ALLGEMEINES
Auf die Geschichtsbücher und Briefe mit ihren wohlgegriindeten Berichten und Lehren folgt als Abschluss des Neuen Testaments ein einzigartiges prophetisches Schreiben. Dieses letzte Buch der Bibel nennt sich «Offenbarung des Johannes». Ursprünglich hiess es jedenfalls nicht so; die Eingangsworte des Buches geben uns die wahre, sinngemässe Überschrift: «Dies ist die Offenbarung Jesu Christi». Offenbarung (griechisch: Apokalypsis) bedeutet wörtlich «Entschleierung», Enthüllung von bisher Verborgenem. Oft könnte auch mit «Erscheinung» übersetzt werden. Paulus schrieb z. B. den Galatern unter Hinweis auf die Erscheinung Christi vor Damaskus, er habe sein Evangelium durch eine Apokalypse Jesu Christi empfangen (Gal 1,12).
Ch. Rochedieu nennt die Offenbarung
«das Allerheiligste der Schrift, in das man nur auf den Knien eindringt, nachdem man zuvor durch die anderen Räume des Heiligtums gegangen ist».
Die Offenbarung weist dem Inhalt wie der Form nach eine grosse Ähnlichkeit mit den Büchern Hesekiel und Daniel auf. Sie könnte sogar als Fortsetzung der Weissagungen Daniels betrachtet werden.
Die Offenbarung ist das Buch der leidenden Gemeinde (Ecclesia pressa) genannt worden. Bengel macht nicht von ungefähr die Bemerkung:
«Dieses Buch wird hauptsächlich in der Anfechtung von den Gläubigen geschätzt.»
VERFASSER
Der Verfasser nennt sich selber Johannes, einen Knecht Jesu Christi, einen Zeugen Gottes und Christi (Off 1,1-2.4; 22,8), einen Bruder und Mitgenossen der Trübsal der Gemeinde (Off 1,9), einen Propheten
(Off 1,3.10.11; 22,7.10.18).
Die altkirchliche Überlieferung wirft die Frage der Verfasserschaft gar nicht auf. Dafür sind viele geschichtliche Beweise vorhanden (vgl. Echtheit). Erst in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts machen sich einige Zweifel bemerkbar. Daran waren zum Teil die Montanisten schuld, die sich in extravaganten Erwartungen des Tausendjährigen Reiches ergingen. Gleichzeitig wurde man auf die grossen sprachlichen Unterschiede aufmerksam, die zwischen der Offenbarung und den übrigen johanneischen Schriften bestehen. Die Bedenken wurden aber in der Zeit des Irenäus und des Tertullian zerstreut und der Apostel Johannes allgemein als Verfasser anerkannt.
In neuerer Zeit ist die alte Streitfrage wieder aufgekommen. Folgende innere Beweise sollen die Autorschaft des Johannes widerlegen:
Johannes nennt sich selbst mehrmals in der Offenbarung, was er in seinen übrigen Schriften nicht tut. — Dagegen ist einzuwenden: Die Offenbarung ist im Gegensatz zu den anderen Schriften des Johannes ein prophetisches Werk, und die Propheten hatten im Gegensatz zu den Geschichtsschreibern die Gewohnheit, ihren Namen anzugeben.
Die sprachlichen und stilistischen Unterschiede zwischen dem JohannesEvangelium, den Briefen und der Offenbarung sind so gross, dass diese Schriften nicht aus derselben Feder stammen können. Das Evangelium und die Briefe sind in sehr schlichtem, jedoch im ganzen fehlerfreiem Griechisch geschrieben; die Offenbarung hingegen mutet vielfach wie eine verunglückte Übersetzung aus dem Hebräischen an. — Dagegen ist einzuwenden: Die Verschiedenheit des Inhalts bedingt auch eine Verschiedenheit der Sprache. Ausserdem scheint Johannes die Offenbarung unter denkbar ungünstigen Umständen geschrieben zu haben, während er möglicherweise bei der Abfassung des Evangeliums einen fähigen griechischen Schreiber zu Hilfe zog. Im übrigen finden sich im Evangelium, den Briefen und der Offenbarung viele verwandte Züge, sowohl begrifflich als sprachlich. Denken wir nur an den Ausdruck «Lamm», der einzig im 4. Evangelium (Off 1,29.36) und in der Offenbarung (Off 5,6.8. 12 usw.) auf Christus angewendet ist;
1Pet 1,19 und Apg 8,32 weisen allerdings auch auf den Zusammenhang hin. Ähnlich verhält es sich mit dem Namen «Wort» (Joh 1,1 f; 1Joh 1,1; Off 19,13). Einige der beliebtesten Redewendungen des Johannes kommen wiederholt in der Offenbarung vor, so z. B.: «wer überwindet», «Zeugnis» oder «zeugen», «mein Wort halten». Der griechische Ausdruck für «wahr» oder «echt» kommt im Johannes-Evangelium neunmal, im
1. Johannesbrief viermal und in der Offenbarung zehnmal vor, im ganzen übrigen Neuen Testament aber nur fünfmal. Dies sind nur einige von den zahlreichen Übereinstimmungen.
Der grosse Winer (der die bahnbrechende Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms der neutestamentlichen Exegese herausgegeben hat) schreibt: Der lebhafte Ernst des inspirierten Schreibers, der einen Gegenstand, der derart alle andern Gegenstände überragt, behandelt, erhebt ihn über die gewöhnlichen (grammatikalischen) Regeln, so dass er abrupt von einer grammatikalischen Konstruktion zu einer andern übergeht, weil er den Gegenstand, den er beschreibt, graphisch vor das Auge stellt. Dies entspricht nicht der Unkenntnis der Grammatik, denn er entfaltet eine Beherrschung der grammatikalischen Regeln in andern, viel schwierigeren Konstruktionen.
Abschliessend dürfen wir auf Grund der inneren und äusseren Beweise feststellen, dass ohne Zweifel der Apostel ]ohannes, der Verfasser des vierten Evangeliums, die Offenbarung geschrieben hat.
EMPFÄNGER
Aus Off 1,1 Vers zu schliessen, gilt die «Offenbarung Jesu Christi» ... «seinen Knechten». Unter diesen erwählt der erhöhte Christus den einen, Johannes, um ihm die Zukunft der Gemeinde in Bildern zu zeigen und die Deutung zu geben, damit er sie an die Gemeinde weiterleite (Off 1,2). — Nach Off 1,4 ist die Offenbarung vorerst für die sieben Gemeinden in Kleinasien bestimmt, unter denen Johannes den letzten Teil seiner Dienstzeit als Apostel zubrachte. Mit der Zahl 7 (göttliche Vollkommenheit) ist jedoch angedeutet, dass dieses Zeugnis nicht nur den asiatischen Gemeinden gehört, sondern der gesamten Gemeinde Jesu Christi an allen Orten und zu allen Zeiten.
ABFASSUNG
Über den Ort der Abfassung besteht kein Zweifel. Johannes selbst gibt die Insel Patmos an (Off 1,9), ein kleines, dürres und unfruchtbares Felseneiland im Ägäischen Meer, nahe der Küste Kleinasiens.
Über die Zeit der Abfassung sind die Meinungen geteilt. Die einen verlegen sie in die Regierungszeit des Kaisers Galba oder Vespasian und stützen sich dafür auf Offenbarung Off 17,9-11. Sie behaupten, die 7 Könige seien 7 römische Kaiser, die 5 schon gefallenen: Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero; der noch lebende sei Galba, der sechste. Aus dem Anfang des 11. Kapitels zu schliessen, steht Jerusalem noch, doch ist in absehbarer Zeit seine Einnahme durch die Heiden (Römer) zu erwarten (Off 11,1-2). Das Weib Babylon im 17. Kapitel lässt an die weltbeherrschende Siebenhügelstadt Rom denken (Off 17,9), usw. Demnach hätte die Abfassung der Offenbarung in den Jahren 67—70 stattgefunden.
Die andere Auffassung ist, dass Johannes sein Prophetenbuch unter Kaiser Domitian schrieb. Auch dafür ist es möglich, im Buch selbst allerlei Beweise zu finden, z. B. die Gemeindezustände: ein «Engel» (Bischof?) an der Spitze jeder Gemeinde (Off 2,1 f); Erschlaffung des geistlichen Lebens (Off 2,4 usw.); die gnostisierende Lehre der Nikolaiten (Off 2,24); Christenverfolgung wegen Verweigerung der Cäsarenvergötterung (Off 13,14 f; 14,9 f; 20,4). Dafür sprechen auch mehrere kirchengeschichtliche Zeugnisse: Irenaus behauptet fest, die Offenbarung sei am Ende der Regierung Domitians «geschaut worden», und Hieronymus erinnert daran, dass Johannes nach Patmos verbannt und unter Domitian befreit worden sei. All das verweist auf eine spätere Zeit.
In diesem Fall wurde die Offenbarung im Jahr 94/95 zur Zeit der
2. Verfolgung durch Domitian geschrieben. Wir neigen zu dieser Auffassung.
ECHTHEIT
Die altkirchliche Überlieferung anerkennt allgemein die Echtheit dieser Schrift, ohne in der Verfasserfrage immer einig zu sein. Als erster Zeuge steht Justin der Märtyrer da, wenn er schreibt (Dial. 81,4):
«Unter uns hat auch ein Mann Johannes, einer der Apostel Jesu Christi, in der Offenbarung, die er gehabt hat, denen, die an unseren Christus geglaubt haben, vorausgesagt...» usw.
Papias, der Apostelschüler, kannte das Buch und nannte es ein Werk des Apostels Johannes.
Irenaus schreibt:
«Wenn jemand den Dingen Beachtung schenkt, welche die Propheten übet das Ende gesagt haben, und allen Dingen, die Johannes, der Jünger des Herrn, in der Offenbarung geschaut hat ... » usw.
«Aus den Mitteilungen des Eusebius über Papias, Melito von Sardes, Theophilus von Antiochien und Apollonius geht hervor, dass sie alle die Apokalypse als ein heiliges Buch ansahen, und seit Irenaus, Tertullian und dem muratoriscben Fragmentisten ist der Apostel Johannes als Verfasser allgemein anerkannt, nicht nur bei den Abendländern, sondern auch bei Morgenländern wie Clemens Alexandrinus, Origenes, Methodius, Serapio» (F. Barth).
ZWECK UND ZIEL
Die Offenbarung sollte in erster Linie die Gemeinden in Kleinasien zur Standhaftigkeit im Leiden ermuntern. Gegen Ende des 1. Jahrhunderts waren diese Gemeinden vielfacher Anfechtung ausgesetzt von seiten der heidnischen Bevölkerung und ihrer Behörden wie auch von den Juden. Innerlich waren sie durch Irrlehrer wie die Nikolaiten, Kerinthianer und andere bedroht. Dazu war der getreue Seelenhirte Johannes durch seine Verbannung nach Patmos von ihnen getrennt. Was sollte aus der bedrängten Kirche werden? Darauf gibt unser Buch die Antwort: Gott und sein Reich werden schliesslich über alle irdischen Reiche und feindlichen Mächte siegen. Wohl dem, der sich nicht durch zeitliche Bedrängnis vom Glauben an den Endsieg Gottes abbringen lässt!
Doch auch der gesamten Kirche Christi aller Zeiten will die Offenbarung Trost und Halt bieten. Die Leiden und Anfechtungen der Gemeinde in Kleinasien sind ja nur eine Vorschattung der Leiden und Anfechtungen, welche die Kirche der ganzen Welt in weit grösserem Ausmass kennenlernen soll. Doch gerade ihr gilt die Verheissung endgültigen Triumphes in der Nachfolge des Lammes.
INHALT UND EINTEILUNG
1. Christus, der Herr, und seine Gemeinde Off 1-3
a) Der Eingang des Buches Off 1,1-8
Zweck und Bedeutung Off 1-3
Segenswunsch Off 4-6
Siehe, ich komme bald! Off 7-8
b) Die Vision des erhöhten Christus Off 1,9-20
Der Rahmen:Verbannung,Verzückung Off 9-11
Die Person: Herrlichkeit Christi Off 12-16
Die Folge: Berufung des Johannes Off 17-20
c) Die Botschaft des erhöhten Christus Off 2,1 - 3,22
Ephesus: Lass die erste Liebe nicht! Off 2,1-7
Smyrna: Sei getreu bis in den Tod! Off 2,8-11
Pergamus: Fliehe die Götzen! Off 2,12-17
Thyatira: Prüfet die Geister! Off 2,18-29
Sardes: Wache über deine Werke! Off 3,1-6
Philadelphia: Siehe, ich komme bald! Off 3,7-13
Laodizea: Ach, dass du warm wärest! Off 3,14-22
2. Christus, der Herr, und die Nationen Off 4,1 - 11,14
a) Der Loskauf der Menschheit Off 4,1 - 5,14
Der allmächtige Gott auf dem Thron Off 4
Das Lamm auf dem Thron Off 5
b) Der grosse Weltkonflikt Off 6,1 - 11,14
Die Eröffnung: die ersten 6 Siegel Off 6
Zwischengesicht: die Erlösten Off 7
Das 7. Siegel und die ersten 6 Posaunen Off 8-9
Zwischengesicht: das offene Büchlein Off 10
Zwischengesicht: die beiden Zeugen Off 11,1-14
3. Der Kampf mit den satanisch-antichristlichen Mächten
Off 11,15 - 14,20
Die Eröffnung: die 7. Posaune Off 11,15-19
Der Kampf Himmel Off 12,1-13
Der Kampf auf Erden Off 12,14-17
Die zwei Tiere und der falsche Prophet Off 13,1-18
Zwischengesicht Off 14,1-20
4. Der Zusammenbruch der antichristlichen Mächte
Off 15,1 - 19,21
Die Eröffnung: Vorbereitung im Himmel Off 15
Die sieben Zornesschalen Off 16
Geheimnis und Fall Babylons Off 17-18
Die Hochzeit des Lammes Off 19,1-10
Der Endsieg: der Sieger Christus Off 19,11-21
5. Christus, der Herr, und sein Reich Off 20,1 - 22,21
Das Tausendjährige Reich Off 20,1-6
Der letzte Aufstand (Feuersee) Off 20,7-10
Das letzte Gericht (Jüngstes Gericht) Off 20,11-15
Der neue Himmel und die neue Erde Off 21,1 - 22,5
Die letzten Mahnungen Off 22,6-21
Schlüsselwort: Vollendung
Schlüsselvers: «Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende ...» (Off 1,8).
VERSCHIEDENES
Die Person Jesu Christi
Die Offenbarung enthüllt uns wie kein anderes Buch der Bibel die Person unseres Herrn Jesus Christus. Sie zeichnet uns sein Bild mit solch einer Fülle von Zügen, dass hier nur einige hervorgehoben werden können. Der erhöhte Christus wird uns geschildert:
In seiner Menschlichkeit
als Menschensohn Off 1,13
als Löwe aus dem Stamm Juda Off 5,5
als Wurzel des Geschlechts David Off 22,16
ln seiner Göttlichkeit
als der Anfang der Schöpfung Gottes Off 3,14
als Anfang und Ende Off 1,8
als Erster und Letzter Off 1,17; 2,8
als Sohn Gottes Off 2,18
als Gott der Herr Off 1,8
als der Gesalbte Off 11,15; 12,10
als der Allmächtige Off 1,8; 4,8
als der Heilige Off 3,7
als der Wahrhaftige Off 3,7; 19,11
als das Amen Gottes Off 3,14
ln seinem Erlösungswerk
als der, der uns geliebt hat Off 1,5
als der, der uns gewaschen in seinem Blut Off 1,5
als das erwürgte Lamm Off 5
ln seiner Auferstehung
als Erstgeborener von den Toten Off 1,5
als der ewig Lebendige Off 1,18
als der da tot war und wieder lebendig geworden ist Off 2,8
ln seiner Wiederkunft
als der da bald kommt Off 1,7; 22,7
als der da war, der da ist und der da kommt Off 1,4.8; 4,8
als der helle, aufgehende Morgenstern Off 22,16
als der das Reich einnehmen wird Off 19,6
ln seinem Gericht
er hat den Schlüssel der Hölle und
des Totenreichs Off 1,18
sein Wort ist ein zweischneidiges Schwert Off 1,16
seinen Augen ist nichts verborgen Off 2,18; 19,12
er prüft die Nieren und durchforscht die Herzen Off 2,23
seine Gerichte sind wahrhaftig und gerecht Off 19,2
die Zeugnisse: die himml. Rechenschaftsbücher Off 20,12
die Maßstäbe: seine Gebote Off 22,7.14
die Beweise: unsere Werke Off 22,12
ln seinen Beziehungen zur Gemeinde
er hält sie in seiner rechten Hand Off 1,16; 2,1
er wandelt in ihrer Mitte Off 2,1
er kämpft mit ihr um dieselbe Sache Off 17,14
er amtet in ihr als der treue Zeuge Off 3,14; 22,16
ln seinen Beziehungen zur Welt
er ist der Fürst der Könige auf Erden Off 1,5
er ist der Herr aller Herren Off 17,14
er ist der König aller Könige Off 19,16