ALLGEMEINES
Beim Lesen dieses Briefes fühlen wir von vornherein, dass wir einer starken christlichen Persönlichkeit gegenüberstehen. Die Gedanken sind wuchtig, originell und werden in kurzen, doch an Sinn und Lebensweisheit inhaltsreichen Sätzen ausgedrückt. Es geht dem Verfasser offensichtlich nicht um die Aufstellung gedanklicher Systeme, sondern um die aufrichtige Beobachtung des göttlichen Willens. Alle Selbsttäuschung, alle Verkehrtheit des natürlichen Herzens wird schonungslos aufgedeckt, alles folgewidrige Verhalten der Gläubigen streng gerügt. Prof. F. Barth bemerkt dazu:
«Zwar ist es dem Jakobusbrief von alters her gefährlich gewesen, dass er in der Nähe der paulinischen Briefe stand und an ihrem Mass gemessen wurde. Da konnte man ihm nachrechnen, dass er den Namen Jesu nur zweimal erwähne, und über seine trockene, gnomische Moral Beschwerde führen. In der Tat ist seine Haltung mehr praktisch-verständig als schwungvoll, und wer die Zeichen der Religion in enthusiastischen Symptomen sucht, der wird bei Jakobus enttäuscht. Aber dafür bietet er etwas Besseres: die tiefe, ruhige Überzeugung von der Anwendbarkeit der Worte Jesu auf das wirkliche Leben und von ihrer Bestätigung durch dasselbe. Man kann ihn über tiefsinnigeren Schriften zeitweise aus den Augen verlieren; aber man kehrt immer wieder gerne zu ihm zurück.»
VERFASSER
Allem Anschein nach muss der Verfasser in den judenchristlichen Gemeinden in grossem Ansehen gestanden haben. Er stellt sich selbst in den ersten Zeilen seines Schreibens vor als «Jakobus, ein Knecht Gottes und des Herrn Jesu Christi» (Jak 1,1).
Die Evangelien berichten insbesondere von drei Männern namens Jakobus:
Jakobus, Sohn des Zebedäus und der Salome, Apostel, Bruder des Johannes, wie dieser Donnerssohn genannt (Mk 1,19; 3,17; 10,35-40; Lk 9,52-56). Er war der erste Apostel, der den Märtyrertod erlitt, und zwar unter Herodes Agrippa (Apg 12,2), und ist als «Jakobus der Ältere» in die Geschichte eingegangen.
Jakobus, Sohn des Alphäus, Apostel (Mt 10,3; Mk 3,18; Lk 6,15), mit dem Beinamen «der Jüngere». Die katholische Kirche, die die bleibende Jungfräulichkeit der Maria behauptet, identifiziert zu Unrecht «den Jüngeren» mit Jakobus, dem Bruder des Herrn. Keiner dieser beiden Erstgenannten kann der Verfasser unseres Briefes sein; denn Jakobus der Ältere starb bereits im Jahr 44, und von Jakobus dem Jüngeren fehlt in der Kirchengeschichte jegliche Spur.
Jakobus, der Bruder Jesu (Gal 1,19). Nach Mk 6,3 und Mt 13,55 war er der älteste der Brüder Jesu. Er war es auch, der mit Maria, seiner Mutter, beim Kreuz stand (Mt 27,56). Nach 1Kor 15,7 erschien ihm der Auferstandene. Er wird dort besonders, vor dem ganzen Apostelkreis, genannt; demnach war er selbst kein Apostel. Eine Überlieferung berichtet, dass er nach dieser Erscheinung zum Glauben gekommen sei. Er schloss sich den Jüngern an und wurde allmählich zum angesehenen Haupt der Gemeinde von Jerusalem (Apg 12,17). Paulus erwähnt, dass er ihm drei Jahre nach seiner Bekehrung einen Besuch abgestattet habe (Gal 1,19). Nach 1Kor 9,5 war Jakobus verheiratet.
Beim Konzil zu Jerusalem spielt Jakobus eine wichtige Rolle als Vorsitzender der Versammlung; er ist es auch, der die schliesslich angenommene Lösung vorschlägt (Apg 15,13-21).
Paulus nennt Jakobus eine Säule der Gemeinde (Gal 2,9). Bei seiner letzten Reise nach Jerusalem überreicht er ihm und den Ältesten das Ergebnis der Kirchenkollekte in den heidenchristlichen Gemeinden (Apg 21,18).
Jakobus vertritt in der Urgemeinde die judenchristliche Richtung, die dem Gesetz treu bleiben wollte (Gal 2,12).
Die Überlieferung kennt ihn als einen Mann von grosser Frömmigkeit und strenger Askese, der sich aller geistigen Getränke enthielt und sich ausschliesslich von Gemüsen ernährte. Man hatte ihm den Beinamen «der Gerechte» oder auch «Burg des Volkes» gegeben und erzählte von ihm, dass er um der Sünden seines Volkes willen stundenlang betend im Tempel auf den Knien lag.
Nach dem Geschichtsschreiber Josephus liess der Hohepriester Hannas in der Zeit zwischen dem Tod des Landpflegers Festus (61—62 n. Chr.) und der Ankunft seines Nachfolgers Albinus den Jakobus vor dem Hohen Rat erscheinen, wobei er ihn «Bruder Jesu, mit dem Beinamen Christus» nannte. Er liess ihn im Jahr 62 n. Chr. steinigen, nachdem er ihn der Übertretung des Gesetzes angeklagt hatte.
Diese biblischen und altkirchlichen Aufzeichnungen lassen uns erkennen, dass Jakobus, der Bruder Jesu, der Verfasser dieser Schrift ist.
EMPFÄNGER
Die Anrede lautet: «Den 12 Stämmen, die in der Zerstreuung sind». Diese Anrede ist auf verschiedene Weise gedeutet worden. Demzufolge bezeichnet sie:
die Juden in ihrer Gesamtheit, oder
die Judenchristen, oder
die Christen in ihrer Gesamtheit, als das wahre Israel.
Aus dem ganzen Inhalt aber geht klar hervor, dass der Brief von einem Juden an Judenchristen in der Diaspora gerichtet ist. Der sehr ausgeprägte jüdische Stil und Geist des Briefes bestätigen das, sowie auch die Tatsache, dass von keinerlei heidnischen Lastern die Rede ist. Solche groben Sünden kommen bei diesen Christen nicht vor, dafür aber allerlei bösartigere, weil verborgenere Sünden: Intoleranz, Hochmut, Geldgier, usw.
Jakobus wird vielfach als der Judenapostel angesehen; da liegt es nahe, dass er als solcher den Juden einen Brief schrieb.
ABFASSUNG
Der Brief wurde in Jerusalem geschrieben, und zwar nicht später als im Jahr 62 n. Chr., dem Todesjahr des Jakobus. Über das genauere Datum gehen die Meinungen auseinander. Die Betonung, die auf den «Werken» liegt, ist als Reaktion gegen eine falsche Auffassung der paulinischen Briefe betrachtet worden. Demnach wäre der Jakobusbrief zwischen 55 und 60 entstanden. Im Gegensatz dazu neigen die besten Schriftkenner immer mehr zur Ansicht, dass der Brief bereits zwischen 44 und 49, wenn nicht noch früher, abgefasst wurde. Dafür sprechen vor allem die folgenden inneren Beweise:
Die jüdische Beschaffenheit des hier gezeichneten Christentums. Der Verfasser selbst ist kaum aus dem Judentum herausgewachsen; er ist noch ganz davon durchdrungen. Von neutestamentlicher Theologie, wie wir sie von Paulus her kennen, finden wir erst Spuren.
Das Fehlen von Streitfragen, wie sie zur Zeit des Konzils in Jerusalem (49 n. Chr.) und später an der Tagesordnung waren. Der heidenchristliche Teil der Gemeinde nimmt jedenfalls noch keine anerkannte Stellung in ihr ein, so dass auch das Judenchristentum die feindliche Haltung, die es später annehmen wird, noch nicht kennt.
Irrlehren, wie später bei den Kolossern, haben sich noch keine eingeschlichen; keine irrigen Ansichten über die Auferstehung wie in Korinth; keine Verzagtheit ob der verzögerten Wiederkunft Christi. Aus diesem Grund ist für Warnungen und Trostworte, wie sie an die Thessalonicher und einige Jahre später an die Hebräer gerichtet werden, kein Anlass.
Diese und noch andere Tatsachen lassen darauf schliessen, dass der Jakobusbrief vor dem Konzil zu Jerusalem, das heisst zwischen dem Jahr 44 und 49 n. Chr., geschrieben worden ist. Er darf somit als das früheste Schriftstück des Neuen Testaments betrachtet werden.
ECHTHEIT
Der Jakobusbrief erfreut sich im Altertum nicht so einstimmiger Zeugnisse wie andere Bücher des Neuen Testaments. Zwar finden sich Spuren von ihm bei Clemens von Rom und im Hirten des Hermas. Das Muratorische Fragment schweigt sich über ihn aus. Bei Clemens von Alexandrien findet man ihn nicht aufgezählt. Auch bei Irenaus und Tertullian, die alle übrigen Bücher aufführen, fehlt er.
Origenes ist der erste, der den Jakobusbrief erwähnt. Im Jahr 312 wird er von Eusebius von Cäsarea genannt. Er sagt, der Brief sei von den Alten wenig angeführt und doch allgemein anerkannt. In der Peschitta (4. Jahrhundert) ist er verzeichnet.
Im Lauf des 4. Jahrhunderts wird der Brief an den Konzilien zu Laodizea (Jahr 364) und Karthago (397) endgültig als kanonisch und zugleich als Werk des Jakobus, Bruder des Herrn, anerkannt.
In der Reformationszeit wird der Jakobusbrief erneut in Frage gestellt, besonders vom Standpunkt der Lehre aus. Luther vergleicht ihn mit den andern Briefen des Neuen Testaments und beurteilt ihn folgendermassen:
«Darum ist St. Jakobi eine rechte stroherne Epistel gegen sie, denn sie doch keine evangelische Art an sich hat.»
Luther war sicher damals in seinem gewaltigen Glaubenskampf gegen die Werkseligkeit der Römisch-katholischen Kirche zu einer voreiligen Ansicht gekommen und ausserstande, den Jakobusbrief mit der Lehre der Rechtfertigung aus Glauben in Einklang zu bringen. Er hat den Ausdruck «stroherne Epistel» später wieder zurückgenommen. Calvin in seinem Scharfsinn anerkennt den Brief.
ln neuerer Zeit hat die Sprache des Briefes zu Zweifeln Anlass gegeben. Er weist nämlich neben dem Hebräerbrief das reinste Griechisch auf. Der Stil ist gepflegt; es kommen sehr viele Ausdrücke vor, die sonst nirgends im Neuen Testament anzutreffen sind.
Darauf antwortet Prof. F. Barth mit dem schlichten Argument:
«Auch hier dürfen wir uns nicht anmassen, zu wissen, wieviel ein Palästinenser, es sei Jakobus oder ein anderer, sich von der griechischen Sprache aneignen konnte; der Jude lernt leicht, was er für seinen Lebenszweck als notwendig erkennt, ohne doch je im Fremden seine Eigenart zu verlieren.»
Wir wissen nicht genau, aus welchen Gründen unser Brief in den ersten zwei Jahrhunderten so wenig zitiert wird; das Wichtige ist, dass er der Kirche eine notwendige Gottesbotschaft bringt.
ZWECK UND ZIEL
Zu diesem Brief scheint kein besonderer Umstand, kein einmaliges Ereignis Anlass gegeben zu haben. Er stellt sich offensichtlich zur Aufgabe, einen Mangel an Aufrichtigkeit und Konsequenz im christlichen Alltagsleben zu bekämpfen. Der Schreiber durchschaut die Ränke des menschlichen Herzens, das sich mit dem Schein begnügt Hören ohne zu tun, den Glauben haben ohne entsprechende Werke, Gott dienen, ohne die Liebe zur Welt aufzugeben — das steht im Gegensatz zum Geist Christi. Deshalb brandmarkt der Verfasser alles, was im Leben der Christen nicht stichhaltig ist und ihrem Glauben widerspricht, und ruft sie unentwegt auf zu einem echten, tatkräftigen Christentum.
Seine Gedanken drückt Jakobus nicht in kunstvollen, folgerichtig ineinandergreifenden Sätzen aus; nach jüdischer Weise zieht er treffende Sprüche vor, deren Sinn konzentriert, deren Wirkung unmittelbar und deren Zusammenhang zwar nicht auf der Hand liegt, jedoch für jeden denkenden Leser unverkennbar ist
INHALT UND EINTEILUNG
Es ist sehr schwierig, im Jakobusbrief einen bestimmten Plan herauszuschälen. Jakobus spricht aus der Fülle seines Herzens; sein Schreiben ist deshalb eher eine Ermahnung als eine wohlaufgebaute, lehrhafte Epistel. Wir können den Brief wie folgt einteilen:
Eingang: Anschrift Jak 1,1
1. Der Glaube erweist sich in Anfechtungen Jak 1,2-18
Wenn Geduld nottut Jak 1,2-4
Bei Mangel an göttlicher Weisheit Jak 1,5-8
In Armut und Reichtum Jak 1,9-12
In allerlei Versuchungen Jak 1,13-18
2. Der Glaube erweist sich in Werken Jak 1,19 - 2,26
Nicht Hörer allein, sondern Täter des Wortes Jak 1,19-27
Nicht aufs Äussere sehen, sondern Jak 2,1-13
Gottes Gebot erfüllen
Nicht toter, sondern lebendiger Glaube Jak 2,14-26
3. Der Glaube erweist sich im Reden Jak 3,1-18
Warnung vor Zungensünden Jak 3,1-12
Ermahnung zur echten und Warnung vor der Jak 3,13-18
falschen Weisheit
4. Der Glaube erweist sich im Alltagsleben Jak 4,1 - 5,11
Warnung vor Streitigkeiten Jak 4,1-3
Warnung vor Weltsinn Jak 4,4-10
Warnung vor Richtgeist und Verleumdung Jak 4,11-12
Warnung vor vermessener Sicherheit Jak 4,13-17
Warnung vor dem Betrug des Reichtums Jak 5,1-6
Mahnung zum Ausharren bis zur Jak 5,7-11
Wiederkunft Christi
Schluss: Schlussermahnungen Jak 3,12-20
Schlüsselwort: Werke
Schlüsselvers: «Der Glaube ohne Werke ist tot» (Jak 2,26).
VERSCHIEDENES
Besondere Merkmale
Der Jakobusbrief nimmt nach Inhalt und Form eine einzigartige Stellung unter den neutestamentlichen Briefen ein. Er erinnert am ehesten an das Buch der Sprüche und des Predigers, mit denen der Verfasser sehr vertraut zu sein scheint. Jakobus macht häufige Anspielungen auf diese und eine grosse Anzahl anderer Bücher des Alten Testamentes. Ausserdem spiegelt er wie kein anderer Schreiber des Neuen Testamentes die Bergpredigt wider, so dass sein Brief oft «die zweite Bergpredigt» genannt worden ist (vgl. Jak 1,2 mit Mt 5,12; Jak 1,4 mit Mt 5,-48; Jak 1,5 mit Mt 7,7 usw.). Dagegen ist der Brief auffallend arm an ausgesprochen christlichen und geistlichen Grundbegriffen.
Die Bergpredigt im Jakobusbrief
Freude in der Anfechtung | Jak 1,2 Mt 5,10-12 |
Vollkommenheit | Jak 1,4 Mt 5,48 |
Gebetserhörung | Jak 1,5; 5,15 Mt 7,7-11 |
Demut | Jak 1,9; 4,10 Mt 5,3 |
Verurteilung des Zornes | Jak 1,20 Mt 5,22 |
Barmherzigkeit | Jak 2,13 Mt 6,14.15; 5,7 |
Tätiger Glaube | Jak 2,14-17 Mt 7,21-23 |
Friede | Jak 3,17-18 Mt 5,9 |
Weltliebe | Jak 4,4 Mt 6,24 |
Verurteilung des Richtgeistes | Jak 4,11 Mt 7,1.2 |
Vergänglichkeit des weltlichen Reichtums | Jak 5,2 Mt 6,19 |
Das Beispiel der Propheten | Jak 5,10 Mt 5,12 |
Verurteilung des Schwörens | Jak 5,12 Mt 5,33-37 |