ALLGEMEINES
Die Briefe an Timotheus und Titus nennt man die «Pastoralbriefe» (Hirtenbriefe), weil sie hauptsächlich Belehrungen und Anweisungen für die Organisation und Leitung der christlichen Gemeinde enthalten.
Die drei Briefe müssen als ein Ganzes betrachtet werden. Aus diesem Grund werden wir die Paragraphen über Verfasser, Abfassung und Echtheit zusammenfassen.
Die Pastoralbriefe sind die einzigen Briefe, die Paulus ausschliesslich an Mitarbeiter im Reich Gottes geschrieben hat. Dadurch unterscheiden sie sich von allen seinen übrigen Briefen, auch dem an Philemon, der ein reiner Privatbrief ist.
Die Pastoralbriefe sind wie der letzte Ton einer gewaltigen Stimme, die letzte Botschaft eines grossen Bevollmächtigten des Herrn der Gemeinde.
VERFASSER
Die Autorschaft dieser Briefe lässt sich aus ihnen selbst klar erkennen. Paulus tritt uns darin entgegen als:
Apostel Jesu Christi 1Tim 1,1; 2Tim 1,1
Knecht Gottes und Apostel Jesu Christi Tit 1,1
Prediger, Apostel und Lehrer der Heiden 2Tim 1,11
Freund der Familie des Timotheus 2Tim 1,3-5
Geistiger Vater des Timotheus und Titus 1Tim 1,2; 2Tim 1,2;
Tit 1,4der Timotheus eingesegnet hat 2Tim 1,6
Lehrer des Timotheus und Titus 2Tim 3,10; Tit 1,4-5
Gefangener in Rom 2Tim 1,8.17.
Die vielen Personen, die am Schluss jedes Briefes genannt sind, sind als Freunde des Paulus bekannt.
Zu diesen zahlreichen inneren Hinweisen auf die Verfasserschaft des Apostels Paulus kommt noch das Zeugnis der alten Überlieferung, die fast durchwegs die Autorschaft des Paulus bestätigt.
ABFASSUNG
Obwohl Zeit und Ort der Abfassung aus den Briefen selber nicht genau festgelegt werden können, ermöglichen uns doch einige allgemeine Anhaltspunkte, die ungefähre Zeit zu bestimmen.
Die drei Briefe bilden ein Ganzes, sowohl was den Stil als auch was den Inhalt anbetrifft. Folglich müssen sie in kurzen Abständen voneinander erschienen sein. Sie lassen sich auf keinen Fall in die Zeit der Apostelgeschichte und der übrigen paulinischen Briefe eingliedem, die sich bis ans Ende der zweijährigen Gefangenschaft in Rom erstreckt, das heisst bis in den Frühling oder Sommer 61. Somit gehören die Pastoralbriefe in die folgenden Jahre, über die die Apostelgeschichte schweigt; durch diese Briefe erstehen sie vor uns, wenn auch unvollständig.
Es ist ganz offensichtlich, dass der 2. Timotheusbrief der zuletzt geschriebene ist. Er ist überhaupt das letzte Schreiben, das wir von der Hand des grossen Apostels besitzen. Paulus hat es kurz vor seinem Märtyrertod aufgesetzt (2Tim 4,6-8), der nach dem glaubwürdigen Zeugnis des Clemens unter Nero stattfand.
Um den geschichtlichen Rahmen zu verstehen, in dem die Pastoralbriefe geschrieben wurden, machen wir den Versuch einer Darstellung der letzten fahre des Apostels Paulus. Beim Durchblättern der Pastoralbriefe ergibt sich für diese letzten Jahre ungefähr folgendes Bild:
Nach einer zweijährigen Untersuchungshaft in Rom wurde Paulus am Ende des Sommers 61 n. Chr. oder anfangs 62 n. Chr. in Freiheit gesetzt. Die Briefe an die Philipper und Philemon zeigen, dass er mit einem solchen Verlauf rechnete (Phil 2,24; Philm 22). Man begreift, dass von diesem sehnlich erwarteten Augenblick an nichts mehr den von unermüdlichem Missionsgeist beseelten Apostel zurückhalten konnte. Das brennende Verlangen, seine Gemeinden wiederzusehen und da und dort Ordnung zu schaffen, trieb ihn sicher zuerst nach Osten, wohl nach Kolossä (Philm 22). Dann aber ging wahrscheinlich der Traum seines Lebens in Erfüllung: seine Reise nach Spanien (Röm 15,28), um dort, an der Grenze einer damals unbekannten Welt, die Frohbotschaft von Jesus Christus zu verkündigen ... Diese Ansicht wird durch Clemens am Ende des 1. Jahrhunderts bestätigt. Paulus konnte dann noch einmal — die Pastoralbriefe lassen es vermuten — von Spanien aus die Gemeinden des Orients besuchen. Über Kreta, wo er nach einem kurzen, aber gesegneten Dienst Titus zurücklässt (Tit 1,5), wendet er sich nach Ephesus, wo er vorübergehend Timotheus als seinen Stellvertreter einsetzt. Von dort beeilt er sich, nach Mazedonien zu gelangen (1Tim 1,3).
ln Mazedonien schrieb er sehr wahrscheinlich die ersten beiden Pastoralbriefe, den 1. Timotheus- und den Titusbrief (63 n. Chr.).
Anschliessend brachte Paulus den Winter in Nikopolis zu, wahrscheinlich mit Titus zusammen (Tit 3,12). Wir nehmen an, dass sich im Frühjahr 64 sein Wunsch nochmals erfüllte, die Gemeinden in Kleinasien wiederzusehen. Diese Reise führte ihn vermutlich über Troas (2Tim 4,13) nach Ephesus.
Unterdessen erlebte Rom die schrecklichen Tage des Juli 64. Der Brand von Rom hatte die erste grosse Christenverfolgung ausgelöst. Trotzdem reiste Paulus wieder nach Rom. Unterwegs streifte er Milet und Korinth (2Tim 4,20). In Rom wurde er jedenfalls im Herbst 64 wieder verhaftet. Paulus sieht voraus, dass diesmal nichts anderes als der Tod den Abschluss seiner Gefangenschaft bilden kann (2Tim 4,6).
Von Rom aus schreibt Paulus seinen zweiten Brief an Timotheus.
Er ruft ihn dringend zu sich: «Komme bald!» Der Herbst des Jahres 64 ist vorangeschritten (2Tim 4,21). Es ist uns nirgends gesagt, dass Timotheus den Apostel noch am Leben fand; wir dürfen es aber annehmen. Ungefähr im Frühjahr 63 fand dann die Hinrichtung des Apostels Paulus in Rom statt.
ECHTHEIT
In den ersten Jahrhunderten hat sich keine einzige Stimme ernstlich gegen die Echtheit dieser Briefe erhoben, mit Ausnahme von Gnostikern wie Basilides und Marcion, die die Briefe aus tendenziösen Gründen ablehnten.
Clemens von Rom führt 1Tim 2,8 und Tit 3,1 fast wörtlich an. Der Brief des Barnabas verwendet eine Reihe von Ausdrücken, die den Pastoralbriefen eigen sind. Daneben besitzen wir die Zeugnisse von Ignatius, Polykarp, Irenaus, Clemens von Alexandrien, Tertullian, die alle die Pastoralbriefe zitieren. Das Muratorische Fragment enthält die drei Briefe, ebenso die Syrische und die Lateinische Version. Origenes und Eusebius klassieren sie unter die allgemein anerkannten kanonischen Schriften, usw.
Eine ernste Kritik wird erst am Anfang des 19. Jahrhunderts laut, als gewisse Theologen die Verfasserschaft des Apostels als unmöglich bezeichnen. Sie glauben, es handle sich um eine Fälschung aus dem 2. Jahrhundert. Ihre Argumente sind: Die kirchlichen Einrichtungen, die Irrlehre, die der Gnostik des 2. Jahrhunderts gleiche, und der Stil und Wortschatz, der nicht von Paulus sein könne.
Es ist nicht unsere Aufgabe, uns über diese Argumente weiter zu verbreiten und sie zu bekämpfen. Es sei hier nur kurz erwähnt, dass Theologen wie Weiss, Olshausen, Godet, Zahn und F. Barth, die sich eingehend mit dieser Kritik beschäftigten und sie widerlegen, zu folgendem Schluss kommen:
«Die Herabsetzung der Pastoralbriefe zu nachapostolischen Produkten ist ein Fehlgriff ...»