ALLGEMEINES
Das Evangelium Markus ist sehr wahrscheinlich das älteste, das wir besitzen. Auf den ersten Blick fällt uns bei ihm nicht, wie beim vorhergehenden Evangelium, jener Zug erhabener Grösse auf, der besonders den Reden Jesu eigen ist. Das Markus-Evangelium macht uns vielmehr den Eindruck einer Erzählung, die in schlichter Weise persönliche Erinnerungen von Augenzeugen wiedergibt.
VERFASSER
Prof. Dr. F. Barth sagt über den Verfasser des Evangeliums: «Den Verfasser des Buches findet man in der kleinen Episode Mk 14,51-52 angedeutet, wo es heisst:
,Und es war ein Jüngling, der folgte ihm nach, der war mit Leinwand bekleidet auf der blossen Haut; und die Jünglinge griffen ihn. Er aber liess die Leinwand fahren und floh bloss von ihnen.’
Diese Notiz hat mit der übrigen Geschichte von Gethsemane so wenig Zusammenhang, dass sie fast sicher eine persönliche Erinnerung des Schreibenden ist. Man hat sie mit dem Malerzeichen verglichen, das der Künstler in irgendeiner Ecke seines Gemäldes anbringt. Demnach ist der Verfasser keiner von den Zwölfen, er hat aber sehr wahrscheinlich in Jerusalem die Leidensgeschichte miterlebt.»
Die altkirchliche Überlieferung nennt übereinstimmend als Verfasser Markus, mit dem Zunamen Johannes (Johannes war sein jüdischer, Markus sein lateinischer Name). Er war der Sohn einer gewissen Maria, in deren Haus die führenden Männer der Urgemeinde sich versammelten (Apg 12,12). Er war ein Neffe des Barnabas (Kol 4,10) und wahrscheinlich wie jener Levit von Geburt. Barnabas und Paulus nahmen ihn mit sich, als sie das Liebesopfer der Gemeinde von Antiochien nach Jerusalem zu bringen hatten (Apg 11,29-30; 12,25). Markus begleitete sie dann auf ihrer ersten Missionsreise. Allein hier wiederholte sich der Vorfall von Gethsemane: Als die Missionare von Cypern nach Pamphylien übersetzten und durch das rauhe Gebirge von Pisidien und Isauria ins Innere Kleinasiens eindrangen, verliess sie Markus und kehrte nach Jerusalem zurück (Apg 13,5.13). Dadurch wurde er zur Ursache der Trennung zwischen Paulus und Barnabas (Apg 15,37). Ungefähr zehn Jahre später finden wir Markus allerdings wieder unter den Mitarbeitern des Paulus, der ihm das beste Zeugnis ausstellt (Phlm 24; Kol 4,10).
Einen letzten Hinweis auf die Beziehungen zwischen Paulus und Markus finden wir in 2Tim 4,11, wo Paulus Timotheus bittet, ja Markus nach Rom mitzubringen. Wenn Markus dieser Aufforderung gefolgt ist, dann wird er etwa im Jahr 63/64 nach Rom gekommen sein. Zwischen der ersten und zweiten Gefangenschaft des Paulus scheint er als nächster Mitarbeiter des Petrus gewirkt zu haben, bei dem er auch war, als dieser seinen 1. Brief (sehr wahrscheinlich von Rom aus) schrieb (1Pet 5,13).
EMPFÄNGER
Aus dem Inhalt des Buches geht klar hervor, dass es für Leser bestimmt ist, die mit den jüdischen Bräuchen und Sitten nicht vertraut sind, so dass ihnen diese erklärt werden müssen. Nachstehend einige Hinweise:
Es sind keinerlei Prophezeiungen angeführt ausser einer einzigen, die auf Johannes den Täufer Bezug hat (Mk 1,2-3).
Sehr wenige Zitate, denn den Heiden war das Alte Testament begreiflicherweise nicht besonders wichtig.
Keine Geschlechtsregister, die die Heidenwelt nicht interessieren konnten.
Sorgfältige Erklärung aramäischer Wörter, z.B.:
Mk 3,17 Boanerges Mk 14,36 Abba Mk 5,41 Talitha kumi Mk 15,22 Golgatha Mk 7,34 Hephata Mk 15,34 Eli, Eli, lama asabthani Mk 10,46 Bartimäus usw.
Die Leser kannten demnach diese Sprache nicht.Erklärung jüdischer Bräuche und geographischer Angaben, die den Römern nicht bekannt waren
(Mk 7,2-3; 12,8; 14,12; 15,42; 1,9; 11,1).Lateinische Ausdrücke, wie
Mk 5,9-15 Legion Mk 6,27 Spekulator Henker Sextadecimäni Soldaten der 16. Legion Zenturion Hauptmann Mk 2,4.9.11 Grabatus Ruhebett usw.
In den alten Manuskripten kommen alle diese Ausdrücke vor.Lateinische Personennamen, z.B.
Rufus (vgl. Mk 15,21) und
Markus selbst, in Judäa Johannes genannt.
Diese Besonderheiten sowie verschiedene Zitate aus der Überlieferung der Väter sprechen dafür, dass das Markus-Evangelium für die Christen in Rom geschrieben wurde (siehe Abfassung).
ABFASSUNG
Markus war kein direkter Jünger Jesu gewesen und deshalb kein Augenzeuge der meisten Berichte, die er vermittelt. Aus welcher Quelle konnte er denn sein reiches Wissen geschöpft haben? Aus der besten Quelle, die er finden konnte: dem persönlichen Zeugnis des Petrus, dessen geistiger Sohn und Mitarbeiter er war. Hier einige Beweise dafür:
Biblische Beweise
Viele ausführliche Einzelheiten, wie sie nur ein Augenzeuge geben kann. Gewisse Stellen, die sich besonders auf Petrus beziehen (Mk 1,16.29.36; 3,16; 8,28-29; 9,5-6; 10,28; 11,21; 13,3; 14,29; 16,7).
Das Weglassen von Begebenheiten, wo Petrus besonders gelobt wurde, und das Hervorheben seiner Fehler
vgl. Mk 8,27-30 mit Mt 16,13-23 vgl. Mk 6,51-52 mit Mt 14,28-33; vgl. Mk 14,30.66-72 Mt 26,34 ff; Lk 22,34 ff; Joh 13,38 ff
Der Charakter des Petrus zeigt sich in der Wertschätzung der Taten Jesu. Petrus war vor allem ein Mann der Tat.Das Markus-Evangelium ist ein Kommentar zu den grossen Linien des Lebens Jesu, wie es Petrus vor Kornelius zeichnete (Apg 10,36-41).
Geschichtliche Beweise
Wir besitzen mehrere alte Berichte über die Entstehung des Markus-Evangeliums. Nachstehend seien nur die wichtigsten angeführt:
Papias, Bischof von Hierapolis, war durch einen direkten Jünger Jesu, aus Palästina gebürtig, unterrichtet worden. Dieser hatte ihm die Herkunft des Markus-Evangeliums folgendermassen geschildert:
«Markus, der ein Dolmetscher des Petrus war, schrieb alles, dessen er sich erinnerte, genau auf, aber nicht der Reihe nach, was von Christus geredet oder getan wurde. Er hatte nämlich den Herrn weder gehört noch begleitet, sondern später, wie gesagt, den Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, aber nicht, als hätte er die Reden des Herrn schriftstellerisch zu ordnen. Daher beging Markus keinen Fehler, indem er einiges so aufschrieb, wie er sich dessen erinnerte; denn er trug nur für eines Sorge; nichts von dem, was er gehört hatte, wegzulassen und nichts lügnerisch zu erfinden.»
Irenaus sagt, nach dem Tode des Petrus und Paulus habe Markus, der Schüler und Dolmetscher des Petrus, das von Petrus Gepredigte schriftlich festgelegt.
Clemens von Alexandrien (Kirchenlehrer, zirka 160—220) ergänzt das Zeugnis des Papias, indem er sagt,
«als Petrus in Rom predigte, sei Markus als sein Begleiter von vielen Christen gebeten worden, das Gehörte aufzuzeichnen; dies habe er getan, und Petrus habe es stillschweigend gutgeheissen.»
Eusebius, der berühmte Theologe seines Jahrhunderts, fügt in seiner Kirchengeschichte zum Zitat des Clemens hinzu:
«Die Zuhörer des Petrus bitten den Markus als seinen Begleiter, ihnen die Lehren des Apostels aufzuzeichnen, und lassen ihm keine Ruhe, bis er es tut; Petrus aber freut sich darüber, und auf eine besondere Weisung des Geistes hin genehmigt er die Schrift ausdrücklich zur Vorlesung in den Gemeinden.»
Diese biblischen und geschichtlichen Beweise führen uns zur Schlussfolgerung:
Das zweite Evangelium ist eine Aufzeichnung des von Petrus gepredigten Evangeliums.
Der Ort der Abfassung ist Rom.
Der Zeitpunkt der Abfassung ist gegen das Lebensende des Petrus oder sofort nach dessen Tod anzusetzen. Wenn Petrus wirklich ein Opfer der Verfolgung unter Nero wurde, fand die Abfassung zwischen 63—64 n. Chr. statt, auf alle Fälle aber vor dem Jahr 70, da die Zerstörung Jerusalems nicht erwähnt ist.
ECHTHEIT
Die gesamte Urkirche bestätigt die Echtheit des Evangeliums, das sie ausschliesslich Markus zuschreibt. Die zahlreichen Hinweise der Kirchenväter lassen keinen Zweifel an der Echtheit dieses kanonischen Buches aufkommen. Die einzige Schwierigkeit findet sich am Schluss des Evangeliums in Mk 16,9-20, einem Abschnitt, der in den meisten ältesten Handschriften fehlt. Manche Schriftkenner denken, dass Markus verhindert wurde, weiterzuschreiben, und dass ein anderer neutestamentlicher Schreiber den Schluss beifügte, um das Evangelium nicht so abgebrochen stehen zu lassen.
In einem armenischen Evangelienbuch des zehnten Jahrhunderts steht über Mk 16,9 mit der Bemerkung «Von Ariston, dem Presbyter» (sehr wahrscheinlich der Jünger, durch den Papias manche Kunde über Jesus erhalten hat):
«Um dem Markus-Evangelium einen befriedigenden Abschluss zu geben, fügte man die kurze Zusammenfassung der Auferstehungsgeschichte bei.»
Wir wissen tatsächlich nicht, ob das ursprünglich letzte Blatt des MarkusEvangeliums früh verloren gegangen ist, oder ob Markus wegen Tod oder plötzlicher Abreise beim Ausbruch einer Verfolgung sein Werk unvollendet lassen musste. Ob diese Frage je geklärt werden wird, kann niemand sagen; doch mittlerweile wollen wir uns der Meinung eines grossen Schriftauslegers (Dr. Gregory) anschliessen, der feststellt: Ein Christ darf nach Herzenslust diese Verse lesen, studieren, sich daran erfreuen und dafür danken.
ZWECK UND ZIEL
Von der ersten Zeile an kennzeichnet Markus den Charakter seines Evangeliums: «Anfang der frohen Botschaft von Jesus Christus, Gottes Sohn-». Der Verfasser hebt die göttliche Herrlichkeit und Grösse der Person Jesu Christi hervor, der sich in seinen Taten als Diener Gottes erweist. Matthäus zeigt uns mit besonderem Nachdruck den redenden, Markus mehr den handelnden Christus.
Sein Hauptinteresse richtet sich immer auf die Taten Jesu, auf das Ausserordentliche, Heldenhafte — kurz auf seinen Siegeszug in der Welt, den auch das Kreuz nicht vereiteln konnte. Er erzählt vor allem, und zwar macht es ihm Freude, die Geschichten von Jesus in volkstümlicher Weise zu schildern und mit charakteristischen Einzelheiten nicht zu sparen. Diese Erzählungen entbehren nicht einer gewissen Dramatik; die Menschen, die da vor uns erstehen, sind uns nah und vertraut, und immer hebt sich von ihnen die grosse Gestalt des Heilandes ab.
INHALT UND EINTEILUNG
Markus kümmert sich wenig um die chronologische Folge seiner Berichte. Er lässt ganz einfach eine Reihe von Bildern voller Leben und Frische an unserm Auge vorüberziehen. Und dennoch lässt sich ein gewisser Plan herausschälen, der ganz ähnlich ist wie bei Matthäus.
Wir gehen bei der Einteilung von dem Zentralgedanken
«Jesus, der Gottesdiener» aus.
1. Die Vorbereitung des Dieners Mk 1,1-13
Sein Herold, Johannes der Täufer Mk 1,1-8
Seine Wasser - und Geistestaufe Mk 1,9-11
Sein erster entscheidender Sieg Mk 1,12-13
2. Die Anfänge des Dieners Mk 1,14-45
Seine Frohbotschaft Mk 1,14-15
Seine ersten vier Jünger Mk 1,16-20
Seine erste Predigt und Heilung Mk 1,21-28
Sein erster Siegeszug Mk 1,29-45
3. Die Feinde des Dieners Mk 2,1 - 3,6
Die Kluft öffnet sich: Wie kann Mk 2,1-12
dieser Sünden vergeben?Berufung des Levi: Warum isst und trinkt Mk 2,13-17
er mit den Zöllnern und Sündern?Fastenfragen: Warum fasten die Jünger Mk 2,18-22
des Johannes, aber deine Jünger nicht?Ährenausraufen: Warum tun deine Jünger Mk 2,23-28
das am Sabbat?Heilung am Sabbat: Und sie lauerten ihm auf, Mk 3,1-6
ob er am Sabbat heilen würde
4. Die grossen Taten und Reden des Dieners Mk 3,7 - 8,26
Zulauf des Volkes Mk 3,7-12
Berufung der wahren Jünger Mk 3,13-19
Entlarvung der falschen Jünger Mk 3,20-35
Die Seepredigt in Gleichnissen Mk 4,1-34
Triumph über Sturm, Geister und Tod Mk 4,35 - 5,43
Ein Prophet gilt nirgends weniger als Mk 6,1-6
Aussendung und Unterweisung der Jünger Mk 6,7-13
Herodes’ Urteil über Jesus und Johannes Mk 6,14-29
Rückkehr der Jünger Mk 6,30-33
Speisung der Fünftausend Mk 6,34-44
Jesu Wandel auf dem See Mk 6,45-56
Jesus und die Menschensatzungen Mk 7,1-23
Glaube der Syrophönizierin Mk 7,24-30
Heilung eines Taubstummen Mk 7,31-37
Speisung der Viertausend Mk 8,1-9
Zeichenforderung und Warnung Mk 8,10-21
Heilung eines Blinden in Bethsaida Mk 8,22-26
5. Die Leidensverkündigungen des Dieners Mk 8,27 - 10,45
Du bist der Messias Mk 8,27-30
Erste Leidensverkündigung Mk 8,31-33
Leidensnachfolge der Jünger Mk 8,34 - 9,1
Verklärung: Herrlichkeit trotz Leiden Mk 9,2-13
Der fallsüchtige Knabe Mk 9,14-29
Zweite Leidensverkündigung Mk 9,30-32
Belehrung für den Jüngerkreis Mk 9,33 - 10,31
Dritte Leidensverkündigung Mk 10,32-45
6. Das Wirken des Dieners in Jerusalem Mk 10,46 - 13,37
Auf dem Weg: Bartimäus Mk 10,46-52
Einzug in Jerusalem Mk 11,1-10
Anklage und Gericht im Tempel Mk 11,11-33
Gleichnisse und Lehren Mk 12,1-44
Zukunftsreden Mk 13,1-37
7. Das Leiden und Sterben des Dieners Mk 14-15
Der Mordanschlag der Volksführer Mk 14,1-2
Die Salbung zum Opfergang Mk 14,3-11
Das letzte, heilige Ostermahl Mk 14,12-25
Gethsemane: Bereitschaft des Opfers Mk 14,26-52
Verhör und Verurteilung des Opfers Mk 14,53 - 15,19
Golgatha: Das vollkommene Opfer Mk 15,20-41
Begräbnis: Das tote Opfer Mk 15,42-47
8. Der Triumph des Dieners Mk 16,1-20
Das leere Grab Mk 16,1-8
Erscheinungen Mk 16,9-14
Missionsbefehl Mk 16,15-18
Himmelfahrt Mk 16,19
Missionsbeginn Mk 16,20
Schlüsselwort: Dienst
Schlüsselvers: «Denn des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zur Bezahlung für viele» (Mk 10,45).
VERSCHIEDENES
Besondere Merkmale
- Fast keine Zitate aus dem Alten Testament
- Fehlen der Geburtsgeschichte Jesu
- Wenige Reden und Gleichnisse
- Die Lebhaftigkeit der Erzählung
Berichte, die ausschliesslich im Markus-Evangelium Vorkommen
Furcht der Eltern, Jesus sei von Sinnen gekommen Mk 3,21
Gleichnis von der selbständig wachsenden Saat Mk 4,26-29
Heilung des Taubstummen Mk 7,31-37
Stufenweise Heilung eines Blinden Mk 8,22-26
Mahnung zur Wachsamkeit an Mk 13,33-37
die Knechte und Türhüter
Jüngling, der nackt flüchtete Mk 14,51-52
Zeugnisse über Jesus von
Gott, dem Vater Mk 1,11; 9,7
Johannes dem Täufer Mk 1,7-8
der Familie Mk 3,21; 6,2-4
den Jüngern Mk 8,29
den Dämonen Mk 1,24; 3,11; 5,7
den Feinden Mk 2,7; 12,14; 14,63-64
einem Heiden Mk 15,39
Jesus, der Herr
über die Natur Mk 4,35 ff; 6,45 ff
über die Krankheit Mk 1,30-34.40-42 usw.
über den Tod Mk 5,22-43
über den Sabbat Mk 2,23-28; 3,1-6
über den Satan Mk 1,12.13.34
über die Dämonen Mk 1,23-27.39; 3,11 usw.