Mit diesem Kapitel beginnt ein neuer Abschnitt im Leben Jakobs. Das Vaterhaus, die lange Reise und das gesegnete Bethel lagen hinter ihm. Berge, Täler, Flüsse und Wüsteneien trennten ihn von seiner geliebten Heimat. Der Gott von Bethel hatte Sich als treu erwiesen und ihn gnädig bewahrt auf der etwa 1000 km langen Reise.
Der Abschied von Bethel. Vers 1 beginnt mit den Worten: „Jakob erhob seine Füße und ging nach dem Lande der Kinder des Ostens“. Geleitet von dem Segen seines Erlebnisses von Bethel ließ es sich gut reisen. Im Traum von der Leiter wurde Jakob klar, daß Engel ihn begleiten würden. Jakob ist hier ein Bild der ersten Liebe. Seine Begegnung mit Gott und seine Hingabe an Ihn blieben ihm ein unvergeßliches Erlebnis. Nach solchen Erlebnissen ist der Glaube besonders lebendig und wirksam und scheut keine Schwierigkeiten. Die seelische Bürde, die noch von Beer-Seba auf Jakob lastete, wurde durch die Erfahrungen von Bethel erleichtert. Gestärkt und befestigt durch die großen Segnungen soll Jakob nun im Licht von Bethel wandeln und in diesem Geiste bleiben. Jakob hat sich in diesem Sinne in der Folge nur wenig bewährt. Er ließ sich noch lange nicht reinigen von jeglicher Befleckung des Fleisches und des Geistes, um die Heiligung zu vollenden, sondern wandelte meistens nach dem Fleisch (vgl. Röm, 8). Wäre Jakob in der ersten Liebe geblieben, so wäre wohl seine Rückkehr nach der Gewinnung Rahels ebenso schnell erfolgt wie jene des Elieser, nachdem er Rebekka gefunden hatte. Untreue und Ungehorsam fesselten Jakob lange an Haran, so wie später seine Nachkommen, die vierzig Jahre ihres Ungehorsams wegen in der Wüste umherirrten. Mein Leser, auch diese Dinge sind uns zur Warnung gesagt, damit wir zur ersten Liebe zurückkehren.
Die Ankunft in Haran. Müde von der Reise rastet Jakob an einem Brunnen. Ortsbenennungen und Wegweiser kannte man damals nicht und so erkundigt sich Jakob bei den Hirten nach dem Namen des Ortes und erfährt, daß er am Ziel, in Haran, angelangt ist. Er fragt gleich nach seinem Onkel Laban und erfährt weiter, daß Rahel, Labans Tochter, gleich erscheinen werde. Hier vermissen wir bei Jakob einiges, wenn wir an Elieser denken, der niederfiel und Gott dankte für die Gnade, die Er zu seiner Reise gegeben hatte (1. Mose 24,26). Merkte Jakob nicht, wie sich schon hier ein Teil der reichen Verheißung Gottes in Bethel an ihm erfüllte?
Beachtenswert ist Jakobs Unterredung mit den Hirten, beachtenswert auch, wie schnell er ihre Zuneigung gewann. Er nannte sie Brüder. Das tat er wohl auch deshalb, weil sie ebenso wie er selbst Hirten waren. Jakob zeigt uns hier, wie schnell wir unsere Mitmenschen durch Freundlichkeit und Interesse an ihrer Arbeit gewinnen können. Zugleich aber stoßen wir gleich wieder auf seine alte List. Als Jakob erfuhr, daß Rahel bald erscheine, versuchte er, die Hirten wiederum auf die Weide zu locken mit der Begründung, daß es noch zu früh sei, die Herden einzutreiben (Vers 7). Offenbar wollte er gern Rahel allein treffen. So verbirgt sich oft hinter einem guten Rat unser Eigennutz.
Eine unvergeßliche Begegnung. Mit großer Spannung erwartete Jakob seine Base. Bereitwilligst diente er ihr, wälzte den schweren Stein von der Öffnung des Brunnens und tränkte ihre Schafe. Wiederum fällt uns ein Unterschied zwischen ihm und Elieser auf. Dort war es Rebekka, die die Kamele Eliesers tränkte, hier ist es umgekehrt. Nachdem Jakob die Herden getränkt hatte, gab er sich zu erkennen, nannte den Namen seiner Mutter Rebekka, den Rahel vom Hörensagen gewiß längst kannte. In Vers 10 wird Jakobs Mutter dreimal erwähnt. Er fällt Rahel um den Hals und küßt sie. Das war, wie man so sagt, Liebe auf den ersten Blick. Anderseits hatte Jakob als Vetter ein Recht, seine Base zu küssen. Rahel, die gewiß aus dem Staunen kaum herauskommt, eilt, wie einst Rebekka, ins Haus und meldet den Gast an. Laban lässt alles stehen und liegen, um den willkommenen Gast zu begrüßen. Möglicherweise hat er erwartet, er brächte reiche Geschenke mit wie einst Elieser. Jakob kehrt nun in das Haus seines Onkels ein und wird wohl in der heute noch üblichen Weise Grüße von daheim überbracht und tausenderlei Fragen beantwortet haben. Gewiß hat er auch von seinem großen Erlebnis von Bethel berichtet. Sicher ließ er auch nicht unerwähnt, daß der Segen seiner Väter auf ihm ruhe und er der Erbe der Verheißung sei. Das alles mußte einen tiefen Eindruck auf den habsüchtigen, listigen Onkel Laban machen. Berechnungen recht materieller Art werden ihm durch den Kopf gegangen sein. Aber daß Jakob ihm zwanzig Jahre dienen werde, wäre ihm kaum in den Sinn gekommen. Wer sich aber, wie Jakob, nicht vom Heiligen Geist und durch das Wort Gottes erziehen läßt, rnuß Gottes Zucht oft auch durch Menschen erfahren.
Paddan‑Aram ein Vorbild auf das Volk Israel. Jakobs Aufenthalt ist ein treffliches Bild vom Volk Israel in der Gegenwart. Wie einst Jakob fern von seiner Heimat in der Fremde weilen mußte, so ist gegenwärtig der weitaus größere Teil seines Volkes noch fern vom Lande der Verheißung ohne Altar und ohne Priestertum, denn auch Jakob mußte beides entbehren, bis er zurückkehrte nach Bethel. In Labans Hause diente man den Götzen. Da war ohnehin kein Raum für wahres Priestertum. Wiederum war es wie bei seinem Auszug aus der Heimat, daß Trübsale ihn dazu zwangen, Haran zu verlassen. Ähnlich wird es dem Israel von heute ergehen, der Haß der Völker wird es aus der Fremde forttreiben und so ungewollt zurückbringen in das Land, das Gott ihm verheißen hat. Dort wird es wiederum den Herrn, seinen Gott, anbeten, wie das Jakob tat, als er später zurück nach Bethel kam.
Lernen wir noch eine wichtige Lektion von den Hirten. Wenn Jakobs Aufenthalt in Paddan‑Aram ein Vorbild auf Israels Aufenthalt unter fremden Völkern, fern vom Heimatlande, ist, so sind uns die Hirten in ihrer Fürsorge für ihre Herden ein Vorbild, wie wir besorgt sein dürfen und sollen um die Schafe Jesu Christi. Die Verse 2, 3, 7 und 8 illustrieren die Liebe des einen guten Hirten und dessen Besorgnis um Seine Schafe (Joh 10,14 ff). Er weidet und tränkt sie und wird sie zu Seiner Zeit in die oberen Hürden führen. Der Herr braucht Hirten für Seine Herde und sagt uns auch deutlich, was für Bedingungen Er ihnen stellen muß. Vor allem gilt auch ihnen Seine Frage an Petrus: „Hast du mich lieb?“ (Joh 21,17).