Schriften von Samuel Ridout
Vorträge über die Stiftshütte (1-20)
2Mo 30,22-33 - Vorträge über die Stiftshütte - Das Salböl
Myrrhe – tiefe LeidenMyrrhe – tiefe Leiden
Myrrhe ist ein Harz von einem Zwergbaum aus der Familie der Terebinthen, der in Arabien wächst. Dieses Harz kann sowohl spontan als auch infolge absichtlicher Einschnitte aus dem Stamm hervorquellen. Für das Salböl musste es die beste, nämlich „von selbst ausgeflossene“ Myrrhe sein. Manche denken, dass hier einfach nur „flüssige“ Myrrhe gemeint ist. Wie dem auch sei: Der Gedanke ist offenbar, dass die Qualität hervorragend sein musste. Myrrhe hat einen lieblichen Geruch, ist aber von bitterem Geschmack. Das Wort Myrrhe ist tatsächlich dasselbe wie das für „Bitterkeit“, das wir vom Ortsnamen Mara kennen (2Mo 15,23). Myrrhe wurde als Duftstoff verwendet, aber auch als schmerzlindernde Medizin (Mk 15,23) sowie zur Behandlung von Ausscheidungen und als Beigabe zu anderen Medikamenten.
Wir haben schon auf die Wortbedeutung angespielt. Der Hauptwortstamm bedeutet „fließen“. Das entspricht der Vorstellung eines aus dem Baum hervorquellenden Harzes. Aber weil Myrrhe so extrem bitter ist, wurden auch Galle und andere bittere Dinge mit demselben Namen belegt – etwa das Wasser der „Bitterkeit“, das „Wasser der Eifersucht“ (4Mo 5,18). Noomi nannte sich Mara, „denn der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht“ (Rt 1,20). Die Männer, die bei David in der Höhle Adullam Zuflucht suchten, waren „erbitterten Gemüts“ (1Sam 22,2), und Jeremia sagt, dass es „schlimm und bitter“ ist, den HERRN zu verlassen (Jer 2,19).
Die Bezeichnung „von selbst ausgeflossen“ heißt wörtlich einfach „frei“. Davon leitet sich das Wort für die Schwalbe ab, die nach Belieben ihre Kreise zieht (Ps 84,4). Im Jubeljahr wurde „Freiheit“ ausgerufen (3Mo 25,10). Jesaja spielt darauf an als einen Gegenstand der Verkündigung des Herrn (Jes 61,1).
Zur Myrrhe selbst finden wir deutliche Hinweise in der Schrift: „Myrrhe und Aloe, Kassia sind alle deine Kleider“ (Ps 45,9). Im Hohelied wird der Herr als von der Wüste heraufkommend beschrieben,58„wie Rauchsäulen, durchduftet von Myrrhe und Weihrauch“ (Hld 3,6). Dasselbe duftende Gewürz erwähnt Salomo auch in Verbindung mit der Braut (Hld 4,6.14). Der Geliebte hinterließ es am Griff des Riegels, als er sich von der Tür zurückzog (Hld 5,5). Die Braut beschreibt seine Lippen als „träufelnd von fließender Myrrhe“ (Hld 5,13). Im Neuen Testament zählte Myrrhe zu den Geschenken, mit denen die Weisen kamen (Mt 2,11). Nikodemus brachte es mit Aloe vermischt, um den Leib des Herrn einzubalsamieren, als Er in das Grab gelegt wurde (Joh 19,39).
Wenn wir diese Gedanken zusammenfassen, erkennen wir, wie sie auf unseren Herrn zutreffen. Einerseits deutet der spontane Ausfluss des Baumes darauf hin, wie willig Er sein ganzes Leben bis zum Tod Gott hingab. Andererseits deuten die gezielten Einschnitte auf das „Durchstechen“ hin, das Ihm die Menschen zufügten, das aber bloß denselben Wohlgeruch hervorbrachte. Die Bitterkeit der Myrrhe weist auf die Wirklichkeit der Leiden hin, durch die Er ging. Was seinen Leiden solche Intensität gab, war nicht das leibliche Ungemach und sein körperlicher Schmerz, nicht einmal der Tod, sondern der „Widerspruch von den Sündern“ gegen Ihn (Heb 12,3). Seine bloße Anwesenheit in einer Welt, in der alles gegen Gott war, musste schon bitter für Ihn sein. Wie empfand seine vollkommene Seele, da Er stets in völliger Gemeinschaft mit seinem Vater war, welch eine böse und bittere Sache es für den Menschen war, sich von Gott abzuwenden! Wer konnte die Sünde so ermessen wie dieser eine Sündlose? Und Er war es, der den bitteren Kelch des Zornes Gottes über die Sünde schmeckte und bis zur Neige leerte.
Aber all diese bittere Erfahrung bot allein die Gelegenheit zur Offenbarung einer Ergebenheit für Gott, die diesem ein vollkommener Wohlgeruch war, aber auch einer Liebe zu den Seinen, die stark wie der Tod war. Die am Riegel der Tür hinterlassene Myrrhe, wohinter diejenige sich aufhielt, die Ihm so wert war, rief ihr und ruft auch uns die unveränderliche Liebe ins Gedächtnis, die auf das verschlossene Herz einwirkt und um Einlass zu völliger Gemeinschaft bittet.
Und woran hat sich diese Liebe bemessen? Insofern die Myrrhe mit dem Tod in Verbindung steht, gibt sie uns wohl auch zu verstehen, dass es eine Liebe ist, die „die Erkenntnis übersteigt“ (Eph 3,19). „Der Sohn Gottes hat mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben“ (Gal 2,20) – das ist ein Maß, das nicht bemessen werden kann. Die Liebe fließt frei aus Ihm hervor, dessen Herz durch unsere Sünden und für diese Sünden durchstochen wurde. Unsere Wertschätzung dieser Liebe ist auch im besten Fall noch schwach. Aber es gibt einen, der sie in ihrem vollen Wert ermisst.
Auch ist diese Liebe nicht beengt, außer durch den Unglauben des Menschen. Denn ihre „Fülle“ spricht zu uns nicht nur von dem freiwilligen Charakter seiner völligen Hingabe bis zum Tod, sondern auch davon, dass sie dem, der will, ohne Geld oder Kaufpreis zukommt. Sie bringt für alle Glaubenden „Freiheit … den Gefangenen“, das wahrhaftige Jubeljahr (Jes 61,1). „Wenn nun der Sohn euch frei macht, werdet ihr wirklich frei sein“ (Joh 8,36). Wir haben das gesegnete Unterpfand der kommenden „Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“, schon während wir die Sohnschaft erwarten, die Erlösung des Leibes (Röm 8,21.23). Dann wird wirklich der Wohlgeruch der Myrrhe die weite Schöpfung durchziehen und der Duft seines Salböls sich einem anbetenden Universum auftun. Bis dahin ist die Myrrhe ein lieblicher Duft für Gott und die Glaubenden und ein wirksames Heilmittel für die sündenkranke Seele.
Unser gelobter Herr weigerte sich, von den Menschen Wein und Myrrhe anzunehmen. Er war bereit, den bitteren Kelch ihrer Sünden bis zur Neige zu leeren, und suchte nicht, ihn zu mildern oder abzuschwächen. Die bitteren Wasser Maras wurden süß, als das Holz hineingeworfen wurde.
Und wir finden, wie Er diesen Kelch des Trostes seinen Heiligen darreicht, die leiden müssen, durch Feuer der Versuchung gehen und selbst dem Tod ins Auge blicken. „Sei getreu bis zum Tod, und ich werde dir die Krone des Lebens geben“ – so lautet die Verheißung, die treffenderweise an Smyrna geht, was eigentlich „Myrrhe“ bedeutet (Off 2,8-11).
In ernstem Kontrast zu diesem Reichtum der Liebe und Gnade steht die Lästerung der ehebrecherischen Frau, die sich dieser wohlriechenden Düfte bemächtigt und sie als Lockmittel für die Gottlosen verwendet (Spr 7,17). Umso erschreckender, dass wir in ihr diejenige erblicken, die – so könnten wir sagen – in Smyrna in Gestalt der „Juden“ auftritt (dem Bekenntnis nach Gottes Volk zugehörig, aber ohne Eingeständnis des eigenen verlorenen Zustandes), in Pergamus fortfährt, die Heiligen ins Wanken zu bringen, und sie in Thyatira lehrt, Hurerei mit der Welt zu treiben, wobei sie als „die Frau Jesabel“ vorgestellt wird, die als die Weltkirche schlussendlich als „Babylon, die große“ in all ihrer Schändlichkeit gesehen wird und ihr gerechtes Schicksal erfährt (Off 2,12-29; 17; 18). Auch dort sieht man sie im Handel mit gestohlenen Gewürzen (denn sie hat kein Herz für Christus) – „Zimt und Amom und Räucherwerk“ (Off 18,13). Wo immer sie zu erkennen ist, müssen die Heiligen Gottes den Ruf beachten: „Geht aus ihr hinaus, mein Volk, damit ihr nicht ihrer Sünden teilhaftig werdet und damit ihr nicht empfangt von ihren Plagen“ (Off 18,4).
58Anm. d. Übers.: In der Elberfelder Übersetzung, Edition CSV, wird dies auf die Frau bezogen: „Wer ist sie, die da heraufkommt …“