ALLGEMEINES
Obwohl dieser Brief nach den Pastoralbriefen eingereiht ist, wird er zu den Gefangenschaftsbriefen gezählt. Es besteht eine enge Verbindung zwischen ihm und dem Epheser- und Kolosserbrief: Die Mitarbeiter, die bei Paulus sind, und der Überbringer des Briefes sind sich gleich. Der Philemonbrief ist einer der seltenen Briefe, die Paulus mit eigener Hand geschrieben hat (Phlm 19).
Er unterscheidet sich von den andern paulinischen Briefen dadurch, dass er weder an eine Gemeinde gerichtet ist noch irgendeine besondere Lehrfrage behandelt, sondern sich in einer ganz persönlichen Angelegenheit an einen Glaubensfreund wendet. A. Sabatier sagt darüber treffend:
«Wir sind gewohnt, uns den Apostel Paulus allezeit zum Streit gerüstet, mit Logik geharnischt und von Argumenten strotzend vorzustellen. Gerne überraschen wir ihn hier in der Ruhe, in einem Augenblick der Entspannung, bei diesem freundschaftlichen Gedankenaustausch, der recht ungezwungen, ja sogar heiter ist.»
VERFASSER
Der Verfasser nennt sich mehrmals in dem Brief und zwar: «Paulus, der Gebundene Jesu Christi» (Phlm 1) — «Ein alter Paulus» (Phlm 9) — «Ich, Paulus», habe es geschrieben mit meiner Hand» (Phlm 19).
Diese Verfasserschaft des Apostels Paulus ist auch von der altkirchlichen Überlieferung mit Ausnahme eines Falles, der von Hieronymus erwähnt wird, einstimmig anerkannt worden.
Hieronymus sagt:
«Es gab Leute, die ihn nicht vom Apostel geschrieben glaubten, oder — wenn er es war — nicht zu einer Zeit, da Christus durch ihn redete, weil er nichts Erbauendes enthält...»
Diesen Einwand widerlegt er selbst mit folgender Beweisführung:
«Aus dieser alten Meinungsverschiedenheit geht hervor, dass die Verwerfung des Buches nicht auf der Frage seines apostolischen Ursprungs beruhte, sondern auf derjenigen seiner kanonischen Würdigkeit, und dass die Echtheit nur deswegen bezweifelt wurde, weil der Gegenstand des Briefes als unter der Würde des grossen Apostels erschien... Wer so überlegt, verrät aber nur seine Unerfahrenheit.»
Die inneren und äusseren Beweise sowie der ganze Inhalt bestätigen es, dass Paulus der Verfasser dieses Briefes ist.
EMPFÄNGER
Der Empfänger ist ein Christ namens Philemon. Seinem Namen wird beigefügt: «Appia (Apphia), der Lieben, und Archippus, dem Streitgenossen, und der Gemeinde in deinem Hause» (Phlm 2).
Philemon ist ohne Zweifel das Familienoberhaupt. Er ist Bürger von Kolossä (Kol 4,9), wahrscheinlich durch einen der Jünger des Paulus zum Glauben geführt, wenn nicht durch Paulus selbst (Phlm 19), und amtet als Kirchenältester der Gemeinde zu Kolossä. Die Überlieferung macht ihn gar zum Bischof dieser Kirche und berichtet, er habe unter der Regierung Neros den Märtyrertod erlitten.
Appia ist jedenfalls die Frau Philemons. Paulus wendet sich auch an sie, da es sich um eine Familienangelegenheit handelt.
Archippus ist sehr wahrscheinlich ihr Sohn oder ein Verwandter oder Hausfreund. Nach Kol 4,17 scheint er der Hirte der Gemeinde zu Kolossä gewesen zu sein. Es ist möglich, dass er Epaphras während seiner Abwesenheit vertrat.
Mit der Gemeinde in seinem Hause sind jedenfalls die Christen von Kolossä gemeint, die sich im Hause Philemons versammelten. Es könnte aber auch nur die Hausgemeinde Philemons gemeint sein. Solche Hausgemeinden schlossen im allgemeinen den gesamten Hausstand ein, Familienangehörige und Sklaven, die zum Christentum übergetreten waren.
ABFASSUNG
Nach Phlm 10-23 wurde dieser Brief in der Gefangenschaft geschrieben. Sein Inhalt zeigt, dass es sich sehr wahrscheinlich um die Gefangenschaft in Rom handelt. Paulus erfreut sich einer grossen Freiheit, sonst könnte er nicht einen entlaufenen Sklaven aufnehmen. Ausserdem spricht er von «Banden» (Phlm 10), vielleicht eine Anspielung darauf, dass er an einen römischen Soldaten gekettet war. Da er Grüsse von Lukas und Aristarchus ausrichtet, die ihn nach Rom begleitet hatten (Apg 27,2), muss es sich um die erste Zeit der Gefangenschaft handeln; denn als er später den Philippern schreibt, sind seine beiden Kampfgenossen nicht mehr bei ihm. Daraus geht hervor, dass dieser Brief am Ende des Jahres 60 n. Chr. oder zu Beginn des Jahres 61 n. Chr. in Rom geschrieben wurde. (Einzelheiten siehe Einleitung zu den Epheser- und Kolosserbriefen.)
ECHTHEIT
Im Altertum herrschte kein Zweifel über die Echtheit dieses Briefes. Die Tatsache, dass die Kirchenväter ihn nicht zitieren, erklärt sich ganz einfach aus dem Umstand, dass er rein persönlicher Natur ist, ohne lehrhaften oder dogmatischen Inhalt.
Marcion erwähnt ihn in seinem Kanon nach den Briefen an die Kolosser und Epheser, Tertullian nach dem Philipperbrief; im Muratorischen Fragment ist er in Verbindung mit den drei Pastoralbriefen genannt. Zu diesen gewichtigen Zeugnissen kommt dasjenige der alten Syrischen und Lateinisehen Versionen. Ausserdem erwähnen Irenaus, Clemens von Alexandrien, Origenes und Eusebius den Brief.
Baur allerdings erblickt in diesem Schreiben den Keim eines christlichen Romans. Diese absonderliche Auffassung wird natürlich von weitaus den meisten Auslegern verworfen und zeigt, wie weit man kommen kann, wenn man die Bücher des Neuen Testaments in Frage stellt. Wie ganz anders tönt das Zeugnis des Gelehrten von Soden, wenn er sagt:
«Der Brief ist ein reizvolles Zeugnis der Feinfühligkeit und Liebe des Apostels sowie det Erhabenheit der Gefühle und der Sprache, mit denen Paulus die konkreten Dinge des Lebens zu behandeln wusste.»
ZWECK UND ZIEL
Der Zweck geht deutlich aus dem Inhalt des Briefes hervor. Paulus tritt für einen entronnenen Sklaven namens Onesimus ein. Dieser ist, wahrscheinlich nachdem er Philemon Geld unterschlagen hat, entlaufen. Auf der Flucht ist er mit Paulus zusammengetroffen. Vielleicht wurde Onesimus selbst verhaftet und ins gleiche Gefängnis wie Paulus gesteckt. Möglicherweise hat er aber von sich aus Paulus, den er vom Hause seines Herrn her kannte, aufgesucht. Auf alle Fälle war er zur Zeit seiner Flucht noch kein Christ, denn Paulus nennt ihn in Phlm 10 seinen geistigen Sohn. Bis jetzt hatte Philemon den Onesimus, dessen Name «Nützlich» heisst, nur als «Nichtsnutz» kennengelernt. Nun ist Onesimus aber bereit, sich vor seinem Meister zu demütigen und seine Arbeit wieder aufzunehmen. Philemon wird wohl den Gedanken des Paulus erraten und begreifen, dass dieser gerne bald einen befreiten Onesimus bei sich sehen möchte (Phlm 13-14). Onesimus soll selbst den Brief nach Kolossä bringen, dessen eigentlicher Zweck zweifellos darin besteht, dem reuigen Heimkehrer eine gute Aufnahme bei seinem Meister zu sichern.
INHALT UND EINTEILUNG
Einleitung: Anrede und Danksagung Phlm 1-7
Thema: Bitte des Paulus und ihre Beweggründe Phlm 8-21
Schluss: Mitteilungen und Grüsse Phlm 22-25Schlüsselwort: Bruderschaft
Schlüsselvers: «Nun nicht mehr als Sklave, sondern... als einen lieben Bruder» (Phlm 16).
VERSCHIEDENES
Der praktische Wert des Briefes
Paulus, der Apostel, Missionar und grosse Dogmatiker der christlichen Kirche, nimmt warmen Anteil am Wohl ihrer geringsten Glieder. Er beschäftigt sich nicht nur mit der Errettung der Seelen, sondern auch mit menschlichen und gesellschaftlichen Fragen.
Die grosse Frage der Sklaverei ist hier berührt. Indem er Onesimus seinem Meister zurückschickt, lässt Paulus die bestehende Einrichtung rechtlich gelten, ohne hier grundsätzlich dazu Stellung zu nehmen. Doch die Art und Weise, wie er schreibt, lässt Philemon in Wirklichkeit keine andere Wahl, als seinem Sklaven die Freiheit zu schenken. Die Gefühle der Brüderlichkeit, der Liebe, der christlichen Gleichheit, von denen diese Zeilen durchdrungen sind, sind auf die Länge unvereinbar mit der Aufrechterhaltung der Sklaverei.
Dieser Brief ist eine grosse Ermutigung, niemals an den am tiefsten gefallenen und unglücklichsten Menschen zu verzweifeln. Das Evangelium ist die erneuernde Macht, die den armen Sklaven, der seinen Meister bestiehlt, in einen ehrlichen Mann umwandeln kann.
«Man behauptet, es brauche drei Generationen, um einen Gentleman zu bilden; aber der Geist Christi kann in kurzer Zeit aus einem Sklaven einen geliebten Bruder machen, und zwar einen, der würdig ist, es zu sein, wenn er nur in steter Verbindung bleibt mit seinem neuen, königlichen Meister» (Rochedieu).