ALLGEMEINES
Jesus hatte die politischen Erwartungen seiner Landsleute nicht erfüllt; er hatte weder die Römer vertrieben noch den Thron eines israelitischen Weltreiches bestiegen. Sein eigenes Volk und dessen Vorsteher hatten ihn als einen Verführer von sich gestossen und dem Verbrechertod preisgegeben. Wie konnte da noch von ihm als dem Messias die Rede sein? Das Matthäus-Evangelium hält den Zweiflern einen klaren Tatsachenbericht entgegen.
VERFASSER
Den Namen des Verfassers nennt das Buch selbst nicht, doch nach der Überschrift, die es bei der Sammlung der Evangelien erhielt, ist Matthäus der Verfasser. Matthäus, auf griechisch «Mathaios», ist ein semitischer Name, der wahrscheinlich vom hebräischen Namen «Malthanja» oder «Malthias», der im Alten Testament vorkommt, abgeleitet ist und «Gabe Jahwes» bedeutet.
Über das Leben des Matthäus ist uns nicht viel bekannt. In den vier Apostelverzeichnissen steht er teils an 7. Stelle, teils an 8. Stelle
(Mt 10,3; Mk 3,18; Lk 6,15; Apg 1,13). In seinem Evangelium nennt er sich in der Berufungsgeschichte Matthäus (Mt 9,9), in den Parallelen bei Markus und Lukas dagegen heisst er Levi (Mk 2,14; Lk 5,27). Er war der Sohn eines gewissen Alphäus, doch wahrscheinlich nicht der Bruder des Jakobus, Sohn des Alphäus (Mt 10,3), weil sonst eines der Evangelien diese Tatsache hervorheben würde, wie es bei Petrus und Andreas und den beiden Söhnen des Zebedäus der Fall ist.
Nach Mt 9,9 und 10,3 war Matthäus Oberzöllner in Kapernaum, das zum Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas gehörte, wo er die römischen Steuern einzog. Dort hatte er seine erste Begegnung mit Jesus, dessen Ruf er sogleich Folge leistete (Lk 5,27-32; Mk 2,13-17; Mt 9,9-13). Die Überlieferung berichtet, dass er 15 Jahre lang in Palästina gepredigt habe und dann als Evangelist zu den Heidenvölkern gezogen sei; er soll in Äthiopien oder Mazedonien eines natürlichen Todes gestorben sein. Einige neuzeitliche Ausleger denken, dass der Verfasser nicht Matthäus, der bekehrte Zöllner und spätere Apostel, sei, noch sonst ein Augenzeuge, sondern ein Unbekannter. Ihr Hauptargument besteht darin, dass das MatthäusEvangelium nach dem Markus-Evangelium abgefasst worden ist und dass sich ein Apostel nicht dafür gehalten hätte, sein Evangelium von dem eines andern abhängig zu machen. Diese These wird aber von vielen Bibelkennern nicht angenommen.
Aus der Überschrift zum Matthäus-Evangelium ist zu schliessen, dass bei der Sammlung der neutestamentlichen Schriften keine Zweifel an der Autorschaft des Matthäus, Jünger Jesu, bestanden. Dies wird ausserdem durch einige Zitate aus den ersten Jahrhunderten bestätigt. Die Urgemeinde schreibt also das Evangelium einstimmig dem Apostel Matthäus zu.
EMPFÄNGER
Nach dem Zeugnis des christlichen Altertums war das Evangelium in aramäischer Sprache, das heisst der Volkssprache zur Zeit Jesu, abgefasst. Wir ersehen schon daraus, dass die Schrift für die Volksgenossen des Matthäus, die Juden, bestimmt war. Das geht deutlich hervor auch aus der Art und Weise, wie Jesus Christus dargestellt ist, nämlich: als der den Juden verheissene Messias. Das Evangelium setzt das Alte Testament als bekannt und anerkannt voraus; hebräische Ausdrücke, jüdische Sitten, Gebräuche und geographische Namen werden nicht erklärt (vgl. Mt 15,1-2 mit
Mk 7,3). Auch die Redewendung «auf dass erfüllet werde» und die vielen alttestamentlichen Zitate beweisen, dass Juden die Empfänger sein mussten.
ABFASSUNG
Die meisten Bibelkenner verlegen die Abfassung des Matthäus-Evangeliums in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts, zwischen die Jahre 58 bis 65 n.Chr. Sehr wahrscheinlich wurde es in Palästina geschrieben, auf alle Fälle aber vor der Zerstörung Jerusalems (im Jahr 70), da sonst sein Verfasser dieses gewaltige Ereignis in der Geschichte der Juden erwähnt hätte.
Wie die übrigen Evangelisten schreibt auch Matthäus keine lückenlose Biographie Jesu Christi. Er trifft eine Auswahl unter den Geschehnissen und den bereits vorhandenen, in den Gemeinden umgehenden kleinen Sammlungen von Jesusworten und -taten. Dabei stellt er zuerst die grossen Reden des Herrn zusammen und fügt nachher die geschichtlichen Ereignisse ergänzend hinzu. Es ist demnach zwecklos, in diesem Evangelium eine chronologische Folge zu suchen.
Als Matthäus seine Landsleute in der Zerstreuung aufsuchte, die in der Mehrzahl griechisch sprachen, wurde sein Evangelium ins Griechische übersetzt, um es auch ihnen zugänglich zu machen. In dieser Form ist es ein Bestandteil unseres Neuen Testaments geworden.
ECHTHEIT
Wir besitzen einige geschichtliche Belege für die Echtheit dieses Evangeliums. Hier seien nur die wichtigsten angeführt:
Papias, Schüler des Apostels Johannes, in der ersten Hälfte des
2. Jahrhunderts Bischof von Hierapolis in Phrygien, gestorben im Jahr 160:
Matthäus schrieb in hebräischer Sprache die Reden (logia) auf; es übersetzte sie aber ein jeder, so gut er es vermochte.»
Prof. Dr. F. Barth bemerkt dazu: Es ist nicht anzunehmen, dass Papias etwas anderes sagen will als seine Nachfolger: das Matthäus-Evangelium sei von Matthäus ursprünglich hebräisch geschrieben worden.
Irenaus, Bischof von Lyon in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts, gestorben im Jahre 200:
«Matthäus schrieb sein Evangelium unter den Hebräern in ihrer Sprache, zur Zeit, als Petrus und Paulus in Rom predigten und die Gemeinden gründeten.»
Demnach hätte der Apostel in Palästina geschrieben, und zwar ums Jahr 63—64; das war der einzige Zeitpunkt, da Petrus und Paulus sich in Rom treffen konnten.
Eusebius, Bischof von Cäsarea am Ende des 3. und Anfang des
4. Jahrhunderts:
«Da Matthäus, nachdem er begonnen hatte, den Juden zu predigen, auch zu andern Nationen gehen und predigen wollte, legte er sein Evangelium schriftlich fest, in der Sprache der Väter, und füllte so die Lücke aus, die seine Abwesenheit zurücklassen sollte.»
Prof. F. Godet bemerkt hiezu: Die Apostel verliessen Jerusalem offenbar in den Jahren 58—60. Schon im Jahr 59 scheint Paulus bei seinem letzten Besuch in Jerusalem als geistiges Haupt der Gemeinde nur noch Jakobus, den Bruder Jesu, der nicht Apostel war, angetroffen zu haben. Aus dem Zeugnis des Eusebius zu schliessen, hätte Matthäus also um das Jahr 58 sein Evangelium geschrieben.
Die gesamte altkirchliche Überlieferung bestätigt die Echtheit des Evangeliums. Auch die neuzeitliche Forschung, trotzdem sie vielfach die Autorschaft des Apostels Matthäus bezweifelt, stellt sich positiv zur Kanonizität des Evangeliums.
ZWECK UND ZIEL
Das Hauptziel des Evangeliums besteht darin, nachzuweisen, dass Jesus von Nazareth der von alters her verheissene Messias ist. Gleich zu Beginn nennt Matthäus Jesus den Christus, den Sohn Davids, des Sohnes Abrahams (Mt 1,1). In der Folge hebt er hervor, dass die im Erdenleben Jesu buchstäblich erfüllten Prophezeiungen der Hl. Schrift der beste Beweis für seine Messianität sind. Ein anderer Zweck mochte sein, durch eine wahrheitsgetreue Schilderung der Lebensgeschichte Jesu, seiner Person, seiner Lehre, seiner Wirksamkeit, die irrigen Anschauungen der Juden über den Messiaskönig und sein Reich zu widerlegen.
INHALT UND EINTEILUNG
Die Schrift des Matthäus ist mehr didaktischer (lehrhafter) als geschichtlicher Art. Den Hauptbestandteil bilden die fünf grossen Reden Jesu, die wir folgendermassen überschreiben können:
Das neue Gesetz. Die Bergpredigt eröffnet hier das Wirken Jesu Christi. Sie verkündigt das neue Gesetz des Reiches Gottes und stellt die Richtlinien für die wahre Gerechtigkeit auf, neben der die Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten verblasst (Mt 5-7).
Das Apostelamt — Unterweisung der 12 Apostel in ihrem Dienst
(Mt 10).
Das Himmelreich — eine Sammlung von Gleichnissen, welche die Entwicklung, die Macht, die Ausbreitung und die Vollendung des Himmelreiches beleuchten (Mt 13).
Strafreden an die Pharisäer und Schrift gelehrten (Mt 23).
Eschatologische (endzeitliche) Reden — eine Reihe von Reden, die untereinander verbunden sind durch den gemeinsamen Gedanken des Gerichts. Die zwei wichtigsten Abschnitte dieses Gerichts sind:
-
der Untergang Jerusalems und des jüdischen Volkes;
-
das Ende des gegenwärtigen Zeitalters mit nachfolgendem Weltgericht (Mt 24-25).
Einteilung
1. Die Person des Königs Mt 1,1 - 4,11
Stammtafel Mt 1,1-17
Geburtsgeschichte Mt 1,18 - 2,12
Die Verfolgung des Neugeborenen Mt 2,13-23
Der Vorläufer: Johannes Mt 3,1-12
Die Taufe Mt 3,13-17
Die Versuchung Mt 4,1-11
2. Die Tätigkeit des Königs in Galiläa Mt 4,12 - 13,58
Die ersten Jünger Mt 4,12-25
Die Gesetze Mt 5-7
Die Wunder Mt 8,1 - 9,35
Die Boten Mt 9,36 - 11,19
Die Grundsätze Mt 11,20 - 12,50
Die Gleichnisse Mt 13,1-52
Die Entscheidung Mt 13,53-58
3. Der Dienst des Königs auf der Wanderung Mt 14,1 - 20,34
Der Widerstand Mt 14,1 - 16,12
Das Bekenntnis des Petrus Mt 16,13-20
Die Leidensverkündigung Mt 16,21-28
Die Verklärung Mt 17,1-13
Die Lehren Mt 17,14 - 20,34
4. Der Dienst des Königs in Jerusalem Mt 21-25
Die Einzug Mt 21,1-17
Die Verwerfung Mt 21,18 - 22,14
Das Gericht über die Pharisäer Mt 22,15 - 23,39
Die Zukunftsreden Mt 24-25
5. Die Leiden des Königs Mt 26-28
Der Mordanschlag Mt 26,1-5
Die Salbung Mt 26,6-13
Das Todesmahl Mt 26,14-29
Der Gebetskampf Mt 26,30-56
Die Verurteilung Mt 26,57 - 27,31
Der Todeskampf Mt 27,32-66
Der Triumph Mt 28,1-20
Schlüsselwort: Königtum
Schlüsselvers: «Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen» (Mt 6,33).
VERSCHIEDENES
Das Evangelium Matthäus dient als Bindeglied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Es offenbart das unzerstörbare, verborgene Band, das die beiden tief-innerlich miteinander verbindet.
Der Ausdruck «Reich der Himmel» oder «Himmelreich» ist diesem Evangelium eigen; die drei andern Evangelien reden durchwegs vom «Reich Gottes». (Beweis dafür, dass das Evangelium für Juden bestimmt war; denn diese vermieden es, den Namen Gottes zu gebrauchen.)
Die Titel der Evangelien lauten in der griechischen Sprache: Evangelium nach Matthäus, nach Markus, usw. Damit soll gesagt sein, dass es nicht vier «frohe Botschaften» gibt, sondern nur ein Evangelium in den verschiedenen Formen, die ihm die Verfasser gegeben haben. Mit «Evangelium» ist in diesem Fall nicht ein Buch, sondern der Inhalt, die ganze Kunde von Jesu Sendung und Taten gemeint.
Man bezeichnet die ersten drei Evangelien als synoptisch, ihre Verfasser als Synoptiker, da sie im Stoff, in der Anordnung und im Geschichtsablauf weitgehend miteinander übereinstimmen
(Synopse = Zusammenschau).
Berichte, die ausschliesslich im Matthäus-Evangelium Vorkommen
Geschichtliches
Der königliche Stammbaum Jesu Mt 1,1-17
Die Ankündigung der Geburt Jesu an Joseph Mt 1,18-25
Die Weisen aus dem Morgenland Mt 2,1-12
Die Flucht nach Ägypten und der Kindermord Mt 2,13-23
Der Wandel des Petrus auf dem Wasser Mt 14,28-32
Die Reue und das Ende des Judas Mt 27,3-10
Der Traum der Frau des Pilatus Mt 27,19
Die Auferstehung vieler Heiliger Mt 27,52-53
Die Wache am Grab Mt 27,62-66
Die Lüge der Juden Mt 28,11-15
Heilungen
Die Heilung zweier Blinder Mt 9,27-31
Die Heilung des stummen Besessenen Mt 9,32-34
Die Heilung Blinder und Lahmer im Tempel Mt 21,14
Gleichnisse
Das Unkraut unter dem Weizen Mt 13,24-30.36-43
Der verborgene Schatz Mt 13,44
Die köstliche Perle Mt 13,45-46
Das Fischernetz Mt 13,47-52
Der Schalksknecht Mt 18,23-35
Die Arbeiter im Weinberg Mt 20,1-16
Die zwei Söhne Mt 21,28-32
Die königliche Hochzeit Mt 22,1-14
Der treue und der böse Knecht Mt 24,45-51
Die zehn Jungfrauen Mt 25,1-13
Die anvertrauten Zentner Mt 25,14-30
Sonstige Reden Jesu
Teile der Bergpredigt Mt 5,5.7-9.13-24.31-37; 6,1-18; 7,6
Die Einladung: Kommet her zu mir Mt 11,28-30
Die Warnung vor unnützem Reden Mt 12,36-37
Jesu Antwort auf das Glaubensbekenntnis des Petrus Mt 16,17-19
Jesu Gespräch mit Petrus über den Zinsgroschen Mt 17,24-27
Jesu Lehre über das Vergeben Mt 18,15-22
Ein Teil der Rede Jesu gegen die Pharisäer Mt 23,8-22
Rede vom Jüngsten Gericht Mt 25,31-46
Die letzte Verheissung Jesu Mt 28,20