ALLGEMEINES
Daniel bedeutet «Gott ist mein Richter» oder «Gott wird, richten». Daniel war vornehmer, vielleicht gar königlicher Herkunft
(Dan 1,3-6). Er wurde zwischen 630 und 625 v. Chr. zu Jerusalem geboren, zur Zeit, da der junge König Josias Juda und Jerusalem von den Höhenaltären und Götzenbildern zu reinigen begann
(2Chr 34,3). Kurz darauf wurde das Buch des Gesetzes wieder aufgefunden, Josias verschärfte noch seine Reformen und sorgte für die Wiedereinführung des Passahfestes. Sicher wurde der junge Daniel von diesen Ereignissen stark beeindruckt. Wahrscheinlich stand er auch unter dem Einfluss der Propheten Jeremia und Zephanja.
Im Alter von kaum 20 Jahren wurde Daniel mit andern jungen Edlen von den Truppen Nebukadnezars nach Babylon abgeführt. Aus
Dan 1,4 geht hervor, dass er zuvor eine besonders gute Ausbildung erhalten hatte, dass er reich begabt und schön war. In Babylon wurde er nun im Laufe von drei Studienjahren in die Sprache und Literatur der Chaldäer eingeführt. Schon zu dieser Zeit besass er eine besondere Gabe, Träume und Visionen zu deuten (Dan 1,17).
Unter der Regierung Nebukadnezars (605—562) hatte Daniel einen der ersten Posten des Reiches inne, und zwar von dem Augenblick an, da ihm der Traum von dem grossen Standbild und dessen Bedeutung geoffenbart worden war.
Unter der Herrschaft der nächsten Könige (in dem Buch nicht genannt) scheint Daniel mehr oder weniger vergessen worden zu sein. Das wäre nicht erstaunlich; denn Evil-Merodach, der Sohn Nebukadnezars, wurde nach zwei Jahren von seinem Schwager Neriglissor ermordet, der dann selbst bloss vier Jahre regierte und dessen Sohn Laborosoarkod seinerseits nach neun Monaten ermordet wurde. Die Mörder ersetzten ihn durch Naboned, einen Enkel Nebukadnezars, der von 556—539 regierte.
Während der letzten Regierungsjahre Naboneds scheint dessen Sohn Belsazar als stellvertretender (Vize-)König regiert zu haben, wahrscheinlich weil Naboned selbst sich im Krieg gegen Cyrus befand.
Unter der kurzen Regierung Darius des Meders bekleidete Daniel wiederum eine ehrenvolle Stellung; wir sehen ihn als einen der drei ersten Minister des Reiches. Sehr wahrscheinlich beeinflusste er die Entscheidung des Cyrus (Kores), den Juden die Rückkehr in ihre Heimat, den Wiederaufbau des Tempels und die Mitnahme der heiligen Geräte zu gestatten, die Nebukadnezar entführt und Belsazar entweiht hatte. Es ist anzunehmen, dass Daniel dem König die Prophezeiungen Jeremias vorgelesen hat und dass diese ihm einen grossen Eindruck machten; denn wir wissen, dass Cyrus den religiösen Auffassungen der verschiedenen Völker sehr ehrerbietig gegenüberstand. Der Erlass des Cyrus war eine Erhörung der Gebete Daniels und die Krönung seiner Laufbahn. Er muss damals 90 bis 95 Jahre alt gewesen sein.
ZEITABSCHNITT
Der geschichtliche Rahmen ist in den Einleitungen zu den Propheten Jeremia und Hesekiel angegeben (siehe Zeitabschnitt). Hier sei nur die Zeitdauer genannt, während der Daniel in königlichen Diensten in Babylon stand: von Nebukadnezar (605—562) bis zum dritten Jahr des Perserkönigs Cyrus (539—530), das heisst ungefähr siebzig Jahre (605—536 v. Chr.).
VERFASSER
Der Name des Verfassers ist im Buch selbs( nicht angegeben. Im allgemeinen schreibt die Überlieferung die Abfassung Daniel zu. Doch ist zu beachten, dass er in den ersten sechs Kapiteln stets in der Drittperson genannt ist. Anders verhält es sich mit dem zweiten Teil, der Daniels eigene Worte wiedergibt (Dan 7,2 und 10,2).
Ausserdem fällt die grosse Einheitlichkeit des Buches auf, und dies trotz dem Gebrauch zweier Sprachen (Dan 1-2,4; 8-12 hebräisch;
Dan 2,5 - 7,28 aramäisch). Es ist also anzunehmen, dass das Buch, wenn nicht von Daniel selbst, so doch zu Lebzeiten und unter Mitwirkung des Propheten geschrieben wurde.
Was die Echtheit des Buches anbetrifft, gehört der Prophet Daniel zu jenen Büchern der Bibel, die am meisten von sich reden gemacht haben. Über 2000 Jahre hindurch galt dieses Buch als unumstrittene Autorität, zuerst bei den Israeliten, später bei den Christen. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, und hauptsächlich im
19. Jahrhundert, wurde es plötzlich von allen Seiten kritisiert und seine Echtheit bezweifelt. Um der Wichtigkeit der Sache willen wollen wir ganz kurz die bedeutendsten Argumente aufgreifen und zu beantworten suchen.
Belsazar. Weil sein Name in der ausserbiblischen Literatur unbekannt war, hat man seine Existenz geleugnet. Heute wissen wir (durch aufgefundene Tafeln), dass Naboned, Sohn des Schwiegersohnes von Nebukadnezar, einen Sohn Belsazar hatte, der wahrscheinlich seinen Vater in der Regierung vertrat. Das würde erklären, warum Belsazar Daniel den dritten Platz im Reich anbot — er selbst hatte eben den zweiten inne. Nach der Naboned-Cyruschronik wurde Belsazar mit der selbständigen Leitung militärischer Operationen betraut und regierte seit 553 als Mitregent seines Vaters Naboned. Darius, der Meder. Aus dem gleichen Grunde nicht anerkannt (siehe oben). Da frühere Herrscher oft unter verschiedenen Namen bekannt waren und die Geschichte des Darius ganz mit derjenigen eines Kyaxares II übereinstimmt, dürfte es sich um ein und dieselbe Person handeln. Er scheint ein Verwandter des grossen Cyrus, Besieger des babylonischen Reiches, gewesen zu sein und die Hauptstadt für ihn eingenommen zu haben, wo er dann von Cyrus als Statthalter mit königlicher Würde eingesetzt wurde.
Die Prophezeiungen in Dan 11 seien zu genau und ausführlich, um nicht einfach eine spätere geschichtliche Zusammenfassung zu sein, die man als angebliche Vision Daniels hingestellt habe. Die erste Kritik dieser Art stammt von dem Neuplatoniker Porphyrius
(gestorben 304) im 12. Buch seiner Schrift gegen das Christentum. Dort stellt er die Behauptung auf, das Buch Daniel stamme nicht von Daniel, sondern von einem Juden aus der Zeit des Antiochus Epiphanes. Der Verfasser habe nun einfach dem Buch Daniel diese geschichtlichen Tatsachen beigefügt. Es handle sich also gar nicht um Weissagungen, sondern um vergangene Geschichte. So fing die ganze diesbezügliche Kritik an. Dieser Vorwurf ist der grösste, der unserem Buch gemacht wird. Ja, wir wissen, diese Weissagungen sind einzigartig. Aber wer sind wir, um Gott vorzuschreiben, was und wieviel er Voraussagen könne und dürfe? Gerade weil mehrere Prophezeiungen Daniels sich schon buchstäblich erfüllt haben, weiss unser Glaube, dass wir im ganzen übrigen Buch festen Boden unter den Füssen haben.
BOTSCHAFT
Während die andern Propheten hauptsächlich Erweckungsreden hielten, sind die Daniel geschenkten Offenbarungen historischer Art und beleuchten mit einzigartiger Klarheit die zukünftigen weltgeschichtlichen Führungen Gottes.
Es ist Daniel gegeben, den Aufstieg und Zerfall von Weltreichen vorauszusehen, die durch den schliesslichen Triumph eines göttlichen, ewigen Reiches endgültig vernichtet werden
(Dan 2,37-45; 7,17-27). Nicht nur die allernächste, sondern auch die entfernteste Zukunft rollt sich vor Daniels Auge ab, zeigt er doch den Endsieg dessen an, der auf Wolken kommt (Dan 7,13).
Was also die Botschaft Daniels kennzeichnet, ist die Verherrlichung Gottes in der Geschichte, seine Herrschaft über alle menschliche Macht und die unaufhaltbare Ausführung seines Heilsplanes.
EINTEILUNG
Historischer Teil Dan 1-6
Daniels Ausbildung Dan 1
Bildsäule (Traum) Dan 2
Der Feuerofen Dan 3
Der grosse Baum (Traum) Dan 4
Belsazars Gastmahl Dan 5
Daniel in der Löwengrube Dan 6
Prophetischer Teil Dan 7-12
Die vier Tiere und der Menschensohn Dan 7
Der Widder und der Ziegenbock Dan 8
Daniels Gebet; Vision der 70 Wochen Dan 9
Fasten und Engelerscheinung Dan 10
Gottes Volk zwischen den streitenden Nationen Dan 11
Die Errettung in der Endzeit Dan 12
Schlüsselwort: Gottesherrschaft
SYMBOLIK
Hier seien nur die zwei wichtigsten symbolischen Gesichte erwähnt:
Die grosse Bildsäule Dan 2
Goldenes Haupt | Babylonisches Reich |
Silberne Brust | Medo-persisches Reich |
Eherner Leib | Griechisches Reich |
Eiserne Beine | Römisches Reich |
Füsse aus Ton und Eisen | Die wichtigsten Reiche nach Rom |
Kleiner Stein | Das zukünftige Gottesreich |
Die vier Piere und der Menschensohn Dan 7
Löwe | Babylonisches Weltreich |
Bär | Medo-persisches Reich |
Panther | Griechisches Reich — die vier Köpfe = die Generäle: Ptolemäus, Seleukus, Kassander und Lysimachus |
Kleines Horn | Antiochus Epiphanes (Antichrist) |
usw. |
VERSCHIEDENES
Daniel personifiziert
den Triumph des Glaubens über die Götzendienerei;
den Triumph der Treue inmitten der Versuchungen;
den Triumph der Weisheit über die Zauberei;
den Triumph der Geistesmacht über die brutalen Mächte.
Daniel ist nicht wie ein Jesaja, Jeremia oder Hesekiel der Hirte seines Volkes gewesen; er ist vielmehr (neben seiner Laufbahn als Staatsmann) der Prophet des heidnischen Königshofes, so wie Hesekiel der Emigrantenprophet ist.
Die Stellung des Buches im Kanon
Das Buch steht in der hebräischen Bibel nicht unter den Propheten, sondern zwischen Esther und Esra. Die Ursache ist nicht, wie die Gegner seiner Echtheit behaupten, dass das Buch lange nach der Sammlung der Propheten geschrieben worden wäre. Den wahren Grund wissen wir nicht genau. Die talmudische Überlieferung sagt ausdrücklich: «Daniel war kein Prophet, selbst wenn man ihn mit den letzten drei Propheten vergleicht, aber dafür war Daniel ein Apokalyptiker (Seher), was jene nicht waren.»
Es ist gut möglich, dass die Einteilung ursprünglich anders war, denn die altgriechische Übersetzung führt Daniel mit den Propheten auf. Die Ausscheidung Daniels aus der Klasse der Propheten scheint erst in späterer Zeit auf Grund der rabbinischen Unterscheidung zwischen Propheten im eigentlichen Sinne und Sehern, zu denen man Daniel rechnete, erfolgt zu sein.