Von dem Augenblick an, in dem der Geist Gottes in mir ein tiefes Interesse für das Wort Gottes, und speziell für die vier Evangelien, weckte, kamen mir immer wieder Fragen der Art: Warum unterscheidet sich der eine Evangelist von dem anderen darin, daß er gewisse Worte oder Geschehnisse berichtet oder ausläßt? Was ist der Grund - und es muß doch gewiß einen Grund geben! - weshalb der eine Evangelist die Ereignisse in anderer Reihenfolge gruppiert als die anderen?
Etwas Licht begann mir zu dämmern, als der Heilige Geist mir klarmachte, daß jeder der vier Schreiber unter der direkten Inspiration des Geistes mit seinem Evangelium eine ganz bestimmte Absicht und ein besonderes Ziel verfolgte. Im normalen Leben könnten wir die Biographie eines Mannes von verschiedenen Gesichtspunkten aus schreiben, zum Beispiel
als Ehemann: sein Familienleben.
als Geschäftsmann: sein Leben im Beruf.
als Freund und Mitmensch: sein gesellschaftliches Leben.
als Arbeiter für Gott: sein geistliches Leben.
Der Heilige Geist lehrte mich, dieses Prinzip auf das Studium der Evangelien anzuwenden. Als ich das tat, begann ich, erstaunliche und wunderschöne Dinge zu entdecken.
Um nur ein paar wichtige und interessante Dinge zu nennen: Der Heilige Geist zeigt uns im Evangelium nach Matthäus Jesus als den Christus, den Sohn Davids und den König Israels, der kommt, um sein Reich aufzurichten. Dieses Thema zieht sich durch das ganze Matthäusevangelium:
Kapitel 1: | Sein Geschlechtsregister wird über Joseph auf König Salomo und dann bis auf Abraham zurückgeführt. |
Kapitel 2: | Die Magier kommen und huldigen dem Kindlein als dem König der Juden. |
Kapitel 3: | Johannes der Täufer verkündigt, daß das Reich der Himmel nahe gekommen ist. |
Kapitel 5-7: | Die Grundsätze, die „Verfassung“ des Reiches der Himmel. |
Kapitel 13: | Weil der König verworfen worden ist, sehen wir hier das Reich anhand von Gleichnissen in seiner verborgenen Form. |
Kapitel 17: | Hier erhalten wir weitere Einblicke in das kommende Königreich. |
Kapitel 18: | Es zeigt uns, welche Charakterzüge die tragen sollten, die zum Königreich gehören. |
Kapitel 25: | Die „Brüder“ des Königs werden gerechtfertigt. |
Kapitel 26 - 27: | Der „König der Juden“ wird gekreuzigt (27,37). |
Das Markusevangelium verfolgt ein ganz anderes Thema. Hier läßt uns der Heilige Geist den Dienst Jesu Christi, des Sohnes Gottes, sehen. Markus, der selber im Dienst versagt hatte, später aber „nützlich zum Dienst“ wurde, wird vom Geist geleitet, Gottes treuen Knecht zu beschreiben. Das ist eine große Ermutigung für alle, die wissen, daß sie nur „unnütze Knechte“ sind.
Kapitel 1: | Wir finden hier kein Geschlechtsregister. Das ist gut zu begreifen, denn die Herkunft eines Knechtes ist uninteressant; wichtig ist nur, daß er ein guter Knecht ist. |
Kapitel 3: | Der Herr Jesus tut am Sabbat Gutes. |
Kapitel 4: | Es beginnt mit dem Gleichnis vom Säemann. Vergleichen wir Matthäus, Markus und Lukas miteinander, so sehen wir, daß jeder Schreiber einen anderen Gesichtspunkt hervorhebt: Markus betont das Säen: „Siehe, der Säemann ging aus zu säen“ (Vers 3). Matthäus hebt den Säemann hervor: „Der den guten Samen sät, ist der Sohn des Menschen“ (13,37). Lukas legt das Gewicht auf die Saat: „Der Same ist das Wort Gottes“ (8,11). |
Kapitel 6: | Der Unglaube der Juden hindert den Herrn Jesus, Sein Werk zu tun (Vers 5). |
Kapitel 16: | Der verherrlichte Herr wirkt mit (Seinen Jüngern; Vers 20). |
Im Evangelium nach Lukas zeigt uns der Heilige Geist die Gnade Gottes, geoffenbart durch den Menschen Jesus, und die „moralischen Wege“ Gottes. Hier wieder nur einige Punkte:
Kapitel 3: | Wir sehen, wie Jesus bei Seiner Taufe als abhängiger Mensch betete. Das Geschlechtsregister des Herrn wird über Maria bis auf Adam zurückgeführt; Er ist ja der „zweite Mensch“ und der „letzte Adam“. |
Kapitel 6: | Jesus ist als der Sohn des Menschen „Herr auch des Sabbats“ (Vers 5). Er verbringt die ganze Nacht „im Gebet zu Gott“ (Vers 12). |
Kapitel 9: | Als der Herr auf dem Berg verherrlicht wurde, ist Er wieder im Gebet (Vers 29). In Vers 30 werden Mose und Elia einfach als „zwei Männer“ beschrieben. |
Kapitel 10: | Der Herr Jesus ist „der Nächste“ eines jeden, der in Not ist (Vers 36). |
Kapitel 11: | In Vers 1 sehen wir den Herrn wieder im Gebet, später hören wir, wie eine gottesfürchtige Seele die Gnade Gottes, die sich in Ihm offenbart, wertschätzt. |
Kapitel 14: | Die Gnade Gottes streckt sich zu Menschen aus, die sie nicht verdient haben. Der mittlere Teil dieses Evangeliums (von 9,5 bis 18,12) ist nicht chronologisch geordnet; wir finden hier verschiedene Ereignisse, die uns geistliche Lektionen vermitteln. Wir sehen hier die moralische Schönheit des Herrn. |
Kapitel 15: | Dieses wunderbare und einzigartige Kapitel zeigt uns wieder die Gnade, die Gott Sündern erweist. |
Kapitel 16 - 17: | Hier sehen wir, wie die Grundsätze der Gnade im Leben eines Menschen, der als Sünder Gnade und Barmherzigkeit empfangen hat, einem Bruder gegenüber, der sündigt, verwirklicht werden müssen (17,3.4). Es werden uns auch die Zeichen für das Kommen des Sohnes des Menschen angegeben. |
Kapitel 19: | Nur in diesem Evangelium lesen wir die Bekehrung des Zachäus. Weiter wird uns gezeigt, daß wir treue Verwalter der Güter unseres Herrn sein sollen, bis Er wiederkommt. |
Kapitel 23: | Der Mensch Jesus trauert über Jerusalem und betet für Seine Feinde. |
Im Johannesevangelium wird der Nachdruck auf die Gottheit der Person Jesu Christi gelegt:
Kapitel 1: | Er ist das ewige Wort. In Ihm ist das Leben und das Licht. |
Kapitel 2: | Als Sohn Gottes hat Er in der Gegenwart und in der Zukunft das Recht zu richten und den Tempel in der Kraft Seiner Auferstehung zu reinigen. |
Kapitel 3: | Der Herr Jesus ist der Sohn Gottes und die Gabe Gottes für eine sündige Welt. |
Kapitel 4: | Jesus wird hier von einigen als der Christus und als der Heiland der Welt angenommen. |
Kapitel 5: | Es ist Christus, der die Toten auferweckt. |
Kapitel 6: | Christus ist das Brot des Lebens aus dem Himmel. |
Kapitel 7: | Er gibt das lebendige Wasser des Heiligen Geistes. |
Kapitel 8: | Er ist das Licht des Lebens. |
Kapitel 9: | Er ist der Sohn Gottes, der Blinden die Augen öffnet und aus- und einführt. |
Kapitel 10: | Er ist der gute Hirte. |
Kapitel 11: | Er ist die Auferstehung. |
Kapitel 12: | Er ist der König Israels (V. 15) und der Sohn Davids. |
Kapitel 13 - 14: | Er führt uns in die himmlischen Dinge ein. |
Kapitel 15: | Christus ist - anstelle von Israel - der wahre Weinstock. |
Kapitel 16: | Er sendet den Heiligen Geist. |
Kapitel 17: | Er ist unser Fürsprecher. |
Kapitel 18 - 19: | Die Leiden des Sohnes Gottes. |
Kapitel 20: | Er ist der Gegenstand der Anbetung und des Glaubens. |
Kapitel 21: | Er schenkt die Kraft zu wahrem Dienst. |
Ich bin Gott dankbar, daß ich gute Betrachtungen benutzen konnte, die mir halfen, etwas von der wunderbaren Harmonie, Einheit und Inspiration der vier Evangelien zu sehen. Ich habe von Werken geachteter und geliebter Brüder profitiert, wie J.N. Darby, W. Kelly, F. W. Grant, J. G. Bellet und vieler anderer.
Mehr und mehr kam in meinem Herzen das Verlangen auf nach einem Buch, in dem alles, was geschätzte Brüder zu diesem Thema geschrieben haben, zusammengefaßt ist. In unseren gehetzten Tagen haben die meisten Menschen nicht mehr die Zeit, umfangreiche Bücher durchzuarbeiten. Oft werden sie auch durch eine Flut gelehrter Auseinandersetzungen und Argumente verwirrt. Die meisten, die heute ihre Bibel studieren, schätzen eine präzise und klare Auslegung, die übersichtlich angeordnet und leicht zu lesen ist.
Vor einigen Jahren fing ich dann an - zunächst aus rein persönlichem Interesse - kurze Zusammenfassungen und Übersichten zu erstellen von dem, was ich in vielen guten Büchern zu diesem Thema an Hilfreichem fand. Das half mir, die Person unseres Herrn und Heilandes besser kennenzulernen, über Seinen gesegneten Weg und Seine wunderbaren Worte gründlicher nachzusinnen. Ich bat den Herrn, mich durch Seinen Geist bei dieser Art des Bibelstudiums zu leiten, und ich durfte erfahren, daß mein geistliches Leben dadurch bereichert worden ist. Nun sind diese „gesammelten Gedanken“ ein Buch geworden. Viele Freunde haben mich gedrängt, meine Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Ich erhebe nicht den Anspruch, lauter neue Gedanken zu bringen; vielmehr habe ich reichlich von dem getrunken, was andere geschöpft haben. Oft habe ich wörtlich zitiert, was andere geschrieben haben. Eine mehr oder weniger vollständige Liste der Bücher, die mir bei meinen Untersuchungen nützlich waren, füge ich bei.
Der Leser möge bitte verstehen, daß es nicht meine Absicht war, eine „Evangelienharmonie“ (eine chronologische Darstellung des Lebens Jesu aufgrund der vier Evangelien) zu schreiben. Es ging mir mehr darum, die göttliche Absicht in den vier Evangelien zu entdecken. Mein Ziel war, auf deutliche Unterschiede hinzuweisen, die Frage zu stellen, „Weshalb diese Unterschiede?“, und möglichst eine Antwort darauf zu finden. Ich verweise den Leser auf J.N.Darbys Aufsatz „Relative Order of Three Synoptic Gospels“ in Collected Writings, Expository Nr.4, Band 25, Seite 27-36.
Als Grundlage für meine Untersuchungen habe ich das Markusevangelium gewählt, da man allgemein annimmt, daß Markus bei seinem Bericht im großen und ganzen die chronologische Reihenfolge einhält, und habe die anderen synoptischen Evangelien (Mt und Lk) mit Markus verglichen. Ist es nicht höchst erstaunlich und ein zusätzlicher Beweis für die göttliche Inspiration, daß Markus, der kein Augenzeuge war, am klarsten die historische Linie in der Beschreibung des Dienstes unseres Heilandes verfolgt? Wir dürfen überzeugt sein, daß das Nachdenken über die Unterschiede zwischen den einzelnen Evangelien ebenso gesegnet sein kann wie das Nachdenken über die Übereinstimmungen. Natürlich sollten wir nie vergessen, daß wir in jedem Evangelium auch etwas von dem persönlichen Stil und der Eigenart des Schreibers antreffen. Wir betrachten die sogenannten Diskrepanzen nicht als Fehler, sondern wir sehen in ihnen etwas von Gottes Weisheit und Gottes Plan.
In Bezug auf die Reihenfolge, in der wir die Ereignisse angeordnet haben (vgl. das Inhaltsverzeichnis), wollen wir nicht dogmatisch sein; die meisten Ausleger stimmen jedenfalls mit der hier gewählten Aufeinanderfolge überein.
Möge der Geist des Herrn, der dem Schreiber geholfen und ihn reich gesegnet hat, auch alle segnen, die dieses Buch neben ihrer geöffneten Bibel lesen, und sie dahin bringen, daß sie unseren hochgepriesenen Herrn Jesus Christus anschauen und Ihn besser kennenlernen.
Beirut / Libanon 1973
Ipswich / England 1983