ALLGEMEINES
Die Bibel lehrt, dass Jesus Christus ein dreifaches Amt bekleidet: Er ist König, Prophet und Priester in einer Person. Sein Hohepriesteramt lernen wir vor allem durch den Hebräerbrief kennen, der das umfassendste neutestamentliche Zeugnis vom Hohenpriestertum Christi enthält. Der Brief ist infolgedessen von grösster Wichtigkeit für das volle Verständnis des Erlösungswerkes Jesu Christi. Er ist oft das «fünfte Evangelium» genannt worden; die andern vier reden vom Werk Christi auf Erden, dieses aber von seinem Werk im Himmel.
VERFASSER
Es gibt keine prominente Persönlichkeit des apostolischen Jahrhunderts, der dieser Brief nicht schon zugeschrieben worden wäre; Paulus, Lukas, Barnabas, Apollos, Silas, Petrus, Priska, Aquila und andere mehr sind genannt worden.
Uber die Person des Verfassers entnehmen wir dem Brief selbst folgende bestimmte Angaben:
Der Verfasser ist ein hellenistischer Jude, das heisst einer, der das Alte Testament auf griechisch (die Septuaginta) gründlich kennt.
Er ist ein Christ im vollen Sinne des Wortes; denn er ist völlig frei von der Knechtschaft dör Überlieferungen sowie vom Joch des mosaischen Gesetzes. Er ist ein «Lehrer der Theologie» und bewandert in der jüdischen Geschichte. Er lebte im apostolischen Zeitalter.
Er ist ein enger Freund des Timotheus, beabsichtigt er doch, mit diesem die Gemeinden zu besuchen, denen er schreibt (13,23).
Er ist, als er seinen Brief verfasst, in Italien wohnhaft (Heb 13,24).
Diese Angaben scheinen eher für die Paulinität des Briefes zu sprechen.
Die altkirchliche Überlieferung gibt uns zur Verfasserfrage einige wertvolle Beiträge:
Pantänus (erster bekannter Katechet der Alexandrinischen Schule; vor seiner Bekehrung Stoiker; um 180 zum Glauben gekommen; Missionar in Indien und Arabien) betrachtete den Brief als ein Schreiben des Paulus, der seinen Namen weggelassen hätte, weil er als Heidenapostel sich an Juden wendete.
Clemens von Alexandrien glaubte, Paulus hätte den Brief auf hebräisch geschrieben, worauf er von Clemens von Rom oder Lukas ins Griechische übersetzt worden wäre. Origenes änderte diese Auffassung dahin ab, dass er hervorhob, der Brief sei in zu fliessendem Griechisch geschrieben, um eine Übersetzung sein zu können. Er war der Meinung, Paulus hätte einen Mitarbeiter gehabt, der seinen Gedanken und Anregungen die äussere Form gegeben habe.
Tertullian erwähnt den Brief als von Barnabas stammend. Am Ende des 4- Jahrhunderts, als die abendländische sich der morgenländischen Kirche näherte, wurde der Hebräerbrief als Werk des Apostels Paulus allgemein anerkannt und folgendermassen verzeichnet:
«Die Zahl der Briefe des Apostels Paulus beträgt 14.»
Von diesem Augenblick an treten die Zweifel an der paulinischen Herkunft des Briefes nur noch vereinzelt auf. Neu erwachen sie im 16. Jahrhundert, als Luther ihn eher Apollos zuschreibt und andere Männer der Reformation Paulus als Verfasser ablehnen. Doch traten diese Bedenken zunächst wieder zurück. Seit Johann David Michaelis (1788) setzt sich immer mehr die Auffassung durch, dass Paulus auf keinen Fall der Verfasser des Briefes sein könne. Diese Ansicht wird von vielen Theologen unserer Zeit geteilt. Wir wollen mit dem Kirchenvater Origenes sagen:
«Wer der Verfasser des Briefes war, das weiss eigentlich Gott allein!»
EMPFÄNGER
So wie der Verfasser sich nicht nennt, so fehlt auch mangels einer direkten Anrede jegliche Bezeichnung der Leser. Durch wen die Überschrift «An die Hebräer» angebracht wurde, wissen wir nicht; vielleicht geschah dies, als man den Brief zur Sammlung der Paulusbriefe hinzufügte. Die Überschrift entspricht dem Eindruck, den man beim Lesen des Briefes haben muss: dass er nämlich an Christen jüdischer Herkunft gerichtet ist (Heb 1,1); denn er setzt bei den Lesern grosse Vertrautheit mit der Geschichte des Volkes Israel, dem Gesetz und dem jüdischen Gottesdienst mit seinem Formenwesen voraus (Heb 1,1.5.7-8.10; 2,6.12 usw.).
Das Evangelium war durch Apostel oder andere Augenzeugen Jesu zu ihnen gekommen (Heb 2,1-3). Sie waren Zeugen von Zeichen und Wundern gewesen, die der Heilige Geist gewirkt hatte (Heb 2,4). Sie waren bereits seit längerer Zeit gläubig, wirft ihnen der Verfasser doch vor, sie sollten seit langem «Meister», «Lehrer» anderer sein (Heb 5,12), fordert sie auf, «an die vorigen Tage zu gedenken»
(Heb 10,32), und erinnert sie an ihre bereits verstorbenen Lehrer (Heb 13,7). Sie waren durch «einen grossen Kampf des Leidens» gegangen (Heb 10,32-34), jedoch ohne dass es zum Martyrium kam (Heb 12,4).
Nach der Meinung verschiedener Ausleger wendet sich der Verfasser an die Judenchristen im allgemeinen; nach der Meinung anderer bloss an diejenigen in Palästina; die dritten glauben, er schreibe an die Juden der Kirche zu Jerusalem oder gar zu Rom, in welchem Fall der Gruss (Heb 13,24) von Gläubigen aus Italien (insbesondere von Rom), die in Palästina wohnhaft waren, stammen müsste. Da der Brief auf griechisch geschrieben wurde, nehmen einige Ausleger sogar an, er habe nur den hellenistischen Kreisen der palästinischen Christen gegolten.
Die Empfänger des Briefes standen auf alle Fälle in Gefahr, zum Judentum zurückzukehren, dessen Gottesdienste und eindrucksvolle Zeremonien
(Heb 9,6-8.10.11; 13,10 usw.) in merkwürdigem Gegensatz standen zu der Schlichtheit ihrer rein aufs Geistliche gerichteten Versammlungen, die oft in den Häusern der Armen stattfanden. Dies lässt allerdings klar erkennen, dass die Empfänger keine andern als Judenchristen sein konnten, und zwar, wie kaum zu bezweifeln ist, die Judenchristen von Jerusalem und möglicherweise von ganz Palästina. Gerade diese liefen ja Gefahr, in das Judentum zurückzufallen.
ABFASSUNG
Da Clemens von Rom sich in seinen Schriften sehr oft auf den Hebräerbrief bezieht, muss dieser vor dem Jahr 90 geschrieben worden sein. Der Brief enthält keinerlei Andeutung an die Zerstörung Jerusalems. Im Gegenteil, der Verfasser spricht von dem Heiligtum in Jerusalem als von einem «Sinnbild für die gegenwärtige Zeit»
(Heb 9,9). Daraus ist zu schliessen, dass der Brief sogar vor dem Jahr 70 verfasst wurde.
In Heb 13,23 spricht der Verfasser von Timotheus; dieser erlitt aber nach der Überlieferung den Märtyrertod im Jahr 81, unter dem römischen Kaiser Domitian.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass der Hebräerbrief sehr wahrscheinlich vor dem Jahr 70, das heisst zwischen 60 und 70 n. Chr., geschrieben worden ist. Es ist möglich, dass der Verfasser von Rom aus schrieb (Heb 13,24).
ECHTHEIT
Der Brief scheint bereits vor dem Ende des 1. Jahrhunderts in Rom bekannt gewesen zu sein. Clemens von Rom macht in seinem eigenen Brief an die Korinther (90—95 n. Chr.) an mehreren Stellen davon Gebrauch. Nach einer längeren Pause, in der weder bei den übrigen apostolischen Vätern noch bei den Apologeten sichere Spuren zu entdecken sind, finden wir am Ende des zweiten Jahrhunderts einen neuen Zeugen in Pantänus, dem «seligen Presbyter» (siehe Verfasser). Von Clemens von Alexandrien an, der den Hebräerbrief zitiert, wird er immer wieder genannt und besonders die Verfasserfrage erörtert.
An der Echtheit des Briefes ist sowohl im Altertum als auch in der Neuzeit nicht gezweifelt worden; nur über die Person des Verfassers sind die Meinungen immer wieder auseinandergegangen.
ZWECK UND ZIEL
Der Brief verfolgt einen doppelten Zweck:
Einen lehrhaften Zweck. Durch eine logische Beweisführung soll die unantastbare Erhabenheit Jesu Christi und seines Werkes über den Alten Bund bewiesen werden. Anscheinend hatten die Empfänger grosse Mühe zu begreifen, dass das Zeitalter des mosaischen Gesetzes unwiderruflich vorüber war und dass Jesus Christus nicht bloss ein Reformator war, der die Religion ihrer Väter zu erneuern und zu ergänzen hatte, sondern der Urheber des neuen, endgültigen Zeitalters der Gnade.
Einen praktischen Zweck. Die Judenchristen, noch immer «Kinder im Glauben», sollen zur Reife geführt und der Gefahren gewahr werden, die ihnen drohen: Rückfall, Lauheit, Unglaube. Ihre mangelhafte Erkenntnis der Person Jesu Christi soll ergänzt werden, indem er ihnen als wunderbare, vollkommene Erfüllung der alttestamentlichen Vorbilder (Vorschattungen) und Prophezeiungen vor Augen geführt wird; denn nur eine lebendigere und tiefere Erkenntnis Christi kann die Lücken in ihrem geistlichen Leben ausfüllen.
INHALT UND EINTEILUNG
I. Lehrhafter Teil
a) Die Erhabenheit der Person Christi Heb 1,1 - 7,28
Grösser als die Propheten Heb 1,1-3
Grösser als die Engel Heb 1,4-14
Erste Mahnung: Wie wollen wir entfliehen Heb 2,1-4
Erniedrigung unter die Engel Heb 2,5-18
die Tatsache Heb 5-9
die Notwendigkeit Heb 10-13
der Segen Heb 14-18
Grösser als Mose Heb 3,1-6
Zweite Mahnung: Heute, so ihr seine Stimme hört Heb 3,7 - 4,13
Grösser als Aaron Heb 4,14 - 5,10Dritte Mahnung: Dass ihr nicht träge werdet Heb 5,11 - 6,20
Grösser als Melchisedek Heb 7,1-28
b) Die Erhabenheit seines hohepriesterlichen Amtes Heb 8,1 - 10,18
Der himmlische Dienst Heb 8,1-5
Der neue Mittler (Neues Testament) Heb 8,6-13
Der vollkommene Priesterdienst Heb 9,1-10
Der einmalige Opfertod Heb 9,11 - 10,18
II. Praktischer Teil
Ermahnung zur Standhaftigkeit im Glauben Heb 10,1 - 13,25
So lasset uns hinzutreten mit wahrhaftigen Heb 10,19-25
Herzen in völligem Glauben
Schrecklich ist’s, in die Hände des Heb 10,26-31
lebendigen Gottes zu fallen
Der Gerechte wird seines Glaubens leben Heb 10,32 - 11,40
(die Wolke der Glaubenszeugen)
Aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Heb 12,1-11
Vollender des Glaubens
Jaget nach dem Frieden gegen jedermann und Heb 12,12-29
der Heiligung
Bleibet fest in der Bruderliebe Heb 13,1-19
Segenswunsch und Grüsse Heb 13,20-25Schlüsselwort: Vollkommenheit (Besseres)
Schlüsselvers: «Nun aber hat er ein um so besseres Amt erhalten, als er auch eines besseren Bundes Mittler ist, der auf bessere Verheissungen hin festgesetzt worden ist» (Heb 8,6).
VERSCHIEDENES
Fünf Gefahren
1. Die Gefahr, das Heil zu missachten Heb 2,1-4
2. Die Gefahr der Verhärtung Heb 3,7.8.15
3. Die Gefahr des Rückfalls Heb 5,11; 6,1-2
4. Die Gefahr des bewussten Sündigens Heb 10,19-39
5. Die Gefahr, die Heiligung zu vernachlässigen Heb 12,14-29
Die 7 bessern Dinge
1. Ein besserer Bund Heb 7,22
2. Ein besseres Amt Heb 8,6
3. Ein besseres Erbe Heb 10,34
4. Eine bessere Hoffnung Heb 7,19
5. Ein besseres Opfer Heb 9,23
6. Eine bessere Heimat Heb 11,16
7. Eine bessere Auferstehung Heb 11,35
Die 7 ewigen Dinge
1. Ein ewiger Hoherpriester Heb 7,21
2. Ein ewiges Heil Heb 5,9
3. Ein ewiges Gericht Heb 6,2
4. Ein ewiger Geist Heb 9,14
5. Ein ewiges Erbe Heb 9,15
6. Eine ewige Erlösung Heb 9,12
7. Ein ewiger Bund Heb 13,20
Christus nach Heb 1
1. Der Erbe aller Dinge Heb 1,2
2. Der Schöpfer des Weltalls Heb 1,2
3. Der Abglanz der Herrlichkeit Heb 1,3
4. Der Abglanz Gottes Heb 1,3
5. Der Erhalter aller Dinge Heb 1,3
6. Der Retter von unseren Sünden Heb 1,3
7. Der König auf seinem Thron Heb 1,3
8. Der vom Vater Gezeugte Heb 1,5
9. Der Gesalbte Gottes Heb 1,9
10. Der Herr der Ewigkeit Heb 1,10-12