ALLGEMEINES
Das Lukas-Evangelium wird gekennzeichnet durch die Offenbarung des Welterlösers. Ihm sind weder zeitliche noch räumliche Grenzen gesetzt. Dieser Gedanke beherrscht und erfüllt unser Evangelium. Es wird oft «das Evangelium des Paulus» und «der Gemeinde Jesu Christi» genannt.
VERFASSER
Der Verfasser, dem die Urgemeinde dieses Evangelium zuschreibt, heisst Lukas. Auch die Überlieferung nennt einstimmig denselben Verfasser wie für die Apostelgeschichte (Für die geschichtlichen Beweise siehe Abfassung). Über seine Person und seinen Lebenslauf ist uns nur weniges bekannt, nämlich folgendes:
Lukas war einer der Mitarbeiter des Paulus in seinem Missionswerk unter den Heiden. An drei Stellen redet Paulus von ihm: Kol 4,14; Phlm 24; 2Tim 4,11.
Lukas war Arzt (Kol 4,14) und hatte somit eine gründliche wissenschaftliche Ausbildung genossen. Unter den ersten Verkündigern des Evangeliums waren sehr wahrscheinlich Paulus und Lukas die einzigen, die zur sogenannten gebildeten Klasse ihrer Zeit gehörten.
Lukas war heidnischer Herkunft, also Nicht-Jude. In Kol 4,10-14 sind nämlich die drei jüdischen Mitarbeiter des Paulus, Aristarchus, Markus und Justus, ausdrücklich seinen drei andern Gehilfen, Epaphras, Demas und Lukas, gegenübergestellt. — Der Augenblick, an dem Lukas sich zum Christentum bekehrt hat, ist uns nicht bekannt; aber es ist anzunehmen, dass er durch Paulus zur wahren Erkenntnis geführt wurde. Das würde uns auch seine Treue und Hingabe an den Heidenapostel erklären, den er auf seinen grossen Missionsreisen begleitete. In Troas sehen wir ihn (Apg 16,10) zum erstenmal in Gesellschaft des Paulus. Er reist mit ihm nach Philippi, wo er während des zweiten Aufenthalts des Apostels in Korinth zurückzubleiben scheint. Später verlässt er Philippi (Apg 20,5-6), um mit Paulus nach Jerusalem zu ziehen.
Nach dessen Gefangenschaft in Cäsarea begleitet er den Apostel nach Rom (Apg 27-28), leidet mit ihm Schiffbruch und Todesgefahr und ist (nach 2Tim 4,11) noch in seiner Gefangenschaft bei ihm, wenige Monate vor seinem Märtyrertode, nachdem schon die meisten seiner Freunde ihn verlassen haben. Das ist die letzte Nachricht, die uns das Neue Testament über unseren Evangelisten gibt.
Wohl stempelt eine gewisse Überlieferung Lukas zum Märtyrer, und man zeigt noch heute in der Kirche der hl. Justine in Padua den Sarkophag, in dem seine Reste aufbewahrt sein sollen. Aber diese Angaben haben für uns keine wesentliche Bedeutung.
EMPFÄNGER
Über den Empfänger gibt die Widmung selbst (Lk 1,1-4) Aufschluss. Hienach war das Buch einem vornehmen christlichen Privatmann, dem uns sonst unbekannten Theophilus, gewidmet, was aber so wenig wie heutige Dedikationen eine Bestimmung für weitere Kreise ausschliesst. Im Gegenteil, nach den damaligen Sitten wurde Theophilus durch die Widmung der «Patron» des Buches, der die Verantwortung für seine Abschrift und Verbreitung übernahm. So ist das Buch also (wie es einem Evangelium des Paulus entspricht) für die Heidenchristen bestimmt. Das erklärt die Vermeidung hebräischer Ausdrücke oder, wo solche Vorkommen, deren Übersetzung.
ABFASSUNG
Biblische Beweise
In seinem Vorwort (Lk 1,1-4) sagt Lukas selbst, dass er sein Evangelium von Augenzeugen habe, die von Anfang an um Jesus waren. Wenn Lukas in Lk 1,3 versichert, dass er allem genau nachgegangen ist, so schliesst das nicht aus, dass er verschiedene schriftliche Quellen benutzt hat. Ein grosser Teil seines Evangeliums stellt aber Sondergut dar; es ist sehr wohl denkbar, dass Lukas die zwei Jahre, in denen Paulus in Cäsarea festgehalten wurde, benutzt hat, um gründliche Nachforschungen anzustellen. In dieser Zeit besuchte er wohl Maria, die Mutter Jesu, die ihm alle die wunderbaren Einzelheiten über die Geburt Jesu gab. Ausserdem werden ihm Petrus und Johannes vieles erzählt haben, wie auch Jakobus, der Bruder Jesu, den Lukas mehrmals zu treffen Gelegenheit hatte (Apg 21,18), und wohl auch mehrere Mitglieder des Hohen Rats (zu denen ja auch Paulus gehört hatte), die den Gerichtsverhandlungen anlässlich der Verurteilung Jesu beigewohnt und sich später bekehrt hatten. Obwohl der Bericht in manchen Teilen aus solchen zuverlässigen Quellen fliessen dürfte, ist ihm doch hauptsächlich die Wesensart des grossen Reisegefährten, Paulus, aufgeprägt. Wer weiss, ob er nicht gerade auf das Lukas-Evangelium hinweist, wenn er sagt: «Mein Evangelium». Was aber dieses Buch wirklich zum «Evangelium» macht, ist die Tatsache, dass sich Lukas mit seinem ganzen, sorgfältig gesammelten Material Gott zur Verfügung stellte, so dass die Niederschrift, wie bei den andern biblischen Verfassern, unter der Zucht und Eingebung des Heiligen Geistes geschah.
Geschichtliche Beweise
Von den Zitaten der Kirchenväter des 2. Jahrhunderts wollen wir nur die drei wichtigsten aufzählen. Die älteste Nachricht gibt uns Irenaus:
«Lukas, du Begleiter des Paulus, hat das von diesem verkündigte Evangelium in einem Buche niedergelegt.»
Den nächsten Hinweis finden wir im Kanon Muratori, einer um 205 verfassten, zuerst durch den italienischen Gelehrten Muratori 1740 veröffentlichten unvollständigen lateinischen Handschrift mit Ausführungen über die damals anerkannten apostolischen Schriften. Es heisst dort im Anschluss an den Bericht über das Markus-Evangelium:
«Drittens das Evangelium Lukas. Lukas, der Arzt, den Paulus sich als Eiferer für die Gerechtigkeit zugesellt hatte, schrieb in seinem eigenen Namen, wie er es für gut fand. Er hatte aber selber den Herrn nicht gesehen. Da er aber mit seinen Erkundigungen so weit wie möglich ging, beginnt er seinen Bericht mit der Geburt des Johannes.»
Eusebius sagt:
«Lukas, gebürtig von Antiochien, dem Beruf nach Arzt, welcher viel mit Paulus und auch den andern Aposteln verkehrt hatte, hat Beispiele seiner Kunst, Seelen zu heilen, in zwei inspirierten Büchern aufgestellt: dem Evangelium, das er nach Berichten von Augenzeugen, die den Herrn alle von Anfang an begleitet hatten, verfasst haben will, und der Apostelgeschichte, die er nicht nach Gehörtem, sondern nach dem mit eigenen Augen Gesehenen verfasst hat. Man behauptet auch, dass Paulus die Gewohnheit hat, sich auf dieses Evangelium zu beziehen, und zwar jedesmal, wenn er in seinen Briefen sagt: ... nach meinem Evangelium.»
Diese biblischen und geschichtlichen Beweise, und vor allem die zahlreichen Anspielungen auf die künftige Zerstörung Jerusalems, lassen uns annehmen, dass dieses Evangelium vor dem Jahre 70 geschrieben wurde. Wenn Lukas es während der zweijährigen Gefangenschaft des Paulus verfasst hat, so liegt das Datum der Abfassung jedenfalls gegen das Ende dieser Gefangenschaft, also um 63 n. Chr. Auf alle Fälle lebte Paulus zu der Zeit noch; denn wir wissen, dass die Apostelgeschichte, welche die Reiseberichte des Paulus enthält, einige Jahre nach dem 1. Buch des Lukas geschrieben wurde (Apg 1,1). Die Apostelgeschichte aber wurde ebenfalls vor der Zierstörung Jerusalems geschrieben, da auch sie nichts davon sagt. Diese Umstände sowie die oben angeführten Beweise sprechen dafür, dass unser 3. Evangelium in den Jahren 63—64 n. Chr. verfasst worden ist, ungefähr um dieselbe 2üeit wie das Markus- und Matthäus-Evangelium.
ECHTHEIT
Die Stimmen aus den ersten Jahrhunderten bestätigen alle die Echtheit des Lukas-Evangeliums. Das Evangelium war in allen grossen christlichen Zentren bekannt und wurde von den Kirchenvätern wie auch von den Gnostikern Basilius und Valentinus (120—180) zitiert.
ZWECK UND ZIEL
Der besondere Zweck des Verfassers ist im Vorwort (Lk 1,1-4) angegeben. Wir erkennen aber ausserdem einen anderen, grösseren und weiter reichenden Zweck, nämlich diesen: der nunmehr weltweiten Verkündigung der Lehre Jesu Christi eine feste geschichtliche Unterlage zu geben. Das Evangelium Lukas ist vor allem das Evangelium für die ganze Welt, wie Paulus es verkündete. Dessen Predigt ruhte auf zwei Grundpfeilern, die wir in unserem Evangelium wiederfinden. Es sind dies:
die völlige Unentgeltlichkeit und die universale Bedeutung des in Jesüs Christus angebotenen Heils.
Christus wird uns als Erlöser der ganzen Welt dargestellt, als der Armenfreund und Sünderheiland in seiner ganzen, vollkommenen Menschlichkeit: «Ecce homo» — siehe, der Mensch! Eine göttliche Freude klingt durch das ganze Buch; es ist ein Jubellied der Verlorenen und Wiedergefundenen. Renan sagt über dieses Evangelium:
«Alles lacht, alles weint, alles singt; es ist das Lied des Volkes, ein Hosianna der Kleinen und Armen.»
INHALT UND EINTEILUNG
Das grosse Thema des Lukas-Evangeliums ist die Gestalt des Menschensohnes. Wir gehen deshalb auch bei der Einteilung von diesem Gesichtspunkt aus.
1. Der Menschensohn und seine Vorgeschickte Lk 1,1 - 2,52
Einleitung Lk 1,1-4
Ankündigung der Geburt des Johannes Lk 1,5-25
Ankündigung der Geburt Jesu Lk 1,26-56
Geburt des Johannes Lk 1,57-80
Geburt und Kindheit Jesu Lk 2,1-52
2. Der Menschensohn und seine Vorbereitung Lk 3,1 - 4,13
Auftreten und Predigt des Vorläufers Johannes Lk 3,1-20
Taufe und Ahnentafel des Menschensohnes Lk 3,21-38
Seine Versuchung Lk 4,1-13
3. Der Menschensohn in Galiläa Lk 4,14 - 9,50
Erstes Auftreten in Galiläa Lk 4,14 - 5,16
Zusammenstösse mit den Führern Lk 5,17 - 6,11
Berufung und Belehrung der Jünger Lk 6,12-49
Kapernaum und Nain Lk 7,1-17
Jesus und Johannes Lk 7,18-35
Jesus und die Frauen Lk 7,36 - 8,3
Abschluss der Tätigkeit in Galiläa Lk 8,4 - 9,50
4. Der Menschensohn auf dem Weg nach Jerusalem
Lk 9,51 - 19,27
Der Menschensohn und die Seinen Lk 9,51 - 11,13
Der Menschensohn und seine Feinde Lk 11,14 - 13,21
Der Menschensohn und die Sünder Lk 13,22 - 15,32
Der Menschensohn und die ird. Reichtümer Lk 16,1 - 19,27
5. Der Menschensohn in Jerusalem Lk 19,28 - 24,53
Sein letzter Einzug Lk 19,28-47
Seine letzten Reden Lk 20,1 - 21,38
Sein letzter Abend Lk 22,1-65
Sein letzter Tag Lk 22,66 - 23,56
Seine letzten Erscheinungen Lk 24,1-53
Schlüsselwort: Menschensohn
Schlüsselvers: «Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist» (Lk 19,10).
VERSCHIEDENES
Berichte, die ausschliesslich im Lukas-Evangelium Vorkommen
Begebenheiten:
Die Umstände der Geburt des Täufers Lk 1,1-25.57-80
Ankündigung der Geburt Jesu; Lk 1,26-56
Lobgesang der Maria
Nähere Umstände der Geburt Jesu in Bethlehem Lk 2,1-20
Die Beschneidung Jesu Lk 2,21-40
Der zwölfjährige Jesus im Tempel Lk 2,41-51
Ahnentafel Jesu bis Adam Lk 3,23-38
Jesus in der Synagoge zu Nazareth Lk 4,16-30
Die Sünderin Lk 7,36-50
Die dienenden Frauen Lk 8,1-3
Jesus bei den Samaritern Lk 9,51-56
Die Aussendung der Siebzig Lk 10,1-24
Jesus bei Maria und Martha Lk 10,38-42
Das zu teilende Erbe Lk 12,13-15
Die umgebrachten Galiläer Lk 13,1-5
Zachäus Lk 19,1-10
Die Tränen Jesu über Jerusalem Lk 19,41-44
Jesus vor Herodes Lk 23,7-11
Die Emmausgeschichte Lk 24,13-49
Wunder:
Erster wunderbarer Fischzug Lk 5,1-11
Auferweckung des Jünglings zu Nain Lk 7,11-17
Die seit 18 Jahren gebeugte Frau Lk 13,10-17
Der Wassersüchtige Lk 14,1-6
Die zehn Aussätzigen Lk 17,11-19
Malchus Lk 22,49-51
Gleichnisse:
Die beiden Schuldner Lk 7,41-43
Der barmherzige Samariter Lk 10,30-37
Die drei Freunde Lk 11,5-8
Der reiche Narr Lk 12,16-21
Der unfruchtbare Feigenbaum Lk 13,6-9
Der zur Hochzeit Geladene Lk 14,7-11
Der Turmbau und der Krieg Lk 14,28-32
Der verlorene Groschen Lk 15,8-9
Der verlorene Sohn Lk 15,11-32
Der ungetreue Haushalter Lk 16,1-8
Lazarus und der Reiche Lk 16,19-31
Die unnützen Knechte Lk 17,7-10
Der ungerechte Richter Lk 18,1-8
Der Pharisäer und der Zöllner Lk 18,9-14
Engelserscheinungen:
Gabriel bei Zacharias Lk 1,11
Gabriel bei Maria Lk 1,26-27
Die Engel bei den Hirten Lk 2,9
Ein Engel bei Jesus in Gethsemane Lk 22,43
Zwei Engel bei den Frauen am Ostersonntag Lk 24,4