Schriften von Charles Henry Mackintosh
2Mo 20 - Welche Bedeutung hat das Gesetz für den Christen?
Wozu wurde das Gesetz gegeben?Wozu wurde das Gesetz gegeben?
In dem Gesetz legt Gott fest, wie der Mensch sich verhalten sollte, und Er spricht einen Fluch über ihn aus, wenn er diesen Anforderungen nicht entspricht. Nun aber findet der Mensch, wenn er sich im Licht des Gesetzes prüft, dass er gar nicht imstande ist zu erfüllen, was das Gesetz fordert. Wie könnte er nun durch das Gesetz Leben erlangen? Das Gesetz verheißt ihm zwar Leben und Gerechtigkeit, wenn er die Gebote hält; aber es zeigt ihm schon vom ersten Augenblick an, dass er sich in einem Zustand des Todes und der Ungerechtigkeit befindet. Er ist also von Anfang an auf die Dinge angewiesen, die das Gesetz ihm als Ziele hinstellt. Wie kann er diese nun erreichen? Um so zu sein, wie es das Gesetz verlangt, muss er Leben und Gerechtigkeit haben; und wenn ihm beides fehlt, ist er „verflucht“. Tatsächlich aber besitzt er weder Leben noch Gerechtigkeit. Was soll er tun? Das ist die Frage. Mögen die ihm Antwort geben, die „Gesetzlehrer sein wollen“ (1Tim 1,7); mögen sie in befriedigender Weise einem aufrichtigen Gewissen Rede stehen, das ohne Hoffnung ist angesichts der Heiligkeit und Unerbittlichkeit des Gesetzes und der unverbesserlichen menschlichen Natur.
Wozu dann aber das Gesetz? Es kam, wie der Apostel uns belehrt, „daneben ein, auf dass die Übertretung überströmend würde“ (Röm 5,20). Das zeigt uns sehr klar den wahren Zweck des Gesetzes. Es kam daneben ein, um die Sünde als Sünde erkennbar zu machen (Röm 7,13).
Es gleicht in gewissem Sinn einem vollkommenen Spiegel, der von Gott gegeben wurde, um dem Menschen sein moralisches Verderben zu zeigen. Wenn ich mich mit unordentlichen, zerrissenen Kleidern vor einen Spiegel stelle, zeigt er mir zwar die Unordnung, hilft aber dem Übel nicht ab. Wenn ich mit einem guten Senkblei eine unebene Mauer untersuche, zeigt es mir wohl die hässliche Ausbuchtung, beseitigt sie aber nicht. Wenn ich in dunkler Nacht mit einer Laterne ausgehe, lässt sie mich wohl alle Hindernisse und Schwierigkeiten meines Weges erkennen, räumt sie aber nicht weg. Natürlich bringen weder der Spiegel noch das Senkblei noch die Lampe die Übel hervor, die durch sie ans Licht gebracht werden. Sie schaffen weder die Übel noch beseitigen sie diese; sie offenbaren sie nur. Genauso ist es mit dem Gesetz; es kann das Böse im Herzen des Menschen weder hervorbringen noch beseitigen, aber es offenbart es mit untrüglicher Genauigkeit. „Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt als nur durch Gesetz. Denn auch von der Lust hätte ich nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Lass dich nicht gelüsten“ (Röm 7,7). Der Apostel sagt nicht, dass der Mensch keine Lust gehabt, sondern dass er nichts davon gewusst habe. Die Lust war in ihm; aber er war in völliger Unwissenheit über sie, bis die „Leuchte“ des Allmächtigen (Hiob 29,3) sein Herz erhellte und ihm das dort verborgene Böse offenbarte. So kann jemand in einem dunklen Zimmer von Staub und Unordnung umgeben sein, ohne es zu merken; sobald aber ein Sonnenstrahl ins Zimmer fällt, kann er alles unterscheiden. Haben die Sonnenstrahlen den Staub hervorgebracht? Natürlich nicht. Der Staub war vorhanden, und die Sonnenstrahlen bewirkten nur, dass er gesehen wurde. Das ist eine einfache Erklärung der Wirkung des Gesetzes. Es beurteilt den Charakter und den Zustand des Menschen. Es beweist ihm, dass er ein Sünder ist, und stellt ihn unter den Fluch. Es beurteilt den Menschen und verflucht ihn, wenn er seinen Forderungen nicht völlig entspricht.
Niemals also kann ein Mensch durch das Gesetz Leben und Gerechtigkeit erlangen, weil das Gesetz ihn nur verurteilt; und solange nicht der Zustand des Sünders oder der Charakter des Gesetzes gänzlich verändert wird, kann das Gesetz nicht anders, als den Sünder zu verfluchen. Es erlaubt keine Schwachheiten und Gebrechen und begnügt sich nicht mit einem unvollkommenen, wenn auch aufrichtigen Gehorsam. Sonst wäre es nicht mehr „heilig und gerecht und gut“ (Röm 7,12). Gerade weil das Gesetz aber diesen Charakter trägt, kann der Sünder kein Leben daraus erlangen. Würde er es erlangen können, so wäre das Gesetz nicht vollkommen oder der Mensch kein Sünder. „Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20). Der Apostel sagt nicht: „Durch Gesetz kommt die Sünde“, sondern die „Erkenntnis der Sünde“. „Denn bis zu dem Gesetz war Sünde in der Welt; Sünde aber wird nicht zugerechnet, wenn kein Gesetz ist“ (Röm 5,13). Die Sünde war vorhanden, und es bedurfte nur des Gesetzes, um sie als „Übertretung“ zu enthüllen. Wenn ich zu meinem Kind sage: „Du darfst dieses Messer nicht anrühren“, dann wird gerade dieses Verbot die Neigung des Kindes, seinen eigenen Willen zu tun, ans Licht bringen. Er bewirkt die Neigung nicht, sondern offenbart sie nur.
Der Apostel Johannes sagt: „Die Sünde ist die Gesetzlosigkeit“ (1Joh 3,4). Der Begriff „Übertretung“ würde den Gedanken des Heiligen Geistes in dieser Stelle nicht richtig wiedergeben, denn um ein „Übertreter“ sein zu können, muss ich zunächst eine eindeutig festgelegte Regel oder Richtschnur haben. „Übertretung bedeutet das Überschreiten einer verbotenen Linie, und eine solche Linie finde ich im Gesetz. Es sagt: „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht ehebrechen“, „Du sollst nicht stehlen“ usw. Damit wird eine Regel oder eine Richtschnur vor mich gestellt, aber nun entdecke ich in mir selbst gerade jene Neigungen, gegen die die Verbote des Gesetzes gerichtet sind. Allein die Tatsache, dass mir geboten wird, nicht zu töten, zeigt, dass Mordlust in meiner Natur vorhanden ist (vgl. Röm 3,15). Es wäre sinnlos, nur eine Sache zu verbieten, wenn ich gar keine Neigung hätte, sie zu tun. Die Offenbarung des Willens Gottes verrät also die Neigung meines Willens, das zu sein, was ich nicht sein sollte. Das ist einfach und klar und entspricht vollkommen der apostolischen Belehrung über diese Sache.