ALLGEMEINES
Das vierte Evangelium nimmt sicher im Leben und Herzen eines jeden Gläubigen einen ganz besonderen Platz ein. Das ist nicht erst in der Gegenwart der Fall. Lauschen wir dem Zeugnis einiger hervorragender Christen der Veigangenheit:
Clemens von Alexandrien nennt unser Evangelium das recht eigentliche geistliche Evangelium. Origenes weist zuerst den Evangelien den ersten Platz unter den heiligen Schriften an, dann dem vierten Evangelium den ersten Platz unter den Evangelien. Schliesslich fügt er eine Bemerkung bei, die manchen Ausleger erschreckt haben mag; denn er sagt:
«Um das Evangelium recht zu verstehen, muss man selbst, wie sein Verfasser, an der Brust Jesu geruht haben!»
Augustinus führt diesen Gedanken weiter aus, wenn er sagt, dass Johannes uns öffentlich in reichem Masse das «Wasser des Lebens» zufliessen lässt, das er im Verborgenen an der Brust Jesu geschöpft hat.
Luther gelangt bei einem Vergleich des 4. Evangeliums mit den Synoptikern zum Schluss:
«Das ist das wahre, rechte Hauptevangelium, einzigartig und fein, und es ist den anderen bei weitem vorzuziehen und überlegen.»
«Das Herz Christi selbst ist dieses Evangelium», ruft Ernesti aus; «ein Engel hat es geschrieben», behauptet Herder.
VERFASSER
Der Verfasser selbst nennt seinen Namen nicht. Wenn er von sich spricht, nennt er sich meistens «den Jünger, welchen Jesus liebhatte» (Joh 13,23; 19,26; 20,2; 21,7.20). Dieser liegt beim letzten Mahl bei Tisch an Jesu rechter Seite, «im Schoss Jesu», wie es 13,23 im Urtext wörtlich heisst. Er ist es, dem der Gekreuzigte seine Mutter anbefiehlt und der mit seinem Gefährten Petrus durch Maria Magdalena von der Auferstehung Jesu erfährt. Der Verfasser behauptet, ein Augenzeuge des Geschriebenen zu sein (Joh 1,14 und 19,35), und macht auch eine Reihe von genauen Angaben, die nur von einem solchen stammen können (Joh 1,39; 4,6.40; 10,22; 19,14). Auffällig ist dabei, dass der Zebedäus-Sohn Johannes nie mit Namen erwähnt ist, nicht einmal sein Bruder Jakobus und der vertraute engere Jüngerkreis. Hingegen treten eine Reihe von andern Jüngern, die in den Synoptikern nur in den Apostelverzeichnissen Vorkommen, hier redend und handelnd auf:
Philippus Joh 1,43; 6,5-7; 12,20-22; 14,8;
Thomas Joh 11,16; 14,5; 20,24-29;
Bartholomäus oder Nathanael Joh 1,45; 21,2;
Andreas Joh 1,40; 6,8; 12,22.
Abschliessend können wir feststellen, dass das Selbstzeugnis des ungenannten Verfassers unzweideutig auf Johannes, den Bruder des Jakobus, hinweist. Zebedäus und Salome waren seine Eltern. Er wurde in Bethsaida am See Genezareth geboren. Hier betrieb sein Vater das Fischergewerbe. Die Eltern des Johannes scheinen übrigens nicht gerade arm gewesen zu sein, da sie Arbeiter beschäftigten (Mk 1,19-20), und die Bekanntschaft mit dem Hohenpriester (Joh 18,15) deutet auf ein gewisses Ansehen der Familie hin. Im Jahr 44 wird Jakobus, Bruder des Johannes, in Jerusalem enthauptet. Die Verfolgung dehnt sich aus, und einige Jahre später finden wir Johannes selbst in Ephesus. Sehr wahrscheinlich bekleidete er eine allgemein anerkannte Stellung in den Gemeinden Kleinasiens. Das zeigen seine Briefe sowie die sieben Sendschreiben in der Offenbarung. Aus allen Zeugnissen des Altertums geht klar hervor, dass Johannes ein sehr hohes Alter erreichte. Er starb in Ephesus, wo er auch begraben wurde.
Johannes ist nicht der Mann, der sich in den Vordergrund stellt, nicht der Mann grosser Worte oder auffallender Taten. Er ist ein Mystiker, der mit offenem Gemüt den Dingen auf den Grund gehen will, der sich einlebt und einfühlt in Personen und Dinge. Immer wieder ist er als gefühlvoller Träumer hingestellt und als Jüngling mit weichen, weiblichen Zügen gemalt worden. Das entspricht bestimmt nicht seiner wahren Wesensart. Er war viel eher ein Mann, der aufs Ganze ging, der nichts Halbes leiden konnte, der tiefer dachte und klarer sah als andere und deshalb seinem Meister näher kam als irgendeiner der übrigen Jünger.
EMPFÄNGER
Eine grosse Anzahl Merkmale lassen darauf schliessen, dass das Evangelium für Gemeinden bestimmt ist, die über die einzelnen Geschehnisse im Leben und Wirken Jesu Christi bereits gut unterrichtet sind. Wie könnte Johannes sonst von den Zwölfen sprechen als von bekannten Persönlichkeiten (Joh 6,67-71), ohne zuvor ein Wort von ihrer Erwählung zu sagen? Oder wie könnte er von Bethanien reden als von dem «Flecken Marias und ihrer Schwester Martha» (Joh 11,1), wo er doch diese Personen noch gar nicht erwähnt hat? Das sind nur zwei unter vielen Beispielen.
Das Evangelium Johannes ist demnach für die schon durch mehrere Evangelisten unterrichteten Gemeinden Kleinasiens geschrieben worden. Es ist nicht bloss als privates Erbauungsbuch, sondern als Buch der Gemeinde gedacht. Das ist zwar mehr oder weniger auch bei den Synoptikern der Fall, doch hier in noch stärkerem Masse. Man denke nur an den Raum, den die Gemeinschaft der Jünger untereinander in unserem Evangelium einnimmt. Ist das Evangelium einerseits für die Gemeinde bestimmt, so ist es anderseits auf dem Boden der Gemeinde entstanden. Johannes schreibt als einer, der das Leben Jesu «im Licht der durch Ostern und Pfingsten ermöglichten Gemeinschaft mit dem auferstandenen und erhöhten Herrn zu sehen vermag».
ABFASSUNG
Der Stoff, den die Überlieferung uns über die Abfassung des Johannes-Evangeliums gibt, ist ausserordentlich umfassend. Wir greifen aus den vielen Zitaten des ersten und zweiten Jahrhunderts nur die auffallendsten und wichtigsten heraus:
Irenaus, der seine Jugend in Kleinasien bei Polykarp von Smyrna zugebracht hatte, weiss zu berichten:
«Nach diesem hat auch Johannes, der Jünger Jesu, der an seiner Brust ruhte, das Evangelium veröffentlicht, als er in Ephesus in Asien weilte... Alle Ältesten, die in Asien mit Johannes, dem Jünger, zusammentrafen, bezeugen, dass er ihnen diese Dinge vermittelt habe; denn er weilte dort bis zur Zeit Trajans.»
(98 n. Chr.)
Im Muratorischen Fragment lesen wir:
«Das vierte Evangelium stammt von Johannes. Als Johannes, einer der Jünger, von seinen Mitjüngern und Bischöfen gedrängt wurde, sprach er zu ihnen: Fastet diese drei Tage mit mir; dann wollen wir einander mitteilen, was uns geoffenbart worden ist! In der folgenden Nacht wurde Andreas, einem der Apostel, geoffenbart, dass Johannes alles in seinem eigenen Namen aufschreiben sollte, während alle andern überprüfen sollten, was er geschrieben haben würde. Kein Wunder, dass Johannes, von sich selbst sprechend, in seinen Briefen sagt: ,Was wir mit unseren Augen gesehen und mit unseren Ohren gehört und was unsere Hände betastet haben, das verkündigen wir euch!’ Damit erklärt er sich nicht nur als Augenzeuge, sondern auch als Verfasser all der wunderbaren Taten des Herrn.»
Clemens von Alexandrien sagt:
«Als letzter hat Johannes, der bemerkt hatte, dass das Äusserlich-Menschliche der Geschichte Jesu in den andern Evangelien bereits dargestellt war, auf Anregung der Ältesten und vom Geiste getrieben, ein geistliches Evangelium verfasst.»
Ausserdem führen weitere Kirchenzeugen des 2. Jahrhunderts unser viertes Evangelium mehrfach an. Es sind dies unter anderen: Ignatius, das Büchlein «Hirt des Hermas», eine vermutlich gegen 150 verfasste Bußschrift, nicht überzeugend dem Paulusgefährten Hermas (Röm 16,14) zugeschrieben; Justin, der Märtyrer (bedeutender Kirchenlehrer, gestorben zirka 165); ebenfalls der Gnostiker Valentinus und vor allem sein Schüler Herakleon, der den ersten vollständigen Kommentar zum Johannes-Evangelium geschrieben hat.
Aus allen diesen geschichtlichen Beweisen können wir folgende Schlüsse ziehen: Unser viertes Evangelium ist vom Apostel Johannes, auf Anregung von Kirchenältesten, verfasst worden, und zwar in Kleinasien, gegen das Ende seines Lebens. Er hatte bei dieser Gelegenheit die synoptischen Evangelien zur Hand, die bereits in den Christengemeinden verbreitet waren. Uber das genaue Datum der Abfassung fehlen uns die Angaben, doch erlaubt uns das Zeugnis des Irenäus (siehe oben), es gegen Ende des 1. Jahrhunderts anzusetzen, das heisst zwischen 85 und 98 n. Chr.
ECHTHEIT
Wie aus dem Vorangehenden ersichtlich ist, bestätigen sehr zahlreiche geschichtliche Zeugnisse die Echtheit des Johannes-Evangeliums. Eusebius, der die gesamte religiöse Literatur seiner Zeit kannte, sagt am Anfang des 4. Jahrhunderts von unserem Evangelium, es sei
«in allen Kirchen unter dem Himmel verbreitet und müsse als allgemein anerkannt betrachtet werden.»
Dieses Zeugnis ist deshalb so wertvoll, weil Eusebius stets auf bestehende Zweifel an der Echtheit eines Buches hinzuweisen pflegt. In diesem Fall dürfen wir uns darauf verlassen, dass das Johannes-Evangelium von der Urgemeinde immer einstimmig anerkannt worden ist.
ZWECK UND ZIEL
Der doppelte Zweck des Evangeliums ist klar angesagt:
«Diese Dinge sind geschrieben, dass ihr glaubet, Jesus sei Christus, der Sohn Gottes, und dass ihr durch den Glauben das Leben habet in seinem Namen» (Joh 20,31).
Johannes hebt bei Christus, «wahrer Mensch und wahrer Gott», hauptsächlich die göttliche Seite hervor. Mit dem Bild, das er so vom Sohn Gottes zeichnet, weist er indirekt die Irrlehren ab, die in Asien über die Person Jesu aufzukommen begannen:
Die Jünger Johannes des Täufers stellten ihren Meister über Jesus.
Die Ebioniten erblickten in ihm nur den Sohn Josephs und der Maria, der zur Würde des Messias erhoben worden war.
Die Kerinthianer machten aus Jesus einen blossen Menschen, mit dem sich in einem gewissen Augenblick der himmlische Christus vereinigt hätte.
Die Doketen behaupteten, der Leib Christi wäre bloss ein Scheinleib, eine Vorspiegelung falscher Tatsachen gewesen (vgl. heute Christliche Wissenschaft).
INHALT UND EINTEILUNG
Jesus Christus, der Gottessohn, ist das Hauptthema unseres Evangeliums. Wir lassen uns bei der Einteilung von diesem Gedanken leiten.
1. Der Gottessohn (Logos) in seiner Menschwerdung Joh 1,1-51
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns Joh 1,1-18
Siehe, das ist Gottes Lamm Joh 1,19-36
Wir haben den gefunden, von welchem Joh 1,37-51
geschrieben steht
2. Der Gottessohn vor der Welt Joh 2,1 - 12,50
Füllet die Wasserkrüge (Hochzeit zu Kana) Joh 2
Es sei denn, dass jemand von neuem geboren Joh 3
werde (Nikodemus)
Wer von diesem Wasser trinkt, wird nie Joh 4
wieder dürsten (Samariterin)Stehe auf, nimm dein Bett und gehe (Bethesda) Joh 5
Ich bin das Brot des Lebens (Speisung) Joh 6
Ich bin das Wasser des Lebens (Laubhüttenfest) Joh 7 und 8Ich bin das Licht der Welt (Blindgeborener) Joh 9
Ich bin der gute Hirte (Rede Jesu) Joh 10
Ich bin die Auferstehung und das Leben (Lazarus) Joh 11
Dein König kommt zu dir Joh 12
(letzter Besuch in Jerusalem)
3. Der Gottessohn vor seinen Jüngern Joh 13,1 - 17,26
Ein Beispiel habe ich euch gegeben Joh 13
(Fusswaschung)
Euer Herz erschrecke nicht Joh 14
(der Tröster, der Heilige Geist)Bleibet in mir — ohne mich könnt ihr nichts tun Joh 15
(Weinstock)In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost Joh 16
Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit Joh 17
4. Der Gottessohn in seinen Leiden Joh 18,1 - 19,42
Nicht mein, sondern dein Wille geschehe Joh 18,1-11
(Gethsemane)Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk Joh 18,12-27
(Kaiphas)Ecce Homo—sehet, welch ein Mensch (Pilatus) Joh 18,28 - 19,15
Es ist vollbracht (Golgatha) Joh 19,16-42
5. Der Gottessohn als Auferstandener Joh 20,1 - 21,25
Der Herr ist auferstanden Joh 20,1-23
Selig sind, die nicht sehen und doch glauben Joh 20,24-31
Werfet das Netz aus Joh 21,1-14
Simon Petrus, hast du mich lieb? Joh 21,15-25
Schlüsselwort: Gottessohn
Schlüsselvers: «Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit»
(Joh 1,14).
VERSCHIEDENES
Berichte, die ausschliesslich im Johannes-Evangelium Vorkommen
Persönliche Unterredungen
mit Nikodemus | Joh 3 | mit den Jüngern | Joh 13-16 |
mit der Samariterin | Joh 4 | mit Pilatus | Joh 18,28 - 19,16 |
mit Petrus | Joh 21 |
Reden Jesu
Seine göttliche Sendung Joh 5,7,8
Das Brot des Lebens Joh 6
Der gute Hirte Joh 10
Wunder
Wandlung des Wassers in Wein (Kana) Joh 2
Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten Joh 4
Heilung des Gichtbrüchigen zu Bethesda Joh 5
Heilung des Blindgeborenen Joh 9
Auferweckung des Lazarus Joh 11
Zweiter wunderbarer Fischzug Joh 21
Bilder
von der Tür zum Schafstall Joh 10,1-9
vom guten Hirten Joh 10,12-21
vom Weinstock Joh 15,1-8
Geschehnisse
Jesus und die Ehebrecherin Joh 8,1-11
Jesus und die Griechen Joh 12,20-22
Die Fusswaschung Joh 13,1-17
Das hohepriesterliche Gebet Joh 17
Jesus vor Hannas Joh 18,12-14
Vier Worte am Kreuz Joh 19,26.27.28.30
Die durchbohrte Seite Joh 19,31-37
Petrus und Johannes beim Grabe Joh 20,1-10
Der Auferstandene und Thomas Joh 20,24-29
Erscheinung am See Genezareth Joh 21,1-23
Ausdrücke, die Johannes mit Vorliebe gebraucht
Der Vater über 110 mal | Zeugnis, zeugen 47 mal |
Glauben 98 mal | Liebe, lieben 46 mal |
Die Welt 78 mal | Herrlichkeit, verherrlichen 42 mal |
(Er-)kennen 55 mal | Licht 23 mal |
Leben 52 mal | Werk 23 mal |
Wahrlich, wahrlich (griechisch: Amen, amen) 25 mal |
Besondere Merkmale
Das Evangelium der Liebe. Es beginnt mit einer Liebeserklärung Gottes (Joh 3) und schliesst mit der Frage: Liebst du mich?
Das Evangelium der Innigkeit. Während die andern Evangelien uns Jesus fortwährend von der Menge umringt zeigten, widmet Johannes ganze Kapitel den Privatgesprächen Jesu mit einzelnen Personen:
mit Nikodemus | Joh 3 | mit Gott | Joh 17 |
mit der Samariterin | Joh 4 | mit Pilatus | Joh 18-19 |
mit den Zwölfen | Joh 13-16 | mit Petrus | Joh 21 |
Das Evangelium der Einfachheit. Der Wortschatz des Evangeliums enthält nicht mehr als 700 Wörter — ungefähr so viel, wie ein kleines Kind schon besitzt. Das Ganze entbehrt jeglicher theologischer Fachausdrücke, es weicht mit keinem Wort von der gewöhnlichen Umgangssprache ab.
Das Evangelium der Gottheit Christi. Jesus ist göttlich
in seiner Ewigkeit Joh 1,1.2; 12,34; 8,58
in seiner Allwissenheit Joh 1,46-50; 4,17-19
in seiner Schöpfermacht Joh 1,3.10
in seiner Lehre Joh 7,45.46
in seiner Gleichheit mit Gott Joh 10,28-30; 5,18
in seiner Auferstehung Joh 20,8.27.28
in seiner Allgegenwart Joh 17,11.26