Schriften von Samuel Ridout
Vorträge über die Stiftshütte (1-20)
Der Vorhang als Trennwand – sein vollkommenes Leben zeigte die Entfernung des Menschen von GottDer Vorhang als Trennwand – sein vollkommenes Leben zeigte die Entfernung des Menschen von Gott
Wir haben also bereits zum Teil gesehen, was durch die Säulen angedeutet wird, die den Vorhang halten. Nun wollen wir einen anderen Aspekt der Wahrheit über den Scheidevorhang betrachten. Wie schon gesagt wurde, diente er dazu, das Heiligtum vom Allerheiligsten zu trennen, in dem sich die Gegenwart Gottes offenbarte. Durch den Vorhang konnte niemand hindurchgehen außer der Hohepriester einmal jährlich, und auch das „nicht ohne Blut …, wodurch der Heilige Geist dieses anzeigt, dass der Weg zum Heiligtum noch nicht offenbart ist“ (Heb 9,7.8). Der Scheidevorhang spricht also davon, dass der Zugang zu Gott versperrt ist. Das wird nicht nur dadurch deutlich, dass der Vorhang dort als Trennung hing, sondern auch durch die Cherubim, die auf ihn gestickt waren.
Als Gott Adam und Eva wegen ihrer Sünde aus dem Garten Eden hinausschickte, „ließ er östlich vom Garten Eden die Cherubim lagern und die Flamme des kreisenden Schwertes, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewahren“ (1Mo 3,24). Darin lag sowohl Barmherzigkeit als auch Gericht. Es war Barmherzigkeit, dass der Mensch dadurch seine Schwachheit und Gebrechlichkeit erkannte und lernen konnte, seine Tage zu zählen, so dass er ein weises Herz erlange (Ps 90,12). Das ist die Last, die im „Psalm des Lebens“ zum Ausdruck kommt: Seine Tage sind wie ein Schatten (vgl. Ps 144,4), und „wir bringen unsere Jahre zu wie einen Gedanken“ (Ps 90,9). Wie kann ein so schwaches Geschöpf es versäumen, sich mit echter Reue an den Einzigen zu wenden, bei dem es Hilfe und Barmherzigkeit finden kann? Das war zumindest die offensichtliche Absicht Gottes, und das ist die Wirkung auf all diejenigen, die sich dem Urteil der Nichtigkeit über den in Sünde gefallenen Menschen beugen: „Sättige uns früh mit deiner Güte, so werden wir jubeln und uns freuen in allen unseren Tagen“ (Ps 90,14).
Aber die Barmherzigkeit gegenüber dem in Sünde gefallenen Menschen verdeckt nicht die Tatsache, dass es auch ein Gericht gibt. „Gerechtigkeit und Gericht“ sind die Grundfesten von Gottes Thron (Ps 89,15). Dies wird durch die Cherubim angedeutet, die Vollstrecker des göttlichen Gerichts, die auf dem Scheidevorhang den Weg zur Gegenwart Gottes zu versperren scheinen, wie es auch die Cherubim am Eingang des Garten Eden taten. Der gefallene, sündige Mensch hat jedes Recht auf diese heilige Gegenwart verwirkt. Die Cherubim in Hesekiel scheinen von dieser gerichtlichen Distanz Gottes zu sprechen. Sie wird dort nochmal besonders betont, steht Er doch im Begriff, den Tempel und das Volk Israel zu verlassen. In Verbindung mit dem Thron Gottes sprechen die Cherubim vom Gericht, das den Weg in seine Gegenwart versperrt.
Aber damit niemand meint, wir würden hier widersprüchliche Gedanken äußern, wollen wir einen Moment innehalten, um diesen Gedanken bezüglich des Vorhangs mit dem zu verbinden, was wir zuvor darüber gelernt haben. Der Scheidevorhang ist der menschgewordene Christus, von dem wir mit Recht singen:
Zu Dir kamen die Elenden und Kranken, freudig hast Du die Verlorenen gesucht.38
Wie kann also dieser Scheidevorhang die Barriere zur Gegenwart Gottes sein, wenn er doch von dem Herrn Jesus spricht, der niemals eine bedürftige Seele abgewiesen hat? Zweifellos haben wir es hier mit zwei Aspekten des Vorhangs zu tun, die jedoch nicht so weit voneinander entfernt sind, wie man vielleicht denken mag. Gott ist unendlich barmherzig und mitfühlend, jenseits unseres Verständnisses. Doch in seine heilige, verzehrende Gegenwart wagt niemand einzutreten, es sei denn als von Gott dazu berechtigt. In gewissem Sinn haben wir es hier mit einem Paradoxon zu tun, das in der Person unseres Herrn veranschaulicht wird, aber eine höchst segensvolle Erklärung zulässt.
Wie weit der Mensch von Gott entfernt war, wurde am offensichtlichsten, als Gott in der Person seines geliebten Sohnes hier auf der Erde war. Nur im Hinblick auf sein Werk der Erlösung wurde dies noch deutlicher. In dem Herrn Jesus offenbarte sich die ganze Heiligkeit, Wahrheit und Liebe – um Ihn herum war jedoch genau das Gegenteil: eine Welt voller falscher, selbstsüchtiger Menschen. Die Gegenwart des Herrn ließ den Menschen zwangsläufig empfinden, wie weit er von Gott entfernt war. Als der Herr den großen Fischfang bewirkte, war der erste und völlig gerechtfertigte Impuls von Petrus, zu sagen: „Geh von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr“ (Lk 5,8). Es stimmt, unser Herr beruhigte ihn und zog ihn zu sich, aber das war reine Gnade, die in Liebe handelte. Wir könnten sagen, dass dies eine Vorschattung vom Zerreißen des Vorhangs für unsere Sünden war, so dass der Sünder nahen kann.
In dem Gespräch mit Nikodemus zeigt unser Herr, dass zwei Dinge, die niemals getrennt werden können, notwendig sind, bevor ein Mensch Gott nahen kann: Das eine ist das Werk in ihm und das andere geschieht für ihn. Das Werk in ihm ist die neue Geburt. Bevor ein Mensch das Reich Gottes sehen, geschweige denn betreten kann, muss er wiedergeboren werden (Joh 3,3.5). Da stand der Herr in ungetrübter Gemeinschaft mit seinem Vater, bezeugt durch jede seiner Taten und Worte, aber Nikodemus hatte nie den Vorhang zwischen sich und dem heiligen Gott gelüftet. Doch unser Herr bleibt hierbei nicht stehen. Er gibt immer die volle Offenbarung der Herrlichkeit und Liebe Gottes: „Der Sohn des Menschen muss erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe“ (Joh 3,14.15). So wird der Scheidevorhang zerrissen und der Weg in die Gegenwart Gottes frei.
Würden wir den Gedanken der Erlösung durch den Herrn Jesus Christus außer Acht lassen und die vier Evangelien nur als Vorstellung dessen verstehen, was von uns verlangt wird, würden wir die Lehren des Herrn Jesus und sein Vorbild nur als eine hoffnungslose Barriere zwischen unseren Seelen und Gott empfinden. Denn all das würde nur zeigen, dass wir genau gegensätzlich leben und für die Gegenwart Gottes untauglich sind. Aber durch Jesus Christus ist nicht nur Wahrheit, sondern auch Gnade geworden (Joh 1,17), ja in einer solchen göttlichen Weise beides zugleich, dass jede bedürftige Seele erkennen konnte, dass Er ein Freund und Retter der Sünder war. Wenn daher die heilige Lehre der Bergpredigt unsere Sünde zeigt, so zeigt die Reinigung des Aussätzigen am Fuß des Berges die Gnade, die dem Sünder begegnet (Mt 8,1-3). Und auf die Herrlichkeiten, die auf dem Berg der Verklärung offenbar werden, folgt die Barmherzigkeit gegenüber dem Knaben, der von einem Dämon besessen war, als unser Herr wieder von dem Berg herunterkam (Mt 17,14-18).
Wenn wir in den blauen Himmel über uns blicken, mag mancher von uns vielleicht unwillkürlich seufzen. Er scheint so weit über uns zu sein, völlig außerhalb unserer Reichweite. In derselben Weise empfinden wir, wenn wir den himmlischen Charakter des Herrn Jesus – das Blau des Vorhangs – betrachten. Wir fühlen unsere Entfernung zu Ihm. Unser weißestes Leinen wirkt neben frischgefallenem Schnee schmutzig. Wenn wir also das Beste unter den Menschen neben die vollkommene Reinheit unseres Herrn stellen, erkennen wir in der Tat, dass „alle unsere Gerechtigkeiten wie ein unflätiges Kleid“ sind (Jes 64,5).
Wen sollen wir mit Ihm vergleichen? Wähle die Besten von denen, die das Purpur getragen haben: einen David, einen Salomo, einen Hiskia oder einen Josia. Wie mickrig und unköniglich sind sie doch neben dem König, der auf der Erde nie eine Krone trug, die Dornenkrone ausgenommen. Der, dessen Palast der Ölberg oder ein einsamer Ort war, der keinen Platz hatte, „wo er das Haupt hinlege“ (Lk 9,58), dessen Reichtum in dem geringen Dienst einiger ergebener Frauen bestand (Lk 8,3), dessen Gefolge eine kleine Schar von Galiläern war. Er war arm! Aber alles um unsertwillen!
Und was das Karmesin anbelangt: Obwohl es für Ihn damals sicherlich nicht die Herrlichkeit der Welt war, so gebührte sie Ihm doch von Rechts wegen und eines Tages wird sie Ihm wirklich zuteilwerden. Aber damals sprach das Karmesin eher von seinem Tod, von seinem Weg an das Kreuz. So erklärt der Vorhang, der unseren Herrn darstellt, in jeder seiner Farben, dass Er von allen Menschen der einzige war, der in der Lage war, Gott nahen zu können.
Aber was es für Ihn bedeutete, Menschen zu Gott zu bringen, wird eindrucksvoll in der Antwort unseres Herrn auf die Bitte der Griechen „Wir möchten Jesus sehen“ (Joh 12,21) veranschaulicht. Das Alte Testament hatte vorausgesagt, dass auch die Heiden kommen und sich vor Ihm niederwerfen würden. Hier war eine Gelegenheit, das Karmesin, seine Herrlichkeit, zu zeigen. Stattdessen zeigt unser Herr, dass diese Herrlichkeit durch das Kreuz kommen muss: „Die Stunde ist gekommen, dass der Sohn des Menschen verherrlicht werde.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht“ (Joh 12,23.24). In unvergleichlicher Vollkommenheit blieb der Herr Jesus in seinem Leben einsam und allein. Wenn Er Sünder zu Gott bringen wollte, musste es durch seinen Tod geschehen, indem Er die Strafe für die Sünde trug. Deshalb sagt Er weiter: „Und ich, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen“ (Joh 12,32). Der Vorhang musste zerrissen werden – Er musste sein Leben in den Tod geben –, damit der Weg in die Gegenwart Gottes freigemacht würde und der reuige Sünder hinzunahen könnte. Ohne das Kreuz hätte die Vollkommenheit des Herrn Jesus den Menschen von Gott ferngehalten. So lesen wir, als Er seinen Geist aufgab: „Der Vorhang des Tempels zerriss von oben bis unten“ (Mt 27,51). Jetzt fließt die ganze Liebe Gottes frei und in reichlicher Gnade zu den Menschen.
38 Anm. d. Red.: Vgl. Lied 212 „Called from above, and heavenly men by birth“ von James George Deck (1802–1884)“ in Spiritual Songs: Thou didst attract the wretched and the weak, | Thy joy the wanderers and the lost to seek.↩︎