen. Seine Pläne gehen schon aus seiner Botschaft an Esau hervor. Jakob teilt seine Herden, setzt sich dabei in eine Art Verteidigungszustand, um im Falle großer Gefahr möglichst noch zu retten, was zu retten ist. Rein menschlich beurteilt handelte Jakob, wie immer, auch hier sehr klug. Doch das genügte in diesem Falle nicht. Vor allem wollte Gott mit Seinem Knecht, der der kommende Segensträger war, zu Seinem Ziele gelangen. Bei allem blieb Jakob recht unruhig. Endlid aber ergreift er doch die rechte Zuflucht. Trotz aller Maßnahmen zur Selbsthilfe sieht Jakob seine Lage als hoffnungslos an und geht endlich ins Gebet. Beachten wir den kostbaren Inhalt seines Gebets.
Jakob schrie zu dem Gott seiner Väter (Vers 9). Einem so starken Gegner wie Esau gegenüber braucht er einen noch stärkeren Bundesgenossen. Er ruft den Gott seiner Väter an, der ihm ewige Treue zugesichert hat. Uns wird heute im Namen Seines geliebten Sohnes Erhörung unserer Gebete zugesichert (Joh 14,13.14). Im aufrichtigen Gebet hatte ,Jakob die sicherste Glaubensgrundlage, denn er wußte, daß Gott den Vätern einen ewigen Bund geschworen hatte. Seine Anrede im Gebet ist auch für uns eine wichtige Belehrung. Wir besitzen ein viel mächtigeres Mittel, erhörlich zu beten. Jakob kam im Namen seiner Väter, wir aber dürfen im Namen Jesu, des geliebten Sohnes, kommen und haben Freimütigkeit, durch Sein Blut vor Gott zu treten (Heb 10,19). Jakob bekannte in seinem Gebet seine völlige Unwürdigkeit. Er bittet: „Herr, rette mich von der Hand meines Bruders." Auch wir müssen mit dem Hauptmann bekennen: „Ich bin nicht wert, daß Du unter mein Dach kommest, aber erhöre mich um Deines vergossenen Blutes und Deiner Zusage willen“ (vgl. Mt 8,8).
Jakob hielt Gott Seinen eigenen Befehl vor: „Herr, Du hast mir ja befohlen, zurück nach Bethel zu gehen, ich bin also nicht eigenmächtig gegangen. Es war nicht Reiselust oder ein Verwandtschaftsbesuch, der mich zu der Wanderung veranlaßt hatte, sondern Dein Auftrag.“ Jakobs Gebet war klug, es war von Gottes Geist geleitet. Wir beten auch in Schwierigkeiten weit erhörlicher und zuversichtlicher, wenn wir uns auf Seinen Wegen wissen; da stehen uns Seine Engelsmächte zur Verfügung.
Besonders aber hebt Jakob Gott die Verheißung vor: „Du hast gesagt: ,Ich will dir wohltun! ‑ Jakob war sich dessen völlig bewußt, daß er eher die Zuchtrute verdient hätte als Gottes Bewahrung und Segen, aber er ist davon überzeugt, daß Gott nicht lügen kann (Heb 6,18) und stets zu Seinen Verheißungen steht. Nichts bindet einen ehrlichen Menschen mehr als ein Versprechen, aber es mögen Umstände eintreten, die seine Verwirklichung vereiteln. Der Reiche kann plötzlich arm werden, der Gesunde krank und sind nun außerstande, ihre Versprechen einzulösen. Ganz anders ist es bei Gott. Er ist der Unveränderliche, und Seine Ehre gebietet Ihm, Seine Verheißungen einzulösen. Er ist treu gegenüber allen, die Ihn anrufen, die mit Seinen Verheißungen zu Ihm kommen. Das wußte Jakob, darum flehte er so kindlich, so vertrauensvoll, so erwartend. Hierin wollen wir Jakob nachahmen und Gott sagen, daß Er uns auf den neuen Weg gebracht hat nach dem verheißenen Kanaan, einen Weg voller Feinde und Schwierigkeiten. Erinnern wir Ihn an Sein Versprechen, uns wohlzutun. Wer so betet, erlebt wie Jakob gnädige Erhörung.
Jakob nannte den Herrn nur den Gott seiner Väter. Warum ging er nicht noch einen bedeutsamen Schritt weiter und nennt Ihn, wie später Thomas: „Mein Gott und mein Herr!“? (Joh 20,28).
Groß ist der Unterschied zwischen Jakob und seinem Bruder Esau. Esau kam Jakob als ein mächtiger Mann entgegen, begleitet von 400 Mann. Seine Heiraten mit hethitischen Fürstentöchtern mögen ihm erhebliche materielle Vorteile eingebracht und Gunst und Einfluß bei den Kanaanitern verschafft haben. So darf er gar mächtig auftreten. Jakob war dagegen, nach außen hin gesehen, schwach, ein kleines Häuflein; aber er hatte einen mächtigen Gott und in dessen Dienst stärkere Begleiter als die 400 Mann von Esau: die Heerlager von Mahanaim. Mitleidig mag Esau auf seinen Bruder herabgeschaut haben, aber in Gottes Gunst und im Schutze seines kostbaren Blutes zu stehen, das ist mit gar nichts in dieser Welt zu vergleichen. Kind Gottes, du bist mächtig durch den Allmächtigen, reich durch den Schöpfer und Geber aller Dinge. Unsere Hilfe ist der Herr, der Himmel und Erde gemacht hat. Er nennt uns Freunde und steht zu uns in allen Lebenslagen.