Schriften von Samuel Ridout
Vorträge über die Stiftshütte (1-20)
Die Maße – der Herr als MenschDie Maße – der Herr als Mensch
Kehren wir nun zu den Maßen der innersten Decke zurück, um ihre Bedeutung zu erfassen. Wenn es in Bauwerken eine Symmetrie geben soll, ist es unerlässlich, präzise Messungen vorzunehmen, und dazu bedarf es einer Maßeinheit. In der Heiligen Schrift ist dieser Maßstab die Elle, Hebräisch ammah, das von einem Wort abstammt, das „Mutter“ bedeutet. Es war die Länge des „Mutterarms“, das heißt des Unterarms, dem vordersten und markantesten Teil des Arms. Er reicht vom Ellbogen bis zur Fingerspitze und wird bei allen Arbeiten eingesetzt. Es war also ein Maß, das vom Menschen und nicht von höherer Stelle stammte. Die Anforderungen Gottes sind völlig nachvollziehbar und gerecht und gehen nicht über das menschliche Fassungsvermögen hinaus. Trotzdem ist es so, dass nicht einer der gefallenen Söhne Adams diesem vollkommenen menschlichen Maßstab gerecht geworden ist: „Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3,23). Und doch ist die Wonne Gottes bei den Menschenkindern (Spr 8,31) und die himmlische Stadt wird mit dem Maß eines Menschen vermessen (Off 21,17). Wenn Gott in irgendeinem Maß von seinen Geschöpfen erfasst werden soll, dann nicht in jener unaussprechlichen Herrlichkeit und Unendlichkeit, die keiner kennt außer dem Sohn, sondern in dem, der sich selbst erniedrigt hat und in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden wurde (Phil 2,7). Wie wunderbar! Gott offenbart sich im Fleisch, und wir sind dazu eingeladen, den Maßstab (der in unseren Händen liegt und der uns insofern verurteilt hat, als dass wir die Herrlichkeit Gottes nicht erreichen) auf Ihn anzuwenden, um zu sehen, wie vollkommen Er den Anforderungen Gottes entsprochen hat.
So werden wir bei der Maßeinheit der Teppiche an die Menschwerdung unseres Herrn erinnert. Er war und ist Gott, aber Er ist jenes ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde, so dass Johannes sagen konnte: „Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir angeschaut und unsere Hände betastet haben“ (1Joh 1,1).
Wird etwas gründlich vermessen, umfasst es jede Richtung und so sehen wir, dass die Teppiche sowohl der Länge als auch der Breite nach vermessen wurden.
Die „Länge“ steht für die Ausdehnung und wir können sie gut mit dem gesamten Lebenslauf verbinden. Tatsächlich wird das Wort in diesem Sinn in der Schrift verwendet, denn die Wendung „Länge der Tage“ (vgl. z.B. Ps 21,5) ist ein bekannter Ausdruck.
Das Wort für „Breite“ geht seiner Wurzel nach auf die Bedeutung „geräumig“ oder „weitläufig“ zurück. Es wird durchweg dann verwendet, wenn von den Maßen der Stiftshütte und des Tempels gesprochen wird. Was den Tempel betrifft, gilt das sowohl für den zur Zeit Salomos als auch für den zukünftigen Bau, den Hesekiel beschreibt. Wir sind aber auch mit der sinnbildlichen Verwendung dieses Wortes vertraut. So hatte Salomo eine große Weite (wörtlich „Breite“) des Herzens (1Kön 5,9): „Ich werde wandeln in weitem Raum; denn nach deinen Vorschriften habe ich getrachtet“ (Ps 119,45; vgl. auch Ps 119,32; 81,11; Jes 60,5). Im negativen Sinne wird das Wort für Stolz verwendet: „Wer stolzer Augen und hochmütigen (,breiten‘) Herzens ist“ (Ps 101,5; Spr 21,4; 28,25). Die „Breite“ deutet also auf den Charakter des Lebens und die damit verbundenen Umstände hin. Angewendet auf den Herrn, würde die „Länge“ den vollständigen Lebenslauf und die „Breite“ den Charakter und die Lebensumstände andeuten, in denen es sich entfaltete.
4 Ellen breit
Was waren nun die Maße dieser Teppiche? Sie waren 4 Ellen breit und 28 Ellen lang. Vier ist die Zahl der Erde. Die Schrift spricht von den „vier Enden der Erde“ (Jes 11,12). Das vierte Buch der Bibel, 4. Mose, spricht von der Wüstenreise und der Erprobung des Volkes Gottes. Wir haben gesehen, wie die vier Evangelien unseren Herrn als den vollkommenen Menschen darstellen, wie Er in jeder Hinsicht erprobt wurde. Darauf ist an anderer Stelle ausführlich eingegangen worden4 und deshalb genügt es an dieser Stelle, zu sagen, dass Vier die Zahl ist, die von der Erde, der Schöpfung, der Erprobung und von Schwachheit spricht. Wenn das Geschöpf geprüft wird, offenbart es Schwäche und allzu oft Versagen. Wenden wir nun die Bedeutung dieser Zahl auf unseren Herrn an, um zu sehen, inwiefern sie zu seinem Leben passt und worin nicht.
Zunächst einmal ist die Vier die Zahl der Erde, der Schöpfung. Wie wir bereits gesehen haben, weist sie auf die menschliche Natur unseres Herrn hin und nicht auf seine Gottheit. Sie spricht von Ihm, wie Er auf der Erde wandelte – was wir mit der Breite des Teppichs verbinden dürfen.
Die Zahl Vier spricht jedoch auch von Schwachheit – und wie deutlich sehen wir sie bei unserem Herrn! Wer hätte gedacht, dass der Sohn Gottes in der Weise als Mensch auf die Erde kommen würde, wie Er es getan hat? Was finden wir auf der Suche nach dem „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32), den die Engel loben? Das schwächste aller Wesen: „ein Kind …, in Windeln gewickelt“ (Lk 2,12) – was für ein Zeichen der Hilflosigkeit ist es für den, der sich in Licht hüllt wie in ein Gewand (Ps 104,2). Nun liegt Er in Gesellschaft von Tieren „in einer Krippe“! O Herr der Herrlichkeit, lass das ganze Universum in Anbetung vor Dir niederfallen, der Du Dich so erniedrigt hast!
Wenn wir den Herrn durch sein ganzes Leben begleiten, finden wir die Kennzeichen dieser Schwachheit (diese Zahl der Erde) immer wieder. „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege“ (Mt 8,20). Wir lesen nie, dass Er ein Wunder tat, um sich selbst zu helfen – Er, der vollkommen Abhängige, verwandte sich und seine Macht freiwillig und überreich für andere. Er sättigt fünftausend Männer mit ein paar Broten, verwandelt jedoch nicht einen einzigen Stein für sich selbst in Brot.
Darüber hinaus redet die Zahl Vier auch von Versuchung, Erprobung und Prüfung. Die Erde ist der Ort, an dem der Mensch erprobt wird, und welch eine Schwachheit, welch ein Versagen kommt zum Vorschein. Niemand ist je so vollständig geprüft worden wie unser geliebter Herr. Das gilt nicht nur für die vierzig Tage und die besonderen Versuchungen Satans, die diese Zeit abschlossen. Er ertrug sein ganzes Leben lang den „Widerspruch von den Sündern gegen sich“ (Heb 12,3). So spricht dieses Maß von 4 Ellen Breite vom Menschen, der schwach ist, versucht und geprüft wird – ja, es spricht von Ihm, der „Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten“ und „der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde“ (Heb 4,15).
28 Ellen lang
Die Länge dieser Teppiche betrug 28 Ellen. Teilen wir diese Zahl in zwei Faktoren auf, erhalten wir 4 ∙ 7. Wie wir gerade gesehen haben, ist die Vier die Zahl der Erde und Schwachheit. Sieben ist die vielleicht bekannteste Zahl überhaupt. Sie spricht von Vollständigkeit und Vollkommenheit. So besteht beispielsweise eine vollständige Woche aus sieben Tagen. Weitere Bespiele dafür sind die sieben fetten und mageren Kühe aus dem Traum des Pharaos (1Mo 41,1-7) und die verschiedenen Siebenerreihen im Buch der Offenbarung. Sieben mal vier legt den Gedanken nahe, dass Prüfung, Erprobung und Schwachheit in unserem Herrn nur der Anlass für die Offenbarung seiner Vollkommenheit waren.
Beachten wir, dass die Sieben nicht zu der Vier addiert wird, als sei sie etwas davon Getrenntes, Eigenständiges. Nein, sie wurde mit der Zahl Vier multipliziert. Schwachheit und Abhängigkeit stellten vollkommen dar, was Er war. Er war nicht nur trotz der Versuchung vollkommen, sondern vollkommen in der Versuchung. Sieh, wie Satan versuchte, Ihn von dem Platz der Abhängigkeit wegzubewegen, indem er Ihn drängte, aus Steinen Brot zu machen. In solchen Umständen ein Wunder zu vollbringen, hätte bedeuten können, die Sieben zu der Vier zu addieren. Dadurch wäre jedenfalls seine Macht zum Ausdruck gekommen. Stattdessen sehen wir Vollkommenheit in Schwachheit und Abhängigkeit. Er hätte ebenso seine übernatürliche Kraft zeigen können, indem Er sich von der Spitze des Tempels gestürzt hätte, doch zeigte sich die Vollkommenheit des Gehorsams darin, dass Er es ablehnte, den Herrn, seinen Gott, zu versuchen. Als Er sich weigerte, sich vor Satan zu beugen, der Ihm doch alle Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit angeboten hatte, könnten wir erwarten, dass Er diesen Feind Gottes und des Menschen dazu zwang, Ihn als Schöpfer und Herrn anzuerkennen, denn das war Er. Stattdessen sehen wir, wie sich die Vollkommenheit weiter in Niedrigkeit äußert, denn Er wird selbst anbeten und darin die Huldigung der ganzen Schöpfung anführen: „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen“ (Mt 4,10).
Wo immer wir unseren Herrn in seinem Leben auf der Erde auch betrachten, begegnen wir diesem Kennzeichen. Ermüdet von der Reise setzt Er sich an der Quelle Sichars nieder und bittet die Frau, die dorthin gekommen war, um zu schöpfen, um etwas zu trinken (Joh 4). Hier haben wir die Zahl Vier – Schwachheit und Abhängigkeit. In dem herzerforschenden Gespräch zeigt Er ihr jedoch all ihre Sünden und stellt sich selbst als der Christus vor. Wir sehen die Sieben (d.h. Vollkommenheit) in Verbindung mit dem niedrigen Platz, den Er eingenommen hatte. Es ist auffallend, wie unser Herr durch das gesamte Johannesevangelium hindurch auf seine Unterwerfung unter den Vater Nachdruck legt, in dem Evangelium, das uns wie kein anderes seine Vollkommenheit vorstellt.
Ein anderes Mal sehen wir Ihn im hinteren Teil des Schiffes schlafen, während die Jünger über den See fahren (Mt 8,24-26). Als Er von seinen geängstigten Jüngern geweckt wird, steht Er jedoch auf, nimmt ihre Ängste und bringt den Sturm zum Schweigen – um ihretwillen, denn Er selbst konnte in der Fürsorge seines Vaters ruhen und schlafen, während der Sturm tobte. In den Evangelien wird Er durchweg so gesehen: abhängig, gehorsam, versucht – doch in allem vollkommen.
Die beständige Abhängigkeit im Gebet veranschaulicht dieselbe Tatsache. Was könnte schöner sein, als zu sehen, wie unser Herr in jeder Lebenslage sein Herz dem Vater ausschüttet? Sein ringender Kampf in Gethsemane (und wenn wir darüber etwas sagen, möchten wir es vorsichtig tun) zeigt eine Vollkommenheit, die vollkommen menschlich ist, die aber niemand sonst je besessen hat. In 2. Korinther 13,4 heißt es, dass Er „in Schwachheit gekreuzigt“ wurde – welche Vollkommenheit sehen wir so in jedem Teil dieses furchtbaren Leidens! In der Tat ist der Teppich 28 Ellen lang: Die ganze „Länge“ seines Lebens offenbarte absolute Vollkommenheit in völliger Abhängigkeit.
4 Vgl. die Einführung zu Band 1 derNumerical Bible („The Pentateuch“) sowie das Buch The Numerical Structure of Scripture von F.W. Grant für eine umfassende Behandlung dieses wichtigen Themas. Anmerkung des Übersetzers: Im Deutschen ist dazu das Heft Die symbolische Bedeutung der Zahlen vom gleichen Autor erschienen (beim Ernst Paulus-Verlag erhältlich).↩︎