ALLGEMEINES
Man hat Jesaja den «König der Propheten» genannt. Seine Gedanken haben unerhörte Wucht und aussergewöhnliche Tiefe, und sein Stil ist von seltener Schönheit und Kraft. Zugleich ist er auch der «Evangelist unter den Propheten», indem er wie kein zweiter die Leiden und das Sterben des Gotteslammes seinem Volk vor Augen stellt.
Über die persönlichen Verhältnisse des Propheten wissen wir fast nichts. Sein Name bedeutet «Heil Jahwe» oder «Jahwe errettet». Jesaja war der Sohn des Amoz, den die jüdische Überlieferung einen Bruder des Königs Amazja nennt. Er stammte aus Juda und war wahrscheinlich in Jerusalem geboren. Seine engen Beziehungen zum Königshause lassen auf königliche oder auf alle Fälle sehr vornehme Herkunft schliessen. Er war Archivar, Biograph, Sekretär, Erzieher des Prinzen Hiskia und wahrscheinlich auch Arzt am Königshof (2Kön 20,7). Er hatte zwei Söhne, denen er symbolische Namen gab. Seine Gemahlin wurde «Prophetin» genannt. Jesaja hatte freien Zutritt zum Königshof, selbst unter dem gottlosen König Ahas wie auch unter dessen Vorgänger Jotham (750—736). Er wurde der Freund und Berater des gottesfürchtigen Hiskia (716—687), dessen Biographie er auch schrieb.
Eine jüdische Überlieferung will, dass Jesaja vor Manasse geflüchtet sei, nachdem er zum Tode verurteilt worden war, weil er die Wahrheit gesagt hatte. Von den Soldaten des Königs verfolgt, habe er sich im Stamm einer Zeder versteckt, worauf der König den Baum durchsägen liess.
Jesaja trat sein Prophetenamt im Todesjahr des Königs Usia an
(Jes 6,1). Seine Berufung erhielt er durch eine Vision Gottes und seiner Heiligkeit (Jes 6,3). Jesaja prophezeite während ungefähr
55 Jahren, das heisst von 740 bis 686, unter den vier Königen Usia, Jotham, Ahas und Hiskia. Seine Aufgabe war umfangreich: er hatte zu warnen, Gericht anzukünden, Trost zu sprechen.
ZEITABSCHNITT
Der Zeitabschnitt der Geschichte Israels, an den das Prophetenamt Jesajas gebunden war, ist von besonderer Bedeutung. Es ist die Periode, in der das Volk Gottes in direkte und fortgesetzte Beziehung tritt zu den heidnischen Grossmächten, die sich durch Jahrhunderte hindurch um die Herrschaft des Orients stritten.
Im Norden war das Assyrische Reich die damalige Hauptmacht, deren Hauptstadt Ninive an den Ufern des Tigris lag. Assyriens Ziel war die Angliederung aller kleinen westlichen Staaten, ja die Eroberung Ägyptens.
Im Süden Palästinas blühte das Ägyptische Reich. Der Ehrgeiz der Pharaonen, ebenso gross wie derjenige der Herrscher Assyriens, war sogar noch älter (Ramses).
Eine dritte Grossmacht sollte Juda härter treffen, als Assyrien und Ägypten es je hatten tun können. Das war das Babylonische Reich, dessen Hauptstadt das antike Babylon (Babel) am Euphrat war.
Zwischen diese drei Mächte eingekeilt, hätte Palästina seine Unabhängigkeit nur dadurch wahren können, dass es sich von allen dreien ferngehalten und auf Gott allein vertraut hätte. Eine solche neutrale Haltung hätte aber einen Glauben an die göttliche Bewahrung vorausgesetzt, wie er den meisten israelitischen Königen abging. Leider bestand Israels Politik darin, sich abwechslungsweise auf die eine oder andere dieser Mächte zu stützen. Dieses Verfahren, das beständig von den Propheten gerügt wurde, hatte nichts anderes zur Folge, als die verschiedenen Mächte, eine nach der andern, nach Palästina hereinzuziehen. Das Gelobte Land diente ihnen als Kampfplatz bis zu dem Tage, da es endgültig in die Hand der Chaldäer fiel. Den Propheten Jesaja sehen wir an der Quelle des nationalen Lebens stehend, in Verbindung mit Tempel und Königshof, auf dem laufenden über jedes Ereignis in der Aussen- und Innenpolitik, ln dieser Schlüsselstellung beherrscht er als wahrer Seher die Gegenwart und Zukunft seines Volkes.
VERFASSER
Der Verfasser unseres Buches ist Jesaja, der Prophet, selbst. Diese Ansicht ist sehr angefochten worden. Der erste Teil des Buches gibt zu keiner wesentlichen Kritik Anlass und wird allgemein als das Werk des Propheten Jesaja anerkannt. Hingegen sind sich viele Ausleger darin einig, dass der zweite Teil, «das Trostbuch»
(Jes 40-66), aus der Feder eines anderen Verfassers stammen müsse, nämlich eines Propheten, der zur Zeit Nehemias und Esras wirkte. Um seinem Schreiben mehr Gewicht zu verleihen, hätte er es dem des Propheten Jesaja beigefügt. Wer diese Ansicht vertritt, stützt sich dabei auf Unterschiede im Stil und auf die ausgesprochen messianische Botschaft des zweiten Teiles. Dem unbekannten Verfasser dieses Teils wird der Name «Deuterojesaja» (zweiter Jesaja) beigelegt. Wir können hier nicht auf die langen diesbezüglichen Diskussionen eingehen, doch fällt es uns nicht schwer zu glauben, dass Jesaja das ganze Buch geschrieben hat. Warum sollte Gott diesem grossen Propheten nicht eine gewaltige Vision des zukünftigen messianischen Reiches gegeben haben? Die Geschichte des biblischen Kanons lehrt uns, dass das Buch Jesaja nie aus zwei getrennten Teilen bestanden hat. In der Septuaginta, die 280 Jahre vor Chrisms entstanden ist, figuriert das Buch als ein Ganzes unter dem Namen «Buch des Jesaja». Und im Neuen Testament finden wir elf Zitate aus dem zweiten Teil, wobei Jesaja ausdrücklich als der Verfasser genannt ist (Mt 12,17-18; Apg 8,28-35; Röm 10,16-21).
BOTSCHAFT
Gott ist der «Heilige Israels»; sein Volk muss in der Heiligkeit wandeln. Wenn es nicht auf die Mahnungen zur Busse horcht, wird eine ganze Reihe von Gerichten es treffen. Aus diesen Läuterungsgerichten aber wird ein Rest hervorgehen, der dank dem Leiden und dem Tod des Messias gerettet werden wird. Dann wird die Erlösung zur Vollendung kommen: im zukünftigen Gottesreich wird die Herrlichkeit des Herrn in den Erlösten sichtbar sein, und sie werden die Schöpfung eines neuen Himmels und einer neuen Erde miterleben.
EINTEILUNG
1. Das Buch der Läuterungsgerichte über Israel und Juda
Jes 1-6
Einleitung, Klage und Anklage Jes 1
Durch Gericht zur Begnadigung Jes 2-4
Der unfruchtbare Weinberg und der Weheruf Jes 5
des Propheten
Berufung und Weihe Jesajas zum Prophetenamt Jes 6
2. Das Buch vom Immanuel, dem Kommenden
Jes 7-12
Die Verheissung und Geburt Immanuels Jes 7
Weissagungen über Damaskus und Samaria Jes 8,1 - 9,6
Israels Bestrafung durch die Assyrer Jes 9,7 - 10,4
Assyriens Übermut und Demütigung Jes 10,5-34
Der Messias und sein Friedensreich Jes 11
Das Danklied der Erlösten Jes 12
3. Das Buch der Weherufe über die Gottesfeinde
Jes 13-27
Strafgerichte über einzelne Städte, Personen Jes 13-23
und Völker
Das Weltgericht (die Jesaja-Apokalypse) Jes 24-27
4. Das Buch von Zions Bedrängnis, Gericht und Kettung
Jes 28-35
Die assyrische Gefahr (6 Weherufe) Jes 28-33
Das Endgericht über alle Völker Jes 34
Das messianische Heil Jes 35
5. Das Buch der Anhänge Jes 36-39
Die Befreiung Jerusalems Jes 36-37
Hiskias Krankheit und Genesung Jes 38
Hiskias Kompromiss Jes 39
6. Das Buch des Trostes und der Erlösung Jes 40-66
Die nationale Erlösung durch Cyrus; die Jes 40-48
Rückkehr aus der babylonischen GefangenschaftDie geistliche Erlösung durch den Gottesknecht; Jes 49-57
sein Wirken, Leiden und SiegenDas messianische Gottesreich; Herrlichkeit, Jes 58-66
Läuterung und Vollendung des Gottesvolkes
Schlüsselwort: Heiligkeit
SYMBOLIK
Das Gleichnis vom Weinberg des Herrn Jes 5
Der Herr des Weinbergs = Gott der Herr
Der Weinberg = die Gemeinde Gottes
Die Mauer = das Gesetz als Schutz
Die Kelter = Ort der Erfrischung und der Ruhe
Das Reich des Friedens Jes 11
Ein fesselndes Bild vom zukünftigen messianischen Friedensreich.
Der Fall des Königs von Babel Jes 13,1-22
Ein Bild vom Gericht und Fall Satans, der aus den himmlischen Örtern hinausgeworfen wird Off 12,7-12.
Die Söhne Jesajas Jes 1,3; 8,3.18
Schear-jaschub = Ein Rest wird sich bekehren Jes 7,3
Maher-schalal-chasdi-bas = Eilebeute - Raubebald Jes 8,3
Die christologischen Hinweise
Sie sind so zahlreich, dass wir nur die allerwichtigsten nennen:
Der Spross (Zweig) Jes 4,2
Immanuel — Gott mit uns Jes 7,14
Das Licht der Völker Jes 9,1; 49,6
Rat, Kraft, Ewigvater, Friedefürst Jes 9,5
Der kostbare Eckstein Jes 28,16
Der Knecht des Herrn Jes 42,1; 53,11
Der Auserwählte des Herrn Jes 42,1
Der Mann der Schmerzen Jes 53,3
Das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird Jes 53,7
Der Engel, der vor dem Angesicht des Herrn steht Jes 63,9
BESONDERES MERKMAL
Die Einzigartigkeit des Kapitels Jes 33.
Nirgends sonst ist in gedrängter Form eine derart lückenlose Schilderung der Leidensgestalt Jesu und seines Erlösungswerkes zu finden.
Das Kapitel kann fast vollständig wiederhergestellt werden nach Zitaten im Neuen Testament:
Jes 52,15 b | Röm 15,21 | Jes 53,7b-8 | Apg 8,32-33 |
Jes 53,1 | Joh 12,38 | Jes 53,9b | 1Pet 2,22 |
Jes 53,4 a | Mt 8,17 | Jes 53,12c | Mk 15,28 |
Jes 53,5 b | 1Pet 2,24 |
Im übrigen fallen auf fast jeden Vers (oder Versteh) eine oder mehrere Stellen im Neuen Testament, welche die genaue Erfüllung der Prophezeiung zeigen.