Schriften von Charles Henry Mackintosh
Mt 14,22-33 - Petrus auf dem WasserMt 14,22-33 - Petrus auf dem Wasser
Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, um in dieser Begebenheit in Petrus ein eindrucksvolles Bild der Kirche Gottes als Ganzes oder des einzelnen Christen zu sehen. Petrus verließ das Schiff auf den Ruf Christi hin. Er gab alles auf, woran das Herz sich so gern klammert, und wandelte auf dem stürmischen Wasser – auf einem Pfad des Glaubens, einem Weg, auf dem nichts als allein schlichter Glaube eine einzige Stunde leben kann. Für alle, die berufen sind, diesen Weg zu beschreiten, heißt es: Entweder Christus oder nichts. Unsere einzige Kraftquelle besteht darin, den Blick des Glaubens fest auf Jesus gerichtet zu halten und „hinzuschauen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens“ (Heb 12,2). Sobald wir den Blick von Ihm abwenden, beginnen wir zu sinken.
Es geht in Matthäus 14,22-33 nicht um Errettung, nicht darum, das Ufer sicher zu erreichen. Ganz und gar nicht! Es geht um den Wandel des Christen in dieser Welt; es geht um den praktischen Wandel eines Menschen, der dazu berufen ist, die Welt zu verlassen, alles aufzugeben, worauf sich die bloße Natur stützt, irdische Dinge, menschliche Ressourcen und natürliche Hilfsmittel loszulassen – um mit Jesus zu wandeln und sich dabei mit Ihm über die Macht und den Einfluss sichtbarer und zeitlicher Dinge zu erheben.
Das ist die hohe Berufung des Christen und der ganzen Kirche Gottes im Gegensatz zu Israel, dem irdischen Volk Gottes. Wir sind aufgerufen, durch Glauben zu leben; in ruhigem Vertrauen über den Umständen dieser Welt zu wandeln; in heiliger Gemeinschaft mit Jesus zu wandeln. Ebendanach suchte Petrus, als er sagte: „Herr, wenn du es bist, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf den Wassern“ (Mt 14,28). Das war der springende Punkt: „Wenn du es bist …“ Wenn nicht Er, Jesus, es wäre, so wäre es der größte Fehler, den Petrus begehen könnte, wenn er das Schiff verließe. Wenn es jedoch tatsächlich Jesus selbst war – dieser Gesegnete; dieser Herrlichste, der Gnädigste, den Petrus sah, wie Er sich dort friedvoll auf der Oberfläche der aufgewühlten Tiefe bewegte –, dann war es ganz gewiss das Höchste, das Glückseligste und das Beste, was Petrus tun konnte, jedes irdische und natürliche Hilfsmittel aufzugeben, um zu Jesus zu kommen und die wunderbare Glückseligkeit der Gemeinschaft mit Ihm zu erfahren.
In diesen drei Sätzen steckt eine gewaltige Kraft, Tiefe und Bedeutung: „Wenn du es bist“, „befiehl mir, zu dir zu kommen“, „auf den Wassern“. Man beachte, dass es heißt: „zu dir …auf den Wassern“. Nicht Jesus kam zu Petrus ins Schiff – so gesegnet und kostbar das auch ist –, sondern Petrus kam zu Jesus auf dem Wasser. Es ist eine Sache, wenn Jesus in unsere Lebensumstände kommt, unsere Ängste besänftigt, unsere Sorgen lindert und unsere Herzen beruhigt; aber es ist eine ganz andere Sache, wenn wir uns vom Ufer der Umstände oder vom Schiff der natürlichen Hilfsmittel entfernen, um in ruhigem Sieg über die Umstände zu wandeln, um bei Jesus zu sein, wo Er ist. […]
Wissen wir die wunderbare Gnade, die in den Worten „Seid guten Mutes, ich bin es; fürchtet euch nicht!“ (Mt 14,27) mitschwingt, womöglich nicht zu schätzen? O doch! Diese Worte sind sehr kostbar. Außerdem könnte Petrus ihre Süße geschmeckt haben, ja in ihnen geschwelgt haben, auch wenn er das Schiff überhaupt nicht verlassen hätte. Es ist gut, zwischen diesen beiden Dingen zu unterscheiden. Sie werden sehr oft verwechselt. Wir alle neigen dazu, uns im Alltag auf dem Gedanken auszuruhen, dass der Herr bei uns ist und seine Barmherzigkeit uns auf unserem täglichen Pfad umgibt. Wir verweilen inmitten der Beziehungen der Natur, der Freuden der Erde und in den Segnungen, die unser gnädiger Gott so großzügig über uns ausgießt. Wir klammern uns an die Umstände, anstatt nach einer engeren Gemeinschaft mit einem verworfenen Christus zu streben. Auf diese Weise erleiden wir einen immensen Verlust.
Ja, ich sage mit Absicht: immenser Verlust. Es ist nicht so, dass wir Gottes Segen und Barmherzigkeit weniger wertschätzen sollten, doch wir sollten Ihn selbst mehr wertschätzen. Ich glaube, Petrus hätte viel verloren, wenn er im Schiff geblieben wäre. Manche mögen es als Ruhelosigkeit und Dreistigkeit abtun, dass er das Schiff verlassen und zu Jesus gehen wollte; ich glaube, es war die Frucht des ernsthaften Verlangens nach seinem geliebten Herrn – ein tiefes Verlangen, Ihm nahe zu sein, koste es, was es wolle. Er sah seinen Herrn auf dem Wasser wandeln und sehnte sich danach, mit Ihm zu wandeln, und sein Verlangen war berechtigt. Das gefiel dem Herzen Jesu.
Außerdem hatte Petrus die Befugnis seines Herrn, das Schiff zu verlassen. Das Wort „Komm!“ – ein Wort von mächtiger moralischer Kraft – drang in sein Herz und zog ihn aus dem Schiff, um zu Jesus zu gehen. Das Wort Christi war die Befugnis, diesen seltsamen, geheimnisvollen Weg zu beschreiten; und die Gegenwart Christi gab ihm die Kraft, diesen Weg zu beschreiten. Ohne dieses Wort wagte er nicht, sich auf den Weg zu machen; ohne die Gegenwart Christi konnte er nicht weitergehen. Es war seltsam, es war jenseits der Natur, auf dem See zu gehen; aber Jesus wandelte dort, und der Glaube konnte mit Ihm wandeln. So dachte Petrus, und deshalb „stieg er aus dem Schiff und ging auf den Wassern und kam zu Jesus“ (Mt 14,29).
Dies ist ein eindrucksvolles Bild für den wahren Weg eines Christen – den Weg des Glaubens. Die Befugnis für diesen Weg ist das Wort Christi. Die Kraft, ihn zu beschreiten, liegt darin, den Blick fest auf Christus zu richten. Es geht nicht um Richtig oder Falsch. Es war nicht falsch, im Schiff zu bleiben. Aber die Frage ist: „Was ist unser Ziel?“ Ist es das feste Ziel der Seele, Jesus so nahe wie möglich zu kommen? Wünschen wir uns eine tiefere, engere und vollere Gemeinschaft mit Ihm? Ist Er alles für uns? Können wir all das aufgeben, woran sich die bloße Natur klammert, und uns nur auf Jesus stützen? Er lädt uns in seiner unendlichen Liebe zu sich ein. Er sagt: „Komm!“ Sollten wir uns weigern? Sollten wir zögern und zurückbleiben? Sollten wir uns an das Schiff klammern, während Jesus uns einlädt: „Komm!“?
Man könnte vielleicht sagen, dass Petrus versagte und es deshalb besser, sicherer und klüger gewesen wäre, im Schiff zu bleiben, als im Wasser zu versinken. Es ist besser, keinen herausragenden Platz einzunehmen, als ihn eingenommen zu haben und darin zu versagen. Ja, Petrus versagte, aber warum? Weil er das Schiff verlassen hatte? Nein, sondern weil er aufgehört hatte, auf Jesus zu schauen. „Als er aber den starken Wind sah, fürchtete er sich; und als er anfing zu sinken, schrie er und sprach: Herr, rette mich!“ (Mt 14,30). So erging es dem armen Petrus.
Sein Fehler bestand nicht darin, dass er das Schiff verließ, sondern darin, dass er auf die Wellen und den Wind schaute; dass er auf seine Umstände schaute anstatt auf Jesus. Er hatte einen Weg eingeschlagen, der nur durch Glauben beschritten werden konnte; einen Weg, auf dem er, wenn er Jesus nicht hatte, überhaupt nichts hatte: weder Schiff noch Schiffsplanke, woran er sich hätte klammern können. Mit einem Wort: Es ging um Christus oder nichts. Es ging darum, entweder mit Jesus auf dem Wasser zu wandeln oder ohne Ihn unterzugehen. Nur der Glaube kann das Herz auf einem solchen Weg stützen. Doch der Glaube konnte Petrus stützen; denn der Glaube kann inmitten der rauesten Wellen und des stürmischsten Himmels leben. Der Glaube kann auf den rauesten Wassern wandeln; der Unglaube kann nicht einmal auf dem ruhigsten Wasser wandeln.
Aber Petrus versagte. Ja, und was dann? Ist sein Versagen ein Beweis dafür, dass es falsch war, dem Ruf seines Herrn zu gehorchen? Tadelte Jesus ihn dafür, dass er das Schiff verlassen hatte? Nein, das wäre nicht seine Art gewesen. Er konnte nicht seinen armen Diener auffordern zu kommen und ihn dann für sein Kommen tadeln. Er kannte die Schwachheit des Petrus und konnte sie nachempfinden, und daher lesen wir: „Sogleich aber streckte Jesus die Hand aus, ergriff ihn und spricht zu ihm: Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ (Mt 14,31). Er sagte nicht: „O Petrus, du strebst so ruhelos vorwärts; warum hast du das Schiff verlassen?“ Nein, sondern: „Warum hast du gezweifelt?“ So lautete der sanfte Tadel. Und wo war Petrus, als er diesen Tadel hörte? In den Armen seines Herrn! Was für ein Ort! Was für eine Erfahrung! War es nicht wert gewesen, das Schiff verlassen zu haben, um eine solche Glückseligkeit zu erfahren? Ganz gewiss! Petrus hatte recht daran getan, das Schiff zu verlassen; und obwohl er auf dem herrlichen Weg, den er betreten hatte, versagte, führte ihn dies nur dazu, seine eigene Schwäche und Nichtigkeit sowie der Gnade und Liebe seines Herrn besser zu verstehen.
Lieber christlicher Leser, welche Lehre können wir aus all dem für uns ziehen; wie können wir daraus Nutzen für uns ziehen? Ganz einfach: Jesus ruft uns heraus aus allem Irdischen, das zeitlich ist und vergeht, und aus den Dingen, die wir mit unseren Sinnen empfinden. Wozu? Damit wir mit Ihm wandeln. Er ruft uns auf, all unsere irdischen Hoffnungen und unser kreatürliches Vertrauen aufzugeben – jene Stützen und Hilfsmittel, auf die sich unsere armen Herzen stützen. Seine Stimme ist weit über dem Getöse der Wellen und Stürme zu hören, und diese Stimme sagt: „Komm!“ Lasst uns gehorsam sein. Lasst uns von ganzem Herzen auf seinen Ruf hören. „Lasst uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend“ (Heb 13,13). Er möchte uns in seiner Nähe haben, wir sollen mit Ihm wandeln und uns auf Ihn stützen und nicht auf die Umstände schauen, sondern allein und immer auf Ihn.