Schriften von Cor Bruins
A. Mk 15,1-5 Mt 27,2.11-14 Lk 23,1-5 Joh 18,28-38 - Das erste Verhör vor PilatusA. Mk 15,1-5 Mt 27,2.11-14 Lk 23,1-5 Joh 18,28-38 - Das erste Verhör vor Pilatus
Markus 15,1-5; Matthäus 27,2.11-14; Lukas 23,1-5; Johannes 18,28-38
Markus 15,1-5: Markus erwähnt den unserem Abschnitt vorausgegangenen Dialog zwischen den Juden und Pilatus nicht, den wir in Johannes 18,29-31 finden.
Die Juden warfen Jesus Auflehnung gegen den Kaiser vor (Lukas 23,2); daher beginnt Pilatus in ziemlich spöttischem Ton: „Bist du der König der Juden?“ (V. 2)
Jesus antwortet mit einer dem Hebräischen eigentümlichen Redewendung, die eine nachdrückliche Bejahung ausdrückt. Alle vier Evangelisten geben exakt den gleichen Wortlaut wieder: „Du sagst es“ (s. Matthäus 27,11; Lukas 23,3; Johannes 18,37).
Wir sehen den Herrn Jesus hier öffentlich vor Pilatus und Seinen Anklägern stehen, und Er antwortet nichts (V. 5). Das steht nicht im Widerspruch zu Johannes 18,37. Dort - wie in dem ganzen Abschnitt von Vers 34 bis 38 - haben wir anscheinend ein Zwiegespräch zwischen Pilatus und Jesus, das abseits von der Volksmenge geführt wurde.
Der Grund für Pilatus' Verwunderung über das Schweigen Jesu war, daß er, obwohl er völlig von Seiner Unschuld überzeugt und gewillt war, Ihn freizulassen, seinen Gefangenen entschlossen fand, Sich nicht Selbst zu verteidigen. Dieser Gefangene wollte sich nicht einmal als unschuldig hinstellen. Jesus wollte verurteilt und nicht freigesprochen werden. So war es ja der bestimmte Ratschluß Gottes. Doch an dieser Stelle müssen wir dann den Bericht des Lukas über das Verhör vor Herodes einfügen.
Matthäus 27,2.11-14: Die Tatsache, daß Jesus schwieg, wird hier stärker als in den anderen Evangelien betont. Wir lesen: „antwortete er nichts“ (V. 12) und „er antwortete ihm auch nicht auf ein einziges Wort“ (V. 14). Man wird hier an die Prophezeiung erinnert: „Er wurde mißhandelt, aber er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf ... und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern“ (Jes 53,7). Es ist das stumme Opfer, völlig dem Willen des Vaters ergeben. Er ist hier Der, der Sich bewußt der Feindschaft böser Menschen, der Feindschaft des Volkes ausliefert. Er wehrt Sich nicht gegen die, zu denen Er gekommen war.
Vers 12 macht die Schuld der religiösen Führer ganz deutlich. Sie waren die Anstifter und offenen Betreiber dieses Verbrechens, und daher schuldiger als die Nationen.
Lukas 23,1-5: Die Verse 2,4 und 5 verdienen unsere Aufmerksamkeit. In Vers 2 haben wir die offizielle Anklage. Jesus war befunden worden als einer, der
a. die Nation verführt,
b. wehrt, dem Kaiser Steuer zu geben und
c. sagt, daß er selbst Christus, ein König, sei.
Das waren durchweg Lügen, Jesus hatte im Gegenteil gesagt: „Gebet daher dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist (Kap. 20,25). Diese Verdreher der Wahrheit wollten den Zorn des Pilatus erregen.
Pilatus jedoch reagiert hierauf mit der verwunderten Frage: „Bist du der König der Juden?“ Wir finden die Unterredung zwischen Jesus und Pilatus in diesem Evangelium nicht, sondern Jesus antwortet einfach: „Du sagst es“ (V. 3). Dennoch wird uns die Schlußfolgerung des Pilatus aus jener Unterredung in den Versen 4 und 5 mitgeteilt. Er ist von der Unschuld Jesu überzeugt und fällt sein Urteil: „Ich finde keine Schuld an diesem Menschen.“
Doch darauf schreien ihm die Hohenpriester und der Pöbel die Worte von Vers 5 zu, die nur Lukas festgehalten hat. Sie bilden praktisch eine zusätzliche Anklage, nämlich daß Jesus
a. das Volk aufwiegle,
b. dies in Judäa getan habe und
c. in Galiläa damit begonnen habe.
Hatte Pilatus recht gehört? Jesus hatte in Galiläa mit diesen Umtrieben begonnen? Oh, hier bestand ja eine Möglichkeit, diese widerliche Angelegenheit loszuwerden - er wird Jesus zu Herodes senden, dem für Galiläa zuständigen Vierfürsten. Doch bevor wir darauf eingehen, was mit Jesus vor Herodes geschah - worüber nur Lukas berichtet - müssen wir erst noch der Gerichtsverhandlung vor Pilatus im Johannestw angelium folgen.
Johannes 18,28-38: Der Schilderung des Verhörs widmet Markus 19 Verse, Matthäus 21 Verse und Lukas 17 Verse, Johannes aber 29 Verse.
Wenn wir in Vers 28 lesen, daß sie Ihn von Kajaphas in das Prätorium des Pilatus führten, fällt uns sicher ein, daß Kajaphas unmittelbar zuvor die morgendliche Sitzung des Synedriums, des jüdischen Gerichtshofes, geleitet hatte! Es war „frühmorgens“, als die Schar vor Pilatus' zeitweiliger Residenz erschien.
Pilatus haßte die Juden. Da er für die Festtage mit irgendwelchen Unruhen rechnete, war er von Cäsaräa nach Jerusalem gekommen, war früh aufgestanden und immerhin bereit, sie zu empfangen. Zweifellos steigerte sich seine Abneigung durch ihr grobes Benehmen und ihre heuchlerische Scheinheiligkeit, indem sie besorgt waren, sich nicht etwa durch das Betreten seines heidnischen Hauses zu verunreinigen (V. 28). Das in den Versen 28 und 29 Mitgeteilte steht nur in diesem Evangelium.
Notgedrungen läßt sich Pilatus herab, zu ihnen hinauszugehen (V. 29). Mit einem Blick erfaßt er dort die prunkvolle Versammlung priesterlicher Würdenträger, begleitet von einem ungeordneten Haufen, der ein geduldiges Opfer vor sich herstößt. Irgendwie umgibt eine unaussprechliche Hoheit und Majestät diesen Mann. Pilatus läßt ihnen keine Zeit, den Mund zu öffnen, sondern kommt ihnen mit der barschen Frage zuvor: „Welche Anklage bringt ihr wider diesen Menschen?“ (V. 29). Nach römischem Recht mußte eine deutliche Anklage gegen den Beschuldigten vorgebracht werden, bevor er verurteilt werden konnte.
Doch sie wollten keine weitere richterliche Untersuchung, sondern lediglich die Erlaubnis, Jesus zu töten. Diese Juden und Pilatus passen zueinander. So geben sie ihm - man möchte sagen, brummig und fast beleidigend - zur Antwort: „Wenn dieser nicht ein Übeltäter wäre, würden wir ihn dir nicht überliefert haben.“
Doch Pilatus läßt sich von einer so unbestimmten Anklage wie „Übeltäter“ nicht beeindrucken. Wenn sie ihm nicht zugestehen wollen, als Richter die Sache zunächst zu untersuchen, so will er auch nicht Scharfrichter sein. Er schiebt ihnen den Fall wieder zu: „Nehmet ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz“ (V. 31). Diese Abweisung hat sie zweifellos sehr aufgebracht, denn nun gestehen sie ein: „Es ist uns nicht erlaubt, jemand zu töten“ (V. 31). Die römische Besatzungsmacht hatte ihnen dieses Recht genommen. Sie wollten Ihn ohnehin nicht steinigen. Nein, sie hatten die römische Hinrichtungsmethode für Ihn ins Auge gefaßt; das war die furchtbarste Art der Hinrichtung, durch die der Betreffende überdies verflucht wurde (5Mo 21,22-23). Aber nicht sie hatten sich das ausgedacht der Herr Jesus Selbst hatte es schon lange vorher so vorausgesagt (Vers 32). Er hatte in Matthäus 20,18.19 gesagt: „... und sie werden ihn zum Tode verurteilen; und sie werden ihn den Nationen überliefern, um ihn zu verspotten und zu geißeln und zu kreuzigen.“
Doch Pilatus wollte Jesus retten! Hier sind alle seine vergeblichen Bemühungen:
a. Zuerst sagt er den Juden, wie wir in V. 31 sahen, sie sollten Ihn nach ihrem Gesetz selbst richten.
b. Dann hören wir von Lukas, wie er eine Ausrede findet und Jesus zu Herodes schickt.
c. Dann wieder zwingt er sie, zwischen Barabbas und Jesus zu wählen, ohne je zu vermuten, daß sie den Mörder vorziehen würden.
d. Später appelliert er an ihr menschliches Mitgefühl, indem er Jesus herausführt und sagt: „Siehe, der Mensch!“ (Johannes 19,5). Hernach sagte er noch: „Siehe, euer König!“ (V. 14)
e. Schließlich wäscht er seine Hände, um auszudrücken, daß er an der Kreuzigung Jesu unschuldig sei (Matthäus 27,24).
Pilatus verläßt die Volksmenge für einige Minuten und geht wieder in das Prätorium hinein. Dann lesen wir von seinem Gespräch mit Jesus. In seiner Frage in V. 33 „Bist du der König der Juden?“ klingt vielleicht in erster Linie Mitleid an, wenn er so die äußerliche Erscheinung Jesu betrachtete. Dann liegt wohl auch ein verächtlicher Unterton mit darin: Du - der König der Juden?“
Beachten wir die nächsten Verse (34-38), die nur in diesem Evangelium stehen.
Ein „Nein“ hätte bedeutet, die Wahrheit zu leugnen; ein „Ja“ mußte den Fragenden irreführen. Deshalb antwortet Jesus in Vers 34: „Sagst du dies von dir selbst, oder haben dir andere von mir gesagt?“ Mit dieser Gegenfrage sucht der Herr das Herz des Pilatus zu erreichen. Inwieweit war Pilatus tatsächlich willens, die Wahrheit über Jesus in Erfahrung zu bringen?
Pilatus aber fährt Jesus schroff an: „Bin ich etwa ein Jude?“ Er war keiner und kannte daher auch die Schrift nicht. Das war in gewissem Sinne zu entschuldigen.
Jesu Erwiderung sollte sowohl die Frage des Pilatus beantworten als auch seine Neugierde wecken; Er sagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wenn mein Reich von dieser Welt wäre, hätten meine Diener gekämpft, auf daß ich den Juden nicht überliefert würde; jetzt aber ist mein Reich nicht von hier“ (V. 36).
Pilatus begreift augenblicklich, und seine Neugierde ist tatsächlich geweckt, wenn er fragt; „Also du bist ein König?“ (V. 37) Hier werden wir an 1. Timotheus 6,13 erinnert: „Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat.“ So sagt Jesus in Vers 37, daß Er tatsächlich ein König ist und dazu hier ist, um der Wahrheit Zeugnis zu geben.
Wahrheit? - Pilatus, praktisch ein Atheist, ein Weltmensch, der vor einem Mord nicht zurückschreckt, kann sich nicht die Zeit nehmen, auf solchen „Mystizismus“, auf solche abstrakten Ideen einzugehen.
So sagt er mit ungeduldigem Achselzucken: „Was ist Wahrheit?“ (V. 38) Aber er gibt Jesus keine Gelegenheit mehr zur Antwort, sondern eilt hinaus, um diesen religiösen Fanatikern die Meinung zu sagen.
Wie ruhelos und zerrissen ist er, dieser Pilatus! Er ging hinaus (V. 29), er ging hinein (V. 33), er ging wieder hinaus (V. 38); in Kap. 10,4 geht er wieder hinaus, dann ging er wieder hinein (V. 9) und führt schließlich Jesus hinaus (V. 13).
Er ist nicht zu entschuldigen. Jesus hatte ihm eine Gelegenheit gegeben, die Gelegenheit seines Lebens, die Wahrheit aus Seinem Munde zu vernehmen - aber Pilatus war zu beschäftigt mit dem Versuch, Jesus zu retten, Ihn loszugeben. Dann verkündet Pilatus seinen Urteilsspruch (V. 38): „Ich finde keinerlei Schuld an ihm.“