Schriften von Samuel Ridout
Vorträge über die Stiftshütte (1-20)
Zusammenfügung der beiden Teppichfelder – die beiden Verantwortlichkeiten gehören zusammenZusammenfügung der beiden Teppichfelder – die beiden Verantwortlichkeiten gehören zusammen
Das führt uns schließlich dazu, die Art und Weise zu betrachten, in der diese beiden Teppichfelder miteinander verbunden wurden. Das Wort für „Zusammenfügung“ ist aufschlussreich. Es stammt von derselben Wurzel wie „Hebron“, was Freundschaft oder auch Gemeinschaft bedeutet. Auch das weist uns auf die völlige Einheit des Wesens unseres Herrn hin. Das Verlangen des Psalmisten: „Einige mein Herz zur Furcht deines Namens“ (Ps 86,11), fand in Ihm vollkommene Verwirklichung. Wie wir bereits gesehen haben, ist das Wort für „Teppiche“ eng mit dem Wort „fürchten“ verbunden, so dass wir hier diese Einigkeit in der Furcht Gottes sehen, wie sie unser Herr vorgelebt hat.
Es ist auch erwähnenswert, dass die Teppiche an ihren Seiten und nicht an den Enden zusammengefügt wurden. So waren sie parallel zueinander und dehnten sich in die Breite aus. Bezogen auf den Herrn zeigt dies, dass es keine aufeinanderfolgenden zeitlichen Abschnitte gab, in denen sein Leben in neue oder bisher unbekannte Anforderungen des Willens Gottes eintrat. Der Weg öffnete sich vor Ihm, Er machte neue Erfahrungen in dieser Welt der Wüste, doch fand sich bei Ihm stets die volle Verantwortung vollkommener Liebe Gott und den Menschen gegenüber vom Anfang bis zum Ende. Vielleicht können wir es so sagen: Sein ganzes Leben hindurch wandelte Er in Übereinstimmung mit allen zehn Geboten.
Die Schrift schweigt in Bezug auf die Frage, wie die einzelnen Teppiche miteinander verbunden wurden. Möglicherweise wurden sie zusammengenäht, aber es wird uns nicht mitgeteilt. Worauf jedoch unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird, ist die Art und Weise, wie die beiden Teppichfelder miteinander verbunden wurden. Zweifellos wird die darin unterstrichene Belehrung bereits zu einem guten Teil in dem enthalten sein, was wir in den übrigen Stücken vor uns hatten.
Liegt nicht ein Grund für diese Anordnung darin, dass der Mensch so leicht zwischen seiner Verantwortung Gott und den Menschen gegenüber trennt? Wir sehen das in allen natürlichen Religionen. Gott ist aus dem Bereich des täglichen Lebens ausgeschlossen. Die Pflichten gegenüber dem Nächsten, die Verantwortung in Haus und Geschäft sind Dinge, um die wir uns selbst kümmern müssen. Weder der Wille noch die Hilfe Gottes werden hier miteinbezogen, einmal abgesehen von Ansprüchen allgemeiner Art wie Ehrlichkeit, Moral und Selbstlosigkeit.
Die Antwort des Herrn gegenüber dem Gesetzgelehrten (Lk 10,25-37) legt diesen Gedanken im Herzen des Menschen offen. Zu Recht hatte der Gesetzgelehrte geantwortet, dass das Gesetz vollkommene Liebe zu Gott und zu dem Nächsten fordert. Wie schade, dass er trotz dieser Erkenntnis noch immer dachte, das ewige Leben durch das ererben zu können, was er noch nie getan hatte und auch nie tun könnte, denn durch Gesetz kommt zwar Erkenntnis der Sünde (vgl. Röm 3,20), nicht aber die Kraft, es zu halten. Anstatt seine Sünde einzuräumen und sich selbst auf die Gnade Gottes zu werfen, heißt es: „Da er aber sich selbst rechtfertigen wollte, sprach er zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?“ Merkst du, wie er jede Bezugnahme auf Gott und damit die erste Gesetzestafel übergeht? Gott ist so weit weg, unsichtbar und unbekannt, kann es da nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass er Ihn liebt und Ihm dient? Wenn er seine Nächsten jetzt noch auf ein paar sympathische Freunde beschränkte, gegenüber denen er seine mitmenschlichen Pflichten erfüllte, durfte er dann nicht die berechtigte Hoffnung haben, sich das ewige Leben zu verdienen? Nach Ansicht des Gesetzgelehrten gab es also offensichtlich kaum eine Verbindung zwischen den beiden Teppichfeldern.
Im Allgemeinen ist diese Haltung unter den Menschen nur zu verbreitet. Wenn ein Mensch seine Mitmenschen liebt, dann liebt er auch Gott. Das wird als das wahre Evangelium angesehen und diese „goldene Regel“ wird bereitwillig als eine Regel akzeptiert, die man umsetzen kann – so wird Gott seines Anspruchs auf seine Geschöpfe beraubt. Stattdessen heißt es in der Schrift: „Dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe“ (1Joh 4,21). Das kehrt das Denken des Menschen ins Gegenteil und gibt Gott seinen rechtmäßigen Platz der Oberhoheit und Herrschaft bzw. erkennt an, dass Ihm dieser Platz zukommt.
Bei unserem Herrn gab es im Gegensatz dazu eine derartige Trennung der Verantwortlichkeiten nicht. Ebenso wenig verlor Er auch nur für einen Moment aus dem Auge, dass Er vom Himmel herabgekommen war, nicht um seinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der Ihn gesandt hatte (vgl. Joh 6,38). Wir werden dies an der Art und Weise sehen, wie die beiden Teppichfelder miteinander verbunden wurden.
Blaue Schleifen
Looloth (Schleifen) leitet sich dem Wortstamm nach von „rollen“ ab. Über die Funktion und den Sinn dieser Schleifen müssen wir nicht lange nachdenken. Möglicherweise deutet das Wort auf die runde Form einer Öse hin, in die der Haken gehängt wurde, ohne dabei in den Stoff der Teppiche selbst einzudringen. Letztere blieben unversehrt, und jeder einzelne Teppich war vollkommen. Die „Schleife“, die zusätzlich an ihnen befestigt war, bildete eine Ergänzung in dem Sinne, dass das Mittel zur Vereinigung des einen Teppichfelds mit dem anderen das Muster der Teppiche nicht unterbrach.
Wie sehr erinnert uns dies an unseren Herrn! Seine Liebe zu den Menschen war so allumfassend, als ob sein ganzes Leben damit ausgefüllt wäre, so dass sogar der Unglaube gezwungen war, die Schönheit seines menschlichen Charakters anzuerkennen. So war es und verglichen mit den Menschen ist Er der ideale Mensch – und ist doch so viel mehr als das! In gleicher Weise war seine Liebe zu Gott ebenso absolut, als ob es keinen Menschen gäbe. Er ragt als der zweite Mensch hervor, für den Gott alles war. Am „Saum“ des äußersten Teppichs eines Felds waren die blauen Schleifen angebracht, um uns an die Absicht Gottes zu erinnern, dass es eine göttlich gebildete Verbindung zwischen der Verantwortung gegenüber Ihm und gegenüber seiner Schöpfung, dem Menschen, gibt. Wir können uns unseren Herrn nicht so vorstellen, dass Er an den Menschen denkt und Gott darüber vergisst noch umgekehrt. Er war weder ein Einsiedler noch ein bloßer Philanthrop (Menschenfreund).
Wie wir gesehen haben, waren die Schleifen blau – die Farbe des Himmels. So kennzeichnete die Tatsache, dass Er vom Himmel war, im Himmel lebte und zum Himmel zurückkehren würde, sein ganzes Leben des Gehorsams. Das Zeichen des Himmels war auf allem. Auf dem, was von seiner vollkommenen Liebe und seinem Gehorsam gegenüber Gott sprach, waren die blauen Schleifen, um zu zeigen, dass diese Liebe und dieser Gehorsam mit einem Leben auf der Erde vereint werden sollten, indem sich die Verantwortlichkeiten dieses Lebens mit seinem Dienst für Gott verschmelzen würden. So zeigen die blauen Schleifen des zweiten Teppichfelds, dass alles eins war mit seiner Hingabe an Gott.
Kein Leben war jemals so vollkommen Gott geweiht wie das seine: Herz, Seele, Geist und Kraft – alles stellte Er stets in den Dienst für Gott. Doch diese Hingabe machte Ihn nicht zu einem Einsiedler. Es verbietet sich jeder Gedankenanflug in Richtung eines egoistischen Mönchtums, mit dem die menschliche Selbstgerechtigkeit den Namen des Christentums verbunden hat. Er liebte seinen Vater vollkommen, was gleichzeitig der Beweis seiner vollkommenen Liebe zu den Menschen war. Keine Hand und kein Herz waren so mit Liebe und Arbeit für den Menschen ausgefüllt wie die seinen, aber es war nichts Sentimentales oder bloß Wohltätiges daran. Über allem lagen die blauen Schleifen, die alles mit dem Willen seines Vaters verbanden. Er wirkte viele Wunder: Blinde erhielten ihr Augenlicht, Aussätzige wurden gereinigt, Lahme gingen umher, Tote wurden auferweckt (Mt 11,5), aber wir dürfen in Bezug auf diese Werke der Liebe und Kraft gegenüber den Menschen nicht denken, dass sie sich darin erschöpften. Er offenbarte die Werke, die der Vater Ihm zu tun gab: „Ich muss die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat“; „Der Vater aber, der in mir bleibt, er tut die Werke“ (Joh 9,4; 14,10). Hier sehen wir den wahren „Nächsten“, dessen Liebe zu den Menschen immer im Gehorsam zur Liebe seinem gegenüber Gott stand.
Die Anzahl Fünfzig
Dieser Gedanke wird noch verstärkt durch die Anzahl der Schleifen sowie die Klammern aus Gold, die beide Felder miteinander verbanden. Es waren jeweils fünfzig, das heißt 5 ∙ 5 ∙ 2, was wir mit einer vollen, ja verstärkten Verantwortlichkeit verbinden möchten, wenn wir an die Multiplikation der beiden Fünfen denken. Das Ganze mal zwei, als ob wieder die beiden Seiten, die menschliche und die göttliche Seite, hervorgehoben werden sollten – und damit ein vollkommenes Zeugnis der Erfüllung aller Forderungen durch Ihn. Oder sind darin eher die Faktoren 10 ∙ 5 zu sehen? Nun, auch dann bleibt der Gedanke bestehen, denn die Faktoren sind gleich. In seiner Hingabe an Gott atmete die Liebe zu den Menschen, die stets den kennzeichnete, dessen „Wonne bei den Menschenkindern“ lag. So stand kein Gehorsam zu einem Gebot für sich allein, sondern war mit allen anderen verbunden. Es war ein Gewand ohne Naht.
Und ist nicht genau das allein der Gehorsam, den Gott annehmen kann? „Wer irgend das ganze Gesetz hält, aber in einem strauchelt, ist aller Gebote schuldig geworden“ (Jak 2,10). Um irgendeine wahre Gerechtigkeit zu erlangen, muss sie vollständig sein, denn alles andere ist bruchstückhaft und gleicht einem unflätigen Kleid, selbst wenn es so weit geht, alle Habe zur Speisung der Armen auszuteilen oder seinen Leib hinzugeben, damit er verbrannt würde (vgl. 1Kor 13,3). Hier, wie überall, ruft alles laut nach Christus, dem Einzigen, der einen solchen Gehorsam leisten und Gott verherrlichen konnte.
Goldene Klammern
Dieser Gedanke der Verherrlichung Gottes wird durch die fünfzig goldenen Klammern oder Haken veranschaulicht, die die Schleifen miteinander verbanden.7 Wie wir später noch sehen werden, steht Gold für göttliche Herrlichkeit. Diese stand stets vor unserem Herrn, denn sein einziger Wunsch bestand darin, dass der Name des Vaters verherrlicht würde (Joh 12,28). „Ich ehre meinen Vater“ (Joh 8,49). „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde (Joh 17,4). Wie deutlich spricht das davon, wie vollkommen frei Er von jeder Selbstsucht und jedem Selbstbewusstsein war. Aber erinnert es uns nicht auch daran, dass solch ein Gehorsam zwar menschlich ist, aber mehr als menschliche Kraft benötigt, um ihn zu leisten? Kein bloßes Geschöpf konnte ihn leisten – und schon gar kein gefallenes Geschöpf. Die goldenen Klammern erinnern uns daran, dass der vollkommene Charakter, den wir betrachtet haben, nicht nur menschlich, sondern auch göttlich ist. Eine göttliche Person, und doch wahrhaftig ein Mensch, vereinigte in sich selbst allen Gehorsam, alle Liebe zu Gott und Menschen. Dürfen wir nicht sagen, dass in dieser Tatsache das Geheimnis beruht, das im Vorhang gezeigt wird: Gott, offenbart im Fleisch (vgl. 1Tim 3,16)?
Die Gottheit Christi zu leugnen, bedeutet also, das Band zu zerstören, das sein Leben zu einer vollkommenen Einheit machte, und nur einen Bruchteil übrigzulassen, der selbst durch falsche Behauptungen befleckt und verunstaltet ist, wäre er nicht tatsächlich der Sohn Gottes. Menschen, die von der Liebenswürdigkeit Jesu, seiner Freundlichkeit, seinen Hilfeleistungen, seinem untadeligen Leben etc. sprechen und dennoch leugnen, dass Er der ewige Sohn Gottes ist, betrügen sich selbst und andere. Diese Klammern aus Gold waren unentbehrlich für die Vereinigung der Teppichfelder zu einem vollkommenen Ganzen. Lässt man sie weg, wird alles verunstaltet. Wer seine Gottheit bewusst und willentlich leugnet, verunreinigt den Tempel Gottes und ist ein echter Feind des Herrn. Aber selbst dort, wo dies nicht der Fall ist, kann das Volk Gottes den wahren Teil der Wahrheit über die wunderbare Person unseres Herrn verlieren, wenn sie es unterlassen, in besonderer Weise die große und herrliche Tatsache vor sich zu stellen: „Das Wort war Gott“ (Joh 1,1). Möge der Heilige Geist seine gesegnete, unvergleichliche Person nicht nur in unseren Gedanken bewegen, sondern in unseren Herzen verankern – Ihn, den Gegenstand unserer Anbetung, Liebe und unseres willigen Gehorsams.
7Das Wort für „Klammern“, karsim, stammt von einem Verb, das „beugen“ oder „krümmen“ bedeutet und so in Jesaja 46,1.2 wiedergegeben wird. Es geht dort um die Erniedrigung der falschen Götter Babylons, die weggeführt wurden. Hier soll die Beugung bzw. der Haken eine Verbindung schaffen zwischen dem, was Gott und den Menschen zukommt. Stellt es nicht die Gnade dessen dar, der sich selbst erniedrigte, um Gottes Gedanken über den Menschen zu entfalten? Vielleicht finden wir hierin auch eine Andeutung seiner Demütigung, die Ihn dazu führte, sich sozusagen mit der Schöpfung zu verbinden, um sie in ewige Harmonie mit ihrem Schöpfer zu bringen.