ALLGEMEINES
Das Hohelied wird auch das Lied der Lieder genannt. Es wurde am 8. Tage des Passahfestes vorgelesen und sollte an den Liebesbund erinnern, den Jahwe in Ägypten mit dem Volk Israel geschlossen hatte. Das Buch des Predigers handelt von Anfang bis Ende von der Eitelkeit: «Das ist auch eitel und Haschen nach Wind». Es zeigt, dass irdischer Glanz und Gewinn eitel sind und nicht glücklich machen. Das Hohelied hingegen beweist, dass die Menschenseele alles finden kann «in dem Geliebten» (Leider übersetzt Luther «Geliebter» immer mit «Freund»; fast alle andern Übersetzungen haben den Ausdruck «Geliebter».). Der «Prediger» illustriert die erste und das «Hohelied» die zweite Hälfte des Heilandswortes:
«Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten» (Joh 4,13-14).
Es gibt in der Hauptsache drei verschiedene Auslegungen dieses Buches. Die ersten zwei sehen in Salomo und dem Geliebten (oder dem Hirten) eine und dieselbe Person. Und zwar sind die Beziehungen zwischen Salomo und der Sulamithin nach der einen Auffassung als rein irdische, vergängliche Liebe zu betrachten, während die zweite Anschauung in diesem Liebesverhältnis einen ausschliesslich symbolischen, geistlichen Sinn erkennt. Die dritte Auslegung, zu der wir neigen und die z. B. Prof. F. Godet teilt, erkennt in Salomo und dem Geliebten zwei verschiedene Personen. Dies führt zu nachfolgendem Verständnis der Vorgänge.
ZEITABSCHNITT UND GESCHICHTLICHER HINTERGRUND
Die Geschichte der Sulamithin fällt in die Glanzzeit Salomos. Die Sulamithin ist die Braut eines Hirten im Norden des Landes. Sie wird eines Tages von den Hofleuten Salomos in dessen Harem geführt, wo Salomo alles tut, um ihre Liebe zu gewinnen. Die Sulamithin lässt sich aber von all dem Pomp und der Gunst Salomos nicht beeindrucken. Jedesmal, wenn der König um sie wirbt, redet sie von ihrem Geliebten, dem Hirten. Oft fällt sie in Verzückung und spricht dann in ihren Visionen von ihrem Geliebten.
VERFASSER
Die Überlieferung lautet dahin, dass Salomo der Verfasser des Buches ist. Das Buch fängt auch an mit den Worten: «Das Hohe Lied Salomos». Wer anders hätte so gut diese wunderbare Poesie der Liebe schreiben können als gerade Salomo, der so viel Sinn für Kunst und Poesie und eine so tiefe Erkenntnis der menschlichen Natur besass? Nach 1. Könige 5,12 wissen wir, dass Salomo über tausend Lieder gedichtet hat.
BOTSCHAFT
Obwohl das Hohelied unseres Erachtens einen geschichtlichen Hintergrund hat, wäre es falsch, darin nur eine Liebesgeschichte zu sehen. Vielmehr ist in diesem Buch in symbolischer Sprache eine tiefe Botschaft enthalten. Diese Botschaft lautet: Der Liebesbund zwischen Gott und seinem Volk kann allen Bemühungen des Versuchers zum Trotz nicht gebrochen werden, solange die Flamme der Liebe in Gottes Volk eine unverbrüchliche Treue wirkt. Für Einzelheiten siehe «Typologie».
EINTEILUNG
Wir teilen das Hohelied in drei Akte ein:
1. Akt (Hohelied 1-3,5): Festgehalten im königlichen Palast
1. Szene: Hld 1,1-7. Im Harem Salomos.
Ein Chor junger Mädchen singt von der Grösse des Königs und preist die auserwählte Sulamithin glücklich. Sie verrät den Töchtern ihre Herkunft und bekennt ihre Untreue im Hüten des ihr anvertrauten Weinbergs. Dann teilt sie ihnen mit, dass sie mit einem Hirten verlobt ist (Hld 1,6-7).
2. Szene: Hld 1,8—2, 7. Dialog zwischen Salomo und der Sulamithin.
Auf seine Lockungen erwidert sie: «Aber mein Freund...» Den
ersten Versuchungen widersteht sie glücklich.
3. Szene: Hld 2,8-17. Erste Verzückung.
Die Sulamithin fällt in Ekstase und hat eine Vision ihres Geliebten. Sie sieht ihn, wie er sich am frühen Morgen aufmacht.
4. Szene: Hld 3,1—5- Zweite Verzückung.
Die Sulamithin hat eine neue Vision: sie sucht ihren Geliebten am Abend.
2. Akt (Hld 3,6 - 8,4): Versuchungen und Treue im königlichen
Palast
1. Szene: Hld 3,6-11. Salomo bereitet sich auf die Hochzeit vor.
Die Sulamithin soll auf den Thron erhoben werden und als erste Königin über Israel regieren (Hld 6,8-9).
2. Szene: Hld 4,1 - 5,1. Dialog zwischen Salomo und der Sulamithin.
Die Versuchungen und Lockungen werden immer stärker.
3. Szene: Hld 3,2 - 6,3. Dritte Verzückung.
Im Moment, da Salomo die Sulamithin zu überführen glaubt, gerät sie wieder in Verzückung: «Ich schlafe, aber mein Herz wacht. Da hörte ich die Stimme meines Freundes» (Hld 5,2).
4. Szene: Hld 6,4 - 8,4. Letzter Dialog zwischen Salomo und der
Sulamithin.
Salomo versucht sie mit allen Mitteln zu gewinnen. Die Versuchung steigert sich (Hld 4-9)- Er will sie mit aller Gewalt an sich ziehen und ruft: «Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith...» (Hld 7,1), worauf sie antwortet: «.Mein Freund ist mein, und nach mir steht sein Verlangen» (Hld 7,11 - 8,3).
3. Akt (Hld 8,3-14): Der Triumph der Liebe
1. Szene:Hld 8,3-7. Die Vereinigung der Sulamithin mit ihrem
Geliebten.
Die Liebe hat gesiegt; sie ist stärker als der Tod, eine Flamme Jahwes (Hld 8,6-7).
2. Szene: Hld 8,8-10. Besorgnis betreffs der jüngeren Schwester.
Die befreite Sulamithin spricht ihrer jungen Schwester zu und ermahnt sie, treu zu sein, wenn auch sie einst in Versuchung kommen sollte.
3. Szene: Hld 8,11-12. Rückblick.
Noch einmal blickt die Sulamithin zurück und sieht im Geist den König Salomo. Sie sagt ihm: Mein Weinberg ist vor mir; ich verzichte auf deine Weinberge.
4. Szene: Hld 8,13-14- Einzige Bitte des Geliebten.
Der Bräutigam bittet um ein Lied der Braut: «Lass mich deine Stimme hören»; dann verschwindet er wieder in die Würzberge, wohin die Sulamithin ihm bald folgen wird.
Schlüsselwort: Liebe
TYPOLOGIE
Der Hirte oder Geliebte
ist Jahwe selbst. Bei dieser Person ist der Vergleich am offensichtlichsten. Der Hirte erscheint nur in den Visionen der Sulamithin (Hld 2,16; 6,3). Erst am Ende zeigt er sich einen Augenblick, um die Stimme seiner Geliebten zu hören; dann verschwindet er wieder (Hld 8,13).
Israels Ideal ist nicht eine Idee, sondern eine Person: Jahwe, der da ist und der da war. Es ist der heilige Gott, der sich immer wieder der Welt offenbart, bis er schliesslich in Christus (Menschwerdung) sich für eine kleine Weile zeigt. Dieser Hirte weidet seine Herde in den himmlischen Örtern, hoch über allem Schmutz und Tand der Welt (Hld 2,16; 6,2-3).
Heute ist dieser Liebesbund zwischen Jahwe und seinem Volk durch einen neuen Bund ersetzt, nämlich den Bund mit dem neutestamentlichen Bundesvolk, der Gemeinde Jesu Christi. Christus ist unser Geliebter, unser treuer Hirte, der seine Gemeinde so liebte, dass er sich für sie dahingab. Er ist es, der unser Leben erfüllt; er ist es, dem wir unsere ganze Liebe und Treue schenken.
Die Sulamithin
Die ganze Schönheit und Grösse der Sulamithin zeigt sich in ihrer Treue ihrem Geliebten, dem Hirten, gegenüber. Ihre Geschichte ist, wie wir schon am Anfang sagten, folgende:
Sie hatte einen Weinberg zu betreuen, den sie aber nicht treu hütete (Hld 1,6). Durch ihre Unvorsichtigkeit geriet sie auf die Landstrasse, und zwar mitten zwischen die Wagen und Kriegsleute Salomos
(Hld 6,12). Diese führten sie fort in den Harem Salomos (Hld 1,1-4), wo sie erst richtig zur Besinnung kam und die Gefahr erkannte, in der sie sich befand. Alle Forderungen und Lockungen des Königs Salomo prallten an dem harten Widersund ab, den sie seinem Einfluss entgegenstellte. Sie blieb in jeder Lage siegreich; die grosse Liebe zu ihrem Hirten war das Geheimnis ihrer inneren Kraft
(Hld 8,6-7).
Diese Sulamithin stellt das Volk Israel dar, im neuen Bund die Gemeinde Jesu Christi. Salomo beschreibt die Sulamithin als lieblich und geschmückt (Hld 1,10-12; 4,1 usw.), als vollkommen (Hld 4,7), als herrlich und schön (Hld 1,15), als die allerliebste Braut (Hld 4,9-12).
Im Epheserbrief (Eph 5,22-33) finden wir das vollkommene Bild dieser Gemeinde, die Christus einst aus der Welt, wo sie umgeben ist von allerlei Versuchung und Not, heimführen wird als eine Gemeinde, die herrlich ist, ohne Flecken und Runzeln, heilig und unsträflich.
Salomo
der König, personifiziert hier das irdische Königtum Israels, das im Gegensatz steht zu der himmlischen Souveränität Jahwes, der der unsichtbare Monarch des erwählten Volkes ist.
1Sam 8,7: «Nicht dich, Samuel, haben sie verworfen, sondern mich, dass ich nicht mehr ihr König sei.»
Salomo ist also hier das Symbol des Fürsten dieser Welt, der irdischen Macht. Diese versucht mit allen möglichen Mitteln, die Gemeinde Jesu Christi zur Untreue zu verleiten. Deshalb steht die Gemeinde in einem dauernden Kampf mit dem Fürsten dieser Welt; sie wird siegen im Aufblick zu ihrem Geliebten, Christus.
BESONDERE MERKMALE
Das Buch wird im Alten wie im Neuen Testament nie zitiert.
Der Name Gottes ist nirgends genannt.