ALLGEMEINES
Mehr als alle andern neutestamentlichen Bücher trug der Galaterbrief dazu bei, die christliche Kirche vom Joch des Judaismus, vom Ritualismus der katholischen Kirche und von allem äusserlichen Formenwesen zu befreien, das immer und immer wieder den geistigen Gehalt und die Freiheit des Evangeliums gefährdet hat. Luther schöpfte seine Durchschlagskraft in erster Linie aus dem Galaterbrief. Es war sein Lieblingsbrief; er nannte ihn sogar seine Braut, seine «Katharina von Bora».
Die Galater waren Nachkommen von Galliern, die sich nach verschiedenen Wanderungen gegen das 3. Jahrhundert v. Chr. endgültig in Galatien niedergelassen hatten. Von Südgallien herkommend, hatten sie die südlichen Teile Europas durchquert, waren in Byzanz angelangt und hatten sich nach Überquerung des Hellesponts in den Dienst des Königs von Bithynien begeben. Später wurden sie vom König von Pergamos besiegt, der ihnen dann das schöne Gebiet zuwies, das südlich an Pisidien und Lykaonien, östlich an Kappadozien, nördlich an Pontus und Bithynien und westlich an Phrygien grenzte.
Die drei wichtigsten Städte Galatiens waren Ancyra, Tavium und Pessinus. Eine zahlreiche und begüterte jüdische Kolonie hatte sich in Galatien festgesetzt. Davon zeugt ein noch heute bestehendes Dokument: das «Monumentum Ancyranum», eine Tafel aus Erz mit einer griechischen Inschrift, die in einem Mauerstück des Augustus-Tempels in Ancyra erhalten blieb. Aus dem Inhalt dieser Inschrift geht hervor, dass die Juden dieser Gegend eine grosse Freiheit genossen. Galatien war vom Jahr 189 v. Chr. an den Römern untertan und wurde ums Jahr 25 v. Chr. zur römischen Provinz.
VERFASSER
Der Brief selbst gibt uns zahlreiche Anhaltspunkte. Der Verfasser nennt sich gleich zu Beginn des Briefes (Gal 1,1) «Paulus, der Apostel», und in Gal 5,2 «Ich, Paulus».
Die zahlreichen persönlichen Einzelheiten können sich auf niemand anders als Paulus beziehen (z. B. Gal 1,11 - 2,10).
Der Verfasser betrachtet sich als geistigen Vater der Galaterchristen (Gal 1,6.11; 4,13-19), ein Vorrecht, das nur Paulus für sich beanspruchen durfte.
Die Rechtfertigung durch den Glauben, Hauptthema des Briefes, ist das Lieblingsthema des Paulus.
Die biblischen Beweise werden durch die Überlieferung bestätigt, die einstimmig Paulus als Verfasser dieses Briefes betrachtet.
EMPFÄNGER
Sie sind in den Eingangsworten bezeichnet: «An die Gemeinden zu Galatien» (Gal 1,2). Man nimmt im allgemeinen an, dass damit die Gemeinden im Norden der Provinz gemeint sind. Diese wurden von Paulus gegründet, als er das galatische Gebiet zu Beginn seiner
2. und 3. Missionsreise durchquerte (Apg 16,6; 18,23).
ABFASSUNG
Die Unterlagen, auf die wir uns stützen können, sind folgende:
Der Abschnitt Gal 4,13: «Ihr wisst vielmehr, dass ich euch das erstemal, veranlasst durch leibliche Schwachheit, das Evangelium gepredigt habe», lässt vermuten, dass sich Paulus, bevor er diesen Brief schrieb, zweimal in Galatien aufgehalten hat, was sich auf die in Apg 16,6; 18,23 erwähnten Besuche beziehen muss. Der erste Besuch fand während der ersten Missionsreise statt (Apg 16,6) und der zweite am Anfang der 3. Missionsreise, das heisst im Jahr 52 n. Chr.
Gal 1,6 wo Paulus ausruft: «Mich wundert, dass ihr euch so bald abwenden lasst..beweist, dass die Galater sehr bald nach dem zweiten Besuch des Paulus im Glauben irregegangen sein müssen.
Diese Überlegungen erlauben uns festzustellen, dass der Galaterbrief zu Beginn des Jahres 34 n. Chr. geschrieben worden sein muss, und zwar während des Aufenthalts Paulus’ in Ephesus (Apg 18,23-24; 19,1).(Apg 18,23-24; 19,1).
ECHTHEIT
Die zahlreichen Zitate in den Schriften der ersten zwei Jahrhunderte beweisen zur Genüge, dass die Echtheit des Briefes von allen zeitgenössischen Zeugen anerkannt wurde. Hier nur die wichtigsten Beispiele:
Polykarp führt wörtlich einige Stellen wie Gal 6,7; 4,26 an. Justin der Märtyrer zitiert Gal 3,10-13; 4,27. Marcion besass (um 140) den Galaterbrief in seiner Sammlung der Paulusbriefe; er nannte ihn sogar den grundlegenden Brief gegen den Judaismus. Das Muralorische Pragment weist eine vollständige Liste der paulinischen Briefe auf, einschliesslich des Galaterbriefes.
Diese und andere äussere Zeugnisse sind zu schwerwiegend, als dass sie irgendeinen Zweifel an der Echtheit dieses Briefes aufkommen Hessen. Das einstimmige Zeugnis des christlichen Altertums bestätigt sie.
Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Echtheit des Galaterbriefes von Baur und den holländischen Theologen Loman und Pirson sowie dem Schweizer Steck in Frage gestellt. Diese Kritiker behaupten,
der Verfasser habe im Gegensatz zum gemässigten Paulus der Apostelgeschichte einen radikalen Paulus aufstellen wollen, der das Judenchristentum ein für allemal erledigen sollte, und habe unter Beiziehung verschiedener Abschnitte des Römerbriefes und der Korintherbriefe ums Jahr 120 den Galaterbrief zusammengesetzt.
Dieses Argument hält keineswegs stand; denn wir wissen aus der Apostelgeschichte, dass das Problem des Judenchristentums das Hauptthema des Konzils zu Jerusalem bildete und folglich die Kirche des 1. Jahrhunderts schon stark beschäftigte. Im 2. Jahrhundert scheint diese Frage kaum mehr von Wichtigkeit zu sein, weil weder in den Schreiben des Barnabas noch in den klementinischen Homelien, die Paulus sonst sehr anfechten, über dieses Thema geredet wird. Überall werden unbeschnittene Heiden widerspruchslos in die christliche Gemeinde aufgenommen. Und nun sollte gerade zu jener Zeit ein Schreiben entstanden sein, das vorgibt, endlich die Lösung des judenchristlichen Problems gefunden zu haben?!
Die zweite Kritik stammt von Steck:
Er hebt die Ähnlichkeit mit dem Römerbrief hervor. Das Material, aus dem der Galaterbrief zusammengesetzt ist, bestehe aus entlehnten Steinen von einem andern Gebäude, wo sie am rechten Platz waren! Im neuen Gebäude hingegen seien Lücken und ein Mangel an Zusammenhang bemerkbar.
Diese Theorie ist nicht schwer zu widerlegen durch den einfachen Umstand, dass Paulus ja in den beiden Episteln das gleiche Thema behandelt: die Rechtfertigung durch den Glauben.
Eine dritte Kritik stammt ebenfalls von Steck und bezieht sich auf den Satz:
«Seht, mit wie grossen Buchstaben ich euch mit meiner eigenen Hand schreibe!» (Gal 6,11).
Er sieht in diesen Worten einen Beweis der Unechtheit, da der Verfasser gezwungen gewesen sei, zu diesem Mittel zu greifen im Bemühen, die Echtheit seines Schreibens glaubhaft zu machen! In diesem Fall wäre das Vorgehen des Schreibers wirklich ungewöhnlicher Art, und Prof. F. Godet behielte recht mit seiner Schlussfolgerung: «Das würde schon an Schamlosigkeit grenzen.»
ZWECK UND ZIEL
Der Zweck des Briefes ist klar ersichtlich. Paulus gibt vor allem seiner Verwunderung und seinem lebhaften Schmerz Ausdruck, dass die Galater sich so schnell von ihm und damit auch von seinem Evangelium abgewandt haben (Gal 1,6-7). Nach einer kräftigen Richtigstellung der Einschätzung seines Apostelamtes und seines Dienstes, die von seinen Gegnern als menschlichen Ursprungs und unzulänglich bezeichnet wurden (Gal 1,11 - 2,14), greift er unverzüglich die Irrlehrer an und zeigt, dass allein die Verkündigung des Heils durch den Glauben zur Errettung führen kann, und nicht das Halten von jüdischen Satzungen wie Beschneidung, Sabbat usw. Das grosse Ziel seines Briefes ist, die Galaterchristen zur wahren Erkenntnis zurückzurufen und sie in ihrer Gotteskindschaft, die sie durch den Glauben allein empfangen haben, zu befestigen
(Gal 3,11-13.24-26 usw.).
INHALT UND EINTEILUNG
Einleitung Kap. 1,1—10
Anrede und Segensgruss Gal 1,1-5
Tadel des Wankelmuts der Galater Gal 1,6-10
1. Paulus erweist sich als wahrer Apostel Jesu Christi Gal 1,11 - 2,21
Göttliche Herkunft seines Apostelamts Gal 1,11-24
Anerkennung durch die Urapostel in Jerusalem Gal 2,1-10
Verteidigung seines Apostelamts bei Petrus Gal 2,11-21
2. Paulus verkündet das wahre Evangelium von Jesus Christus
Gal 3,1-18
Persönliche Erfahrung der Galater Gal 3,1-5
(Empfang des Geistes)
Abrahams Glaubensgerechtigkeit (als Vorbild) Gal 3,6-14
Die Verheissung besteht unabhängig vom Gesetz Gal 3,15-18
3. Die Stellung des Gesetzes in Gottes Haushalt Gal 3,19 - 4,31
Der Zweck des Gesetzes (Erzieher auf Christus hin) Gal 3,19-29
Die Knechtschaft des Gesetzes Gal 4,1-7
(die Sohnschaft durch Gnade)
Der Rückfall der Galater (durch das Formenwesen) Gal 4,8-20
Gesetz oder Glaube (Ismael und Isaak) Gal 4,21-31
4. Sittliche Folgen der Rechtfertigung durch den Glauben
Gal 5,1 - 6,10
Die Tatsache der Freiheit (Stehet fest darin!) Gal 5,1-12
Die Betätigung der Freiheit durch Nächstenliebe Gal 5,13-26
Die Frucht der Freiheit: gegenseitiges Sichtragen Gal 6,1-10
Schluss Gal 6,11-18
Christi Kreuz ist des Paulus letzter Ruhm. Gal 6,11-17
Die Gnade sei mit euch allen. Gal 6,18
Schlüsselwort: Freiheit
Schlüsselvers: «Zur Freiheit hat Christus uns freigemacht. Stehet also fest und lasst euch nicht wieder in das Joch der Knechtschaft spannen!» (Gal 5,1).
VERSCHIEDENES
Die Aktualität des Buches
Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob der Galaterbrief mit seinen Diskussionen über Gesetz und Gnade, Knechtschaft und Freiheit von geringem Interesse für uns sei. Heute denkt doch keiner daran, sich dem Volk Israel anzuschliessen, um gerettet zu werden! Niemand betrachtet die Beschneidung als unerlässlich, um das Heil zu erlangen! Doch der tiefste Grund des Irrtums bleibt bestehen. Gibt es nicht auch heutzutage viele Menschen, die sich weigern, ohne Umwege zu Christus zu gehen?
Sie suchen sich zu überzeugen, dass ihre guten Werke sie von ihren Sünden rechtfertigen und sie befähigen, würdig vor Gott zu erscheinen.
Sie bauen auf eine unbestimmte Vorstellung des göttlichen Erbarmens.
Sie glauben an die unbedingte Notwendigkeit der Sakramente, um das Heil zu erlangen (Römisch-katholische Kirche: die Taufe usw.; Neuapostolische Kirche: die Versiegelung usw.).
Sie glauben an die Notwendigkeit der Beobachtung des Sabbats (Adventisten).
Solche der Bibel widersprechenden Meinungen beherrschen viele Gemüter, so dass das Studium des Galaterbriefes keine verlorene Zeit darstellt.
Merkmale
Der strenge und ernste Ton des Paulus.
Ganz gegen seine Gewohnheit beginnt er den Brief ohne ein Wort des Lobes oder der Danksagung und bittet nicht um die Fürbitte der Gläubigen.
Die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben ist mit dringenderem Ernst als in irgendeinem anderen paulinischen Schreiben dargestellt.
Der Brief ist in der eigenen Handschrift des Paulus zu den Galatern gelangt, ein äusserer Umstand, der das Gewissen der Leser tief berühren musste (Gal 6,11).