ALLGEMEINES
Das Buch Esther gehört zu den umstrittensten Büchern des Alten Testamentes. Selbst Juden — allerdings nicht orthodoxe Juden — haben es abgelehnt und lehnen es noch heute ab, weil sie die Meinung vertreten, dass dieses Buch mit Hass- und Rachegefühlen durchtränkt sei, während es, was den rein religiösen Wert anbetrifft, durch die andern Bücher der Heiligen Schrift weit in den Schatten gestellt werde. Wie in jeder ehrlichen Meinung ein Körnchen Wahrheit steckt, so auch hier: Das Buch Esther ist nicht frei von Hass- und Rachegedanken, das ist wohl wahr; aber es sind Gedanken, wie sie schliesslich jedes Volk hegen würde, das als Fremdkörper inmitten anderer Völker zu leben gezwungen wäre. Und das jüdische Volk lebt nun seit fast zwei Jahrtausenden als Fremdkörper unter andern Völkern; es hat zahllose, schreckliche Verfolgungen durchgemacht; es ist gehasst worden und wird gehasst und verfolgt wie kein zweites Volk auf Erden. Darf es uns da wundern, wenn das Judentum gerade in dem Buch Esther die Verwirklichung eines Traumes gesehen hat, der darin gipfelt, dass einmal nicht die Fremden das Judentum verfolgen, sondern das Judentum über die Fremden siegt? — Übrigens ist zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass dem Buch Esther schlechthin jeder religiöse Wert abgehe. Es sei nur an das berühmte Wort Esthers erinnert: «Komme ich um, so komme ich um» (Est 4,16). Dieses Wort würde keinem echten Christen zur Unehre gereichen; haben etwa die vielen Glaubenszeugen des Evangeliums nicht auch nach diesem Grundsatz gelebt und gehandelt?
Das Buch Esther schliesst die Serie der geschichtlichen Bücher des Alten Testaments ab. Im jüdischen Kanon gehört es zu den Ketubim und ist eine der fünf Rollen (Megilloth), die anlässlich der verschiedenen jüdischen Feste vorgelesen wurden. Das Buch Esther wurde am l.Tag des Purimfestes (am 14. und 15. Tag des 12. Monats, des Monats Adar) vorgelesen, zur Erinnerung an die Befreiung, die den Juden unter Esther zuteil geworden war.
ZEITABSCHNITT
Die Ereignisse dieses Buches fallen mit grösster Wahrscheinlichkeit in die Zeit zwischen der ersten und der zweiten Rückkehr aus der Gefangenschaft (die erste unter Serubabel im Jahre 538, die zweite unter Esra im Jahre 458). Chronologisch müsste das Buch zwischen dem 6. und 7. Kapitel des Buches Esra eingereiht werden. (Siehe Zeitabschnitt in der Einleitung Esra-Nehemia.)
VERFASSER
Er ist unbekannt. Vermutlich hat er das Buch nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft verfasst. Es muss sich um einen mit heissem Patriotismus erfüllten Juden handeln, der gut bewandert war in den Sitten des persischen Hofes und der über eine hervorragende schriftstellerische Begabung verfügte. Das Schriftstück ist in hebräischer Sprache verfasst, jedoch fehlt es darin nicht an zahlreichen aramäischen Ausdrücken, was verschiedene Ausleger veranlasste, Esra als den Verfasser zu betrachten. Jedenfalls darf auf Grund von Est 9,20 angenommen werden, dass Mardochai die hauptsächlichsten Unterlagen geliefert hat.
Die Echtheit des Buches ist stark angegriffen worden, und doch sind die genaue Beschreibung des königlichen Hofes und der ganzen Organisation im Persischen Reich sowie die Einsetzung des Purimfestes, das heute noch von den Juden gefeiert wird, schlagende Beweise für seine Echtheit. Ausserdem wird das Buch Esther bestätigt durch die Schriften Herodots sowie durch archäologische Funde aus jüngster Zeit.
BOTSCHAFT
Das Buch zeigt uns die Liebe, Treue und Vorsehung Gottes gegenüber seinem in der Zerstreuung lebenden Volk. Die Gemeinde Gottes ist trotz ihrer Untreue nicht von Gott verlassen. Sie lebt in der Gefangenschaft wie Schafe unter Wölfen. Der gottwidrigen Aufforderung zur Menschenvergötterung kann sie nicht entsprechen. Das Buch will Israel auch ein Beispiel der Frömmigkeit und Sittenreinheit inmitten der Üppigkeit des orientalischen Hoflebens vor Augen führen, sowie ein Vorbild gewissenhafter Beobachtung des mosaischen Gesetzes in heidnischer Umgebung.
EINTEILUNG
Verstossung der Königin Vasthi Est 1
Esthers Erhöhung zur Königin Est 2
Hamans Erhöhung und Feindschaft Est 3
Trauer Mardochais und der Juden Est 4
Esthers Gastmahl Est 5
Mardochais Ehrung durch Haman Est 6
Hamans Sturz und Hinrichtung Est 7
Rettung und Rache der Juden Est 8-9
Einsetzung des Purimfestes Est 10
Schlüsselwort: Vorsehung
TYPOLOGIE
Die Königin Esther
Durch ihre Bereitschaft, ihr Leben zu wagen für ihr Volk, und ihre Fürbitte vor dem König war sie die Vermittlerin der Errettung ihres ganzen Volkes.
Ein Bild dessen, der sein Leben tatsächlich dahingegeben hat und sein Volk fürbittend vor Gott vertritt.
In ihren Vorbereitungen, um vor dem König zu erscheinen, ist sie ein Bild der Gemeinde Jesu Christi, die sich bereitmachen soll, dem Christus-König zu begegnen.
In ihrer Begnadigung, da sie das goldene Zepter berührt, weist sie hin auf die Gnade, die jedem widerfährt, der demütig bittend vor den König der Könige tritt.
BESONDERE MERKMALE
Weder das Gesetz noch die religiösen Bräuche der Juden werden erwähnt. Das Neue Testament bezieht sich nie auf das Buch Esther, weder mit Zitaten noch Andeutungen.
Der Name Gottes wird im ganzen Buch nie genannt. Wie erklärt sich das? Wir erwähnen nur die wichtigsten Antworten:
Es handelt sich hier um die Erfüllung einer Prophezeiung
(5. Mose 31,18): «Ich werde mein Antlitz verbergen zu der Zeit um alles Bösen willen, das sie getan haben, dass sie sich zu andern Göttern gewandt haben.» Gott verbarg sein Angesicht vor seinem Volk, das vorgezogen hatte, im heidnischen Lande zu verweilen, anstatt die Gelegenheit zu benützen, mit Serubabel nach Jerusalem zurückzukehren. Obschon der Name Gottes nicht erwähnt ist, fühlt man doch in diesem Geschehen die starke Hand Gottes, die von Anfang an alles lenkt und im gegebenen Augenblick seinem Volk zu einer wunderbaren Befreiung verhilft.Einige Bibelausleger, darunter Prof. Dr. Bullinger, machen darauf aufmerksam, dass hebräische Sprachkundige im Buch Esther viermal den Namen Jahwe in Form eines Akrostichons gefunden haben. Darauf wird auch im Talmud hingewiesen.
Die Tatsache, dass die Israeliten fasteten, beteten und weinten (Est 4), zeigt, dass sie zu Gott schrien. Wem anders hätte ihr Fasten gelten können als Jahwe, ihrem Bundesgott?
VERSCHIEDENES
Praktische Lehren
Eine ernste Aufforderung, die Gelegenheiten, die Gott uns gibt, auszunützen. Diese Gelegenheiten sind unwiederbringlich und entscheiden oft über Leben und Tod, für uns und für unsere Mitmenschen.
Eine Warnung, nicht zu leben, als existiere Gott nicht; wir können seiner Gegenwart doch nicht ausweichen, noch uns seiner Gerechtigkeit entziehen. Eine Ermunterung, nicht zu zweifeln noch zu verzagen; Gott kommt seinen Kindern zu Hilfe — er ist mächtig, sie zu erretten!
Eine Mahnung, unseren Willen dem Willen Gottes unterzuordnen; denn er hat einen Plan für das Leben eines jeden Menschen.