Charles Henry Mackintosh
Schriften von Charles Henry Mackintosh
1Sa 25 - Kapitel 4 - Nabal und Abigail1Sa 25 - Kapitel 4 - Nabal und Abigail
15. VIII. Es ist interessant und belehrend, bei der Betrachtung der Geschichte Davids die verschiedenen Eindrücke zu beobachten, welche seine Person auf diejenigen machte, mit denen er in Berührung kam, sowie die Stellung zu sehen, welche letztere infolge jener Eindrücke einnahmen. Es war eine bedeutende Glaubenskraft dazu nötig, um in dem verachteten und verbannten David den zukünftigen König von Israel zu unterscheiden. Allen, die nur nach menschlichen Grundsätzen urteilten, mochte sein Verhalten Saul gegenüber unrichtig und sein Umherziehen im Lande unschicklich und ungerechtfertigt erscheinen; aber der Glaube urteilte völlig anders. In 1Sam 25 werden uns zwei Personen vorgeführt, die in solch entgegengesetzter Weise von der Person und dem Verhalten Davids berührt wurden.
16. VIII. „Es war ein Mann in Maon, der seine Geschäfte zu Karmel hatte; und der Mann war sehr vermögend und hatte dreitausend Schafe und tausend Ziegen; und er war während der Schur seiner Schafe in Karmel. Und der Käme des Mannes war Nabal, und der Name seines Weibes Abigail“ (V. 2. 3). Dieser Nabal war ein Israelit wie David; aber welch ein Unterschied bestand schon in den äußeren Umständen dieser beiden Männer! Nabal war ein sehr reicher Mann und genoß seine Reichtümer, während David, obwohl er der gesalbte König von Israel war, nicht hatte, wohin er sein Haupt legen sollte, sondern heimatlos von Berg zu Berg, von Höhle zu Höhle umherwanderte. Nabal war ferner ein selbstsüchtiger Mann und hatte kein Mitgefühl mit David. Wenn er Segnungen besaß, so besaß er sie nur für sich selbst; war er vermögend, so war es es nur für sich selbst und dachte nicht im Entferntesten daran, anderen von seinem Vermögen etwas zukommen zu lassen, am allerwenigsten David und seinen Gefährten. Auch war er undankbar und vergeßlich, ihm geleisteten Diensten gegenüber.
17. VIII. „Und David hörte in der Wüste, daß Nabal seine Schafe schor. Da sandte David zehn Knaben, und David sprach zu den Knaben: Ziehet nach Karmel hinauf, und gehet zu Nabal und fraget ihn in meinem Namen nach seinem Wohlergehen etc.“ (V. 4. 5.). David war in der Wüste; das war sein Platz für die damalige Zeit. Nabal war umgeben von allen Bequemlichkeiten des Lebens. David verdankte all seine Trübsale und Entbehrungen dem, was er war; Nabal seinerseits verdankte all seinen Besitz dem, was er war — ein Israelit, welchem Gott Verheißungen für diese Erde gegeben hatte. Nun, wir finden gewöhnlich, daß da, wo aus der religiösen Stellung und dem religiösen Bekenntnis Vorteile gezogen werden, viel Selbstsucht vorhanden ist. Wenn das Bekenntnis der Wahrheit nicht aufrichtig ist und infolge dessen nicht mit Selbstverleugnung gepaart geht, so wird es stets mit Selbst gefall igkeit und Selbstbefriedigung verbunden sein. Gerade in unseren Tagen begegnet man vielfach einem hochtönenden Bekenntnis, verbunden mit einem niedrigen Geist der Weltförmigkeit. Das ist ein böses Übel, welches schon zu den Zeiten der Apostel hervortrat und den treuen Knechten des Herrn viel Sorge und Kummer bereitete. „Viele wandeln“, schreibt Paulus an die Philipper, „von denen ich euch oft gesagt habe, nun aber auch mit Weinen sage, daß sie die Feinde des Kreuzes Christi sind: deren Ende Verderben, deren Gott der Bauch und deren Ehre in ihrer Schande ist, die auf das Irdische sinnen“ (Kap. 3, 18. 19).
18. VIII. Die Personen, an welche der Apostel denkt, werfen nicht allen christlichen Schein von sich; weit davon entfernt: „viele wandeln“, sagt er. Dieser Ausdruck beweist, daß sie an einem gewissen Maß von christlichem Bekenntnis festhalten. Sie würden sich ohne Zweifel sehr beleidigt fühlen, wenn man ihnen den Namen „Christen“ absprechen wollte. Aber sie sind Feinde des Kreuzes Christi. Sie wünschen keine praktische Einsmachung mit einem gekreuzigten Christus. Jedes Maß von äußerem Christentum, das man ohne Selbstverleugnung besitzen kann, ist ihnen willkommen; aber nicht ein Jota mehr als das. Ihr Gott ist der Bauch, und sie sinnen auf irdische Dinge.
19. VIII. Nabal war ein treffendes Beispiel einer solchen Gesinnung. Hängend an seinem Besitz und verhärtet durch seinen Reichtum, kümmerte er sich nicht um den Gesalbten Gottes, noch hatte er irgendwelche Gefühle für ihn in der Zeit seiner schmerzlichen Verbannung und seines Umherirrens in der Wüste. Hören wir, was er zu antworten hat auf die freundlichen und herzlich bittenden Worte Davids: „Wer ist David, und wer der Sohn Isais? Heutzutage sind der Knechte viele, die davonlaufen, ein jeder seinem Herrn. Und ich sollte mein Brot und mein Wasser nehmen und mein Geschlachtetes, das ich für meine Scherer geschlachtet habe, und es Männern geben, von denen ich nicht weiß, woher sie sind“ (V. 10. 11). Was? er sollte von dem, was er zur Bewirtung seiner Schafscherer zugerichtet hatte, nehmen und es David senden, dem unbekannten Fremdling? Nimmermehr! Wer war David und woher kam er? Nabal wußte es nicht und wollte es nicht, wissen. Mochte David auch seine Knechte beschützt und ihnen nichts zuleide getan haben, sodaß nicht das Geringste von ihnen vermißt worden war, während sie draußen ihre Herden weideten, so war dies alles doch für Nabal kein Grund, dem Sohne Isais freundlich zu begegnen. Er kannte David nicht, er hatte kein Herz für ihn und bedachte nicht, daß er mit seiner Antwort den Gesalbten Jehovas schmähte und in seiner Torheit und Selbstsucht das große Vorrecht von sich wies, den Bedürfnissen des zukünftigen Königs von Israel zu dienen.
20. VIII. Alle diese Dinge sind bedeutungsvoll und belehrend für uns. Eine wirkliche Energie des Glaubens ist nötig, um in der Zeit der Verwerfung Christi Seine Person zu erkennen und mit ganzem Herzen an Ihm zu hangen. Man kann sich in der Tat kaum etwas Selbstsüchtigeres vorstellen, als jenen Zustand des Herzens, welcher uns bereitwillig alles hinnehmen läßt, was Jesus zu geben hat, ohne daß wir nur einen Augenblick daran denken, Ihm etwas dafür wiederzugeben. „Wenn ich nur errettet bin, so ist alles andere unwesentlich“, so denkt im Geheimen manche Seele. Ach! es wäre aufrichtiger zu sagen: „Wenn ich nur meiner Errettung gewiß bin, so liegt wenig daran, ob Christus durch mich verherrlicht wird oder nicht“.
21. VIII. Genau so handelte Nabal. Die Vorteile, welche ihm von David geboten wurden, nahm er gerne an; sobald aber David auf sein Mitgefühl und seine Hilfe Anspruch machte, offenbarte sich seine fleischliche, habsüchtige Gesinnung. „Und ein Knabe von den Knaben berichtete der Abigail, dem Weibe Nabals, und sprach: Siehe, David hat Boten aus der Wüste gesandt, um unseren Herrn zu segnen; aber er hat sie angefahren. Und doch sind die Männer sehr gut gegen uns gewesen; und es ist uns nichts zuleide geschehen, und wir haben nicht das Geringste vermißt alle die Tage, die wir mit ihnen umhergezogen sind, als wir auf dem Felde waren. Sie sind eine Mauer um uns gewesen, bei Nacht wie bei Tage, alle die Tage, die wir bei ihnen waren und das Kleinvieh weideten“ (V. 14—16). Das war alles gut und wohl. Nabal konnte den Vorteil des Schutzes Davids wohl ermessen, aber seine Person hatte keinen Wert für ihn. So lange Davids Männer eine Mauer um seine Herde bildeten, waren sie ihm willkommen; sobald sie aber einen Gegendienst von ihm verlangten, wurden sie geschmäht und hart angefahren.
22. VIII. Nabals Handlung stand auch in unmittelbarem Widerspruch mit der Heiligen Schrift, wie sein Geist mit dem Geiste des Verfassers derselben. Im 15. Kapitel des 5. Buches Mose lesen wir: „Wenn ein Armer unter dir sein wird, irgend einer deiner Brüder, in einem deiner Tore in deinem Lande, das Jehova, dein Gott, dir gibt, so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand vor deinem Bruder, dem Armen, nicht verschließen; sondern du sollst ihm deine Hand weit auftun und ihm willig auf Pfand leihen, was hinreicht für den Mangel, den er hat. Hüte dich, daß nicht in deinem Herzen ein Belialswort sei, daß du sprechest: Es naht das siebente Jahr, das Erlaßjahr! und daß dein Auge böse sei gegen deinen Bruder, den Armen, und du ihm nichts gebest, und er über dich zu Jehova schreie, und Sünde an dir sei!“ Kostbare Worte! Die Gnade hält das Herz allezeit weit geöffnet jedem bedürftigen Gegenstand gegenüber, während die Selbstsucht es vor jedem Bittsteller verschließt. Nabal hätte dem Worte Gottes gehorchen sollen, unbekümmert darum, ob ein David oder irgend ein anderer seiner armen Brüder sich an ihn gewandt hätte; aber seine Selbstsucht war zu tief verwurzelt, um ihm zu glauben, dem Worte Gottes zu gehorchen oder seine Liebe zu dem Gesalbten Jehovas zu beweisen.
23. VIII. Nabals selbstsüchtiges Handeln führte indes zu sehr wichtigen Ergebnissen. Bei David zunächst brachte es manches ans Licht, das geeignet war, ihn in der Gegenwart Gottes tief zu demütigen. Er verläßt bei dieser Gelegenheit den erhabenen Platz, den er durch die Gnade Gottes gewöhnlich einnahm. Ohne Zweifel war es keine leichte Probe für ihn, einer solch niedrigen, undankbaren Gesinnung bei einem Manne zu begegnen, für dessen Hab und Gut er eine „Mauer“ gewesen war. Auch war es bitter, auf Grund seiner gegenwärtigen Lage, in welche doch nur seine Treue ihn gebracht hatte, des Abfalls von seinem Herrn angeklagt zu werden, während er doch gerade in jenem Augenblick wie ein Rebhuhn über die Berge hin gejagt wurde. Alles das war schwer zu ertragen, und in der ersten Aufwallung seiner Gefühle spricht David Worte aus, welche die göttliche Probe nicht zu ertragen vermochten. „Gürtet ein jeder sein Schwert u m“, sagt er. Eine solche Sprache hätten wir nicht gerade von einem Manne erwartet, der bis dahin in einem so demütigen Geiste vorangegangen war. Die oben angeführte Schriftstelle gibt uns das Mittel an, zu welchem der arme Bruder seine Zuflucht nehmen sollte, wenn seine Bitte unerhört blieb. Es heißt: „Daß er über dich zu Jehova schreie“, nicht aber: daß er sein Schwert ziehe, um sich selbst zu rächen? Nabals Selbstsucht hätte nimmermehr durch das Schwert Davids geheilt werden können, noch würde der Glaube jemals zu einem solchen Mittel greifen. Im Blick auf Saul handelte David ganz anders; er überließ seinen Feind Gott, und selbst wenn er sich einmal verleiten ließ, einen Zipfel von dem Oberkleide Sauls abzuschneiden, schlug ihm das Herz. Warum verhielt er sich gegen Nabal nicht gerade so? Ohne Zweifel weil er die innige Gemeinschaft mit Gott verloren hatte; er war nicht auf seiner Hut und der Feind benutzte dies zu seinem Vorteil. Die Natur wird uns stets dahin leiten, unser Recht zu suchen und jede Beleidigung mit gleicher Münze zu bezahlen. Wie oft murrt das Herz im Stillen: „Er (Sie) hatte kein Recht, mich so zu behandeln. Ich kann es wirklich nicht ertragen, und ich brauche es mir auch nicht gefallen zu lassen!“ Vielleicht ist es so, vielleicht hat man dir Unrecht getan; aber der Mann des Glaubens steht über diesen Dingen. Er sieht in allem Gott. Die Eifersucht Sauls, die Torheit und Bosheit Nabals, alles wird betrachtet als aus der Hand Gottes kommend und wird in Seiner heiligen Gegenwart behandelt. Das Werkzeug ist für den Glauben nichts, Gott ist alles. Dieses Bewußtsein gibt Kraft, um durch alle Umstände und Schwierigkeiten ruhig hindurchzugehen. Erblicken wir aber nicht Gott in allen Dingen, so werden wir immer neue Schlingen und Fallstricke auf unserem Wege finden.
24. VIII. Wenden wir uns jetzt zu Abigail, dem Weibe Nabals, einer Frau „von guter Einsicht und schön von Gestalt“. Das Haus des törichten, geizigen Nabal muß für eine solche Frau ein schwieriger Aufenthaltsort gewesen sein; aber sie glaubte an Gott, vertraute auf Ihn und wurde, wie wir sehen werden, nicht beschämt. Ihre Geschichte ist voll Belehrung und Ermunterung für alle, welche sich durch unvermeidliche oder unverbrüchliche Verbindungen gehindert und eingeschränkt sehen. Allen solchen ruft die Geschichte Abigails zu: Sei geduldig, warte auf Gott und denke nicht, daß dir jede Gelegenheit zum Zeugnis für den Herrn abgeschnitten sei! Der Herr kann durch ein stüles, sanftmütiges Verhalten viel verherrlicht werden, und am Ende wird Er gewiß Erleichterung und Sieg geben. Allerdings haben manche es sich selbst zuzuschreiben, daß sie sich in solchen Verbindungen befinden; aber wenn sie ihre Torheit und Sünde einsehen und aufrichtig vor Gott bekennen, wenn die Seele wirklich vor Gott gebeugt und gedemütigt ist, so wird selbst in solchen Fällen das Ende Segen und Frieden sein.
25. VIII. Abigail diente tatsächlich als Werkzeug, um keine geringere Person als den Gesalbten des Herrn von einem verkehrten Wege abzubringen. Ohne Zweifel war ihr eigener Pfad bis dahin ein schmerzlicher und prüfungsreicher gewesen. Doch der Augenblick kam, wo die Gnade, die in ihr wirkte, ans Licht treten sollte. Sie hatte im Verborgenen gelitten, und jetzt stand sie im Begriff, zu einem ungewöhnlich hohen Platz erhoben zu werden. Wenige hatten ihr stilles, geduldiges Zeugnis beobachtet; aber viele sollten ihre Erhebung sehen. Das Kostbarste des Dienstes Abigails bestand nicht darin, daß sie Nabal von dem Schwerte Davids rettete, sondern daß sie David davor bewahrte, das Schwert zu ziehen. „David aber hatte gesagt: Fürwahr, umsonst habe ich alles behütet, was diesem Mehschen in der Wüste gehörte, sodaß nicht das Geringste vermißt wurde von allem, was sein ist; und er hat mir Böses für Gutes vergolten! So tue Gott den Feinden Davids, und so füge Er hinzu, wenn ich von allem was sein ist, bis zum Morgenlicht übriglasse, was männlich ist!“
26. VIII. David hatte den allein glücklichen und heiligen Platz der Abhängigkeit von Gott verlassen, und zwar nicht einmal um der Gemeinde des Herrn, sondern um seiner selbst willen, um sich zu rächen an einem Manne, der ihn übel behandelt hatte. Welch ein Glück für ihn, daß es in dem Hause Nabals eine Abigail gab, die von Gott dazu gebraucht werden sollte, um ihn zu bewahren, daß er nicht gerade so töricht handelte wie Nabal! Das war es gerade, was der Feind wünschte. Er benutzte die Selbstsucht Nabals, um David zu Fall zu bringen. Wie gut, wenn der Gläubige die Wirksamkeit Satans entdeckt! Aber um dies zu können, muß er viel in der Gegenwart Gottes sein; denn dort allein findet er Licht und geistliche Kraft, um einem solchen Widersacher zu begegnen. Außerhalb dieser Gemeinschaft ist die Seele immer geneigt, auf sichtbare Dinge zu blicken und die wahre Quelle der Versuchung zu vergessen; geradeso wie David nur Nabal im Auge hatte und ganz vergaß, daß der Feind hinter allem stand. Hätte er die Sache ruhig vor Gott erwogen, so würde er „diesen Menschen“ sich selbst und Gott überlassen haben. Der Glaube verleiht dem Charakter eines Menschen wahre Würde und erhebt ihn über die gegenwärtigen Umstände. Wer da weiß und verwirklicht, daß er ein Fremdling hienieden ist, wird sich stets daran erinnern, daß die Leiden und Freuden dieses Lebens vorübergehend sind, und wird sich weder durch die einen noch durch die anderen ungebührlich erregen lassen. „Vergänglichkeit“ ist auf alles Sichtbare geschrieben; es geht schnell vorüber. Der Mann des Glaubens schaut daher aufwärts und vorwärts.
27. VIII. Abigail befreite durch die Gnade Gottes den Gesalbten Jehovas von dem unglückseligen Einfluß der Gegenwart, indem sie seine Seele auf die Zukunft hinlenkte. Hören wir, mit welch schönen, ergreifenden Worten sie zu ihm redete: „Und als Abigail David sah, . . . fiel sie ihm zu Füßen und sprach: Auf mir, mir, mein Herr, sei die Schuld! und laß doch deine Magd zu deinen Ohren redend und höre die Worte deiner Magd! Mein Herr kümmere sich doch nicht um diesen Mann Belials, um Nabal; denn wie sein Name, so ist er: Nabal4) ist sein Name, und Torheit ist bei ihm. . . . Und nun, mein Herr, so wahr Jehova lebt und deine Seele lebt, Jehova hat dich verhindert, in Blutschuld zu kommen, und daß deine Hand dir Hilfe schaffe! Und nun, mögen wie Nabal sein deine Feinde und die Böses suchen
wider meinen Herrn! . . . Denn gewißlich wird Jehova meinem Herrn ein beständiges Haus machen, weil mein Herr die Streite Jehovas streitet, und kein Böses an dir gefunden ward, seitdem du lebst. Und ein Mensch ist aufgestanden, dich zu verfolgen und nach deiner Seele zu trachten; aber die Seele meines Herrn wird eingebunden sein in das Bündel der Lebendigen bei Jehova, deinem Gott . . . Und es wird geschehen, wenn Jehova meinem Herrn tun wird nach all dem Guten, das Er über dich geredet hat, und dich bestellen wird zum Fürsten über Israel, so wird dir dieses nicht zum Anstoß sein, noch zum Herzensvorwurf für meinen Herrn, daß du Blut vergossen habest ohne Ursache, und daß mein Herr sich selbst Hilfe geschafft habe . . . “ (V. 23—31).
28. VIII. Wir könnten uns kaum etwas Rührenderes denken als diese Anrede. Jeder einzelne Punkt derselben war darauf berechnet, das Herz Davids zu bewegen. Abigail stellt ihm vor, wie böse es sei, sich selbst rächen zu wollen; sie erinnert ihn an die Schwachheit und Torheit des Gegenstandes seiner Rache und ruft ihm ins Gedächtnis zurück, daß er berufen war, die Streite Jehovas zu streiten. Wie muß ihm alles dies die demütigenden Umstände zum Bewußtsein gebracht haben, in welchen Abigail ihn fand!
29. VIII. Indes wird der Leser bemerken, daß der leitende Gedanke in Abigails Worten der Hinweis auf die Zukunft ist. Sie sagt: „Gewißlich wird Jehova meinem Herrn ein beständiges Haus machen“. „Die Seele meines Herrn wird eingebunden sein in das Bündel der Lebendigen.“ „Und es wird geschehen, wenn Jehova meinem Herrn tun wird . . . und dich bestellen wird zum Fürsten über Israel etc.“ Alle diese Hinweise auf Davids zukünftige Segnung und Herrlichkeit waren in hervorragender Weise dazu angetan, sein Herz von seiner gegenwärtigen Trübsal abzulenken. Das beständige Haus, das Bündel der Lebendigen und das Königtum waren ungleich bessere Dinge als Nabals Rind- und Kleinvieh; und im Blick auf jene kommenden Herrlichkeiten konnte David ihm getrost sein Teil überlassen. Er hatte ein besseres Teil gefunden. Für den Erben des Reiches konnten einige Schafe keine Anziehungskraft haben; und einem Manne, der da wußte, daß das Salbungsöl Jehovas auf seinem Haupte war, konnte es nicht so schwer fallen, ein seinem Herrn entlaufener Knecht genannt zu werden. Dem Glauben Abigails waren alle diese Dinge bekannt. Sie kannte David, und sie kannte auch seine hohe Berufung. Durch Glauben sah sie in dem verachteten Flüchtling den zukünftigen König von Israel. Nabal war ein Mann dieser Welt, für welchen nur die gegenwärtigen, sichtbaren Dinge Wert hatten. Für ihn gab es nichts Wichtigeres als sein Brot, sein Geschlachtetes, seine Scherer. Es war alles „Ich“ und wieder „Ich“. Für David und seine Ansprüche gab es keinen Raum in seinem Herzen. Wir können dies bei einem Manne von seinem Charakter kaum anders erwarten; aber unter allen Umständen war es verkehrt von David, seinen erhabenen Platz zu verlassen und mit einem armen Weltkinde um dessen Besitz zu streiten. Das zu erwartende Reich hätte seine Gedanken beschäftigen und seinen Geist über alle niedrigen Einflüsse erheben sollen.
30. VIII. Betrachten wir unseren gepriesenen Herrn Selbst, als Er vor den Schranken eines armen Erdenwurmes, eines Geschöpfes Seiner Eigenen Hand, stand. Wie verhielt Er Sich? Forderte Er die kleine Schar Seiner Jünger auf, das Schwert umzugürten und für Seine Ehre einzutreten? Erinnerte Er den Mann, der sich vermaß, über Ihn zu Gericht zu sitzen, an all das Gute, das Er getan, an die vielen Wohltaten, die Er Seinem Volke erwiesen hatte? Nein, Er schaute über Pilatus, Herodes, die Hohenpriester und Schriftgelehrten hinaus. Er konnte sagen: „Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?“ und Er konnte in die Zukunft blicken und Seinen Feinden zurufen: „Doch ich sage euch: Vonnunan werdet ihr den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels“. Wir begegnen hier einer Kraft, die weit erhaben war über alles Gegenwärtige. Das Tausendjährige Reich mit seinen Freuden und herrlichen Segnungen erglänzte in der Feme und warf seine lieblichen Strahlen auf den finsteren Pfad des Mannes der Schmerzen. Inmitten des Spottes, der Beschimpfungen und Mißhandlungen seitens schuldiger Sünder blieb Er still und ruhig und litt geduldig.
31. VIII. Mein lieber christlicher Leser! Jesus ist unser Vorbild. So wie Er sollen auch wir den Prüfungen und Schwierigkeiten des gegenwärtigen Zeitlaufs, den Schmähungen seitens der Welt begegnen. Wir sollten alles im Lichte der Zukunft betrachten. „Laßt eure Gelindigkeit kundwerden allen Menschen“, ruft uns ein hervorragender Dulder zu, „der Herr ist nahe“; und: „Das schnell vorübergehende Leichte unserer Drangsal bewirkt uns ein über die Maßen überschwengliches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit“. Ein anderer schreibt an die schwergeprüften „Fremdlinge von der Zerstreuung“: „Der Gott aller Gnade aber, der euch berufen hat zu Seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu, nachdem ihr eine kleine Zeit gelitten habt, Er Selbst wird euch vollkommen machen etc.“ Und der Herr Selbst sagte zu den beiden Emmaus-Jüngern: „O ihr Unverständigen und trägen Herzens, zu glauben an alles, was die Propheten geredet haben! Mußte nicht der Christus dies leiden und in Seine Herrlichkeit eingehen?“ Ja, das Leiden muß zuerst kommen, und danach die Herrlichkeit; und wer mit eigener Hand die Schärfe gegenwärtigen Leidens und Geschmähtwerdens von sich abzuwenden sucht, beweist, daß das kommende Reich nicht Gegenstand seiner Erwartung ist, daß die Gegenwart mehr Einfluß auf ihn hat als die Zukunft.
1. IX. In der letzten Hälfte unseres Kapitels begegnen wir noch einem anderen treffenden Beispiel von dem großen Unterschiede, der zwischen dem Kinde der Natur und dem Kinde des Glaubens besteht. Als Abigail von ihrer Unterredung mit David zurückkehrte, fand sie Nabal „trunken über die Maßen“; sie berichtete ihm deshalb weder Kleines noch Großes, bis der Morgen hell wurde. „Und es geschah am Morgen, als der Weinrausch von Nabal gegangen war, da berichtete ihm sein Weib diese Dinge; und sein Herz erstarb in seinem Innern, und wurde wie ein Stein. Und es geschah ungefähr zehn Tage nachher, da schlug Jehova Nabal, und er starb.“ Welch ein trauriges Gemälde von einem Manne der Welt! Während der Nacht in tiefem Rausche liegend, und am Morgen von Furcht und Entsetzen ergriffen! Ernstes, erschütterndes Bild von den vielen Millionen, welche der Feind durch die vergänglichen Freuden einer Welt berauscht, die unter dem Fluche Gottes liegt und das Feuer Seines Gerichts erwartet! „Die da schlafen, schlafen des Nachts, und die da trunken sind, sind des Nachts trunken.“ Aber ach! der Morgen ist nahe, wo der Vorrat an Wein — treffendes Bild von den Freuden dieser Welt! — völlig erschöpft sein wird; der Augenblick kommt, wo die fieberhafte Aufregung, in welcher Satan jetzt die Menschen dieser Welt erhält, weichen, und die Ewigkeit alle ihre Schrecken vor den Augen der voll Entsetzen Erwachenden entfalten wird. Nabal trat nicht einmal David von Angesicht zu Angesicht gegenüber; der bloße Gedanke an sein Rächerschwert erfüllte seine Seele mit tödlicher Angst. Wie viel schrecklicher muß es sein, dem Feuerauge des verachteten und verworfenen Jesus begegnen zu müssen, welchem alles Gericht vom Vater übergeben worden ist! Dann, werden die Abigails und die Nabals die ihnen zugehörenden Plätze finden: die einen, welche den wahren David in der Zeit Seiner Verwerfung gekannt und geliebt haben, und die anderen, welche Ihn haßten und verachteten.
2. IX. Ehe wir unsere Betrachtungen schließen, möchte ich noch bemerken, daß die Geschichten Abigails und Nabals uns auch ein interessantes Bild von der Kirche Gottes und der Welt, als ein Ganzes betrachtet, gewähren — die eine, vereinigt mit dem König und verbunden mit Ihm in Seiner Herrlichkeit, die andere versenkt in Verderben und Untergang. „Da nun dies alles aufgelöst wird, welche solltet ihr dann sein in heiligem Wandel und Gottseligkeit! erwartend und beschleunigend die Ankunft des Tages Gottes, dessentwegen die Himmel, in Feuer geraten, werden aufgelöst und die Elemente im Brande zerschmelzen werden. Wir erwarten aber, nach Seiner Verheißung, neue Himmel und eine neue Erde, in welcher Gerechtigkeit wohnt. Deshalb, Geliebte, da ihr dies erwartet, so befleißiget euch, ohne Flecken und tadellos von Ihm erfunden zu werden in Frieden“ (2Pet 3,11-14). Das sind die gewaltigen, erschütternden Tatsachen, welche uns im Worte Gottes immer wieder vorgestellt werden, um unsere Herzen von den gegenwärtigen Dingen zu lösen und sie in wahrer, aufrichtiger Liebe an jene Gegenstände und Aussichten zu fesseln, welche mit der Person des Sohnes Gottes in Verbindung stehen. Die tiefe, entschiedene Überzeugung von der Wirklichkeit dieser Dinge kann auch allein jenes gesegnete Ergebnis hervorbringen. Wir kennen die bezaubernde und berauschende Kraft der Pläne und Unternehmungen der Welt; wir wissen, wie das menschliche Herz, gleich dem leichten Boot in einer Stromschnelle, mit fortgerissen wird, sobald geschäftliche Unternehmungen, Vorgänge politischer Art und dergleichen Dinge mehr zur Sprache kommen. Alle diese Gegenstände üben auf den menschlichen Geist einen ähnlichen Einfluß aus wie einst der Wein auf Nabal. Sie nehmen ihn gefangen und berauschen ihn, sodaß es fast nutzlos ist, ihm die ernsten Dinge vorzustellen, von denen wir eben gesprochen haben. Und doch müssen wir immer wieder darauf zurückkommen, sie immer von neuem ernstlich betonen, „und das umsomehr, je mehr wir den Tag herannahen sehen“. „Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.“ „Alles dieses wird aufgelöst werden.“ „Die Himmel werden vergehen mit gewaltigem Geräusch, Die Elemente aber werden im Brande aufgelöst und die Erde und die Werke auf ihr verbrannt werden“ (1Thes 5; 2Pet 3).
3. IX. Das sind die ernsten Aussichten für alle diejenigen, welche, „beschwert durch Völlerei und Trunkenheit und Lebenssorgen“, die Ansprüche Jesu vergessen und die Einladungen und Warnungen Gottes in den Wind schlagen. Die Welt bereitet sich mit großer Schnelligkeit für den Empfang des Menschen der Sünde vor, in welchem sich durch die Macht und Wirksamkeit Satans alle ihre bösen Grundsätze verkörpern und ihre gottentfremdeten Kräfte vereinigen werden. Ist einmal der letzte Erwählte eingesammelt, der letzte Stein an den ihm zuvor bestimmten Platz in dem Tempel Gottes gebracht, so wird das Salz, welches jetzt noch die Welt vor völligem Verderben schützt, hinweggetan und die letzte Schranke, welche durch die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Kirche Christi gebildet wird, entfernt werden; und dann wird der Gesetzlose auf dem Schauplatz dieser Welt erscheinen, „den der Herr Jesus verzehren wird durch den Hauch Seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung Seiner Ankunft, ihn, dessen Ankunft nach der Wirksamkeit des Satans ist, in aller Macht und allen Zeichen und Wundern der Lüge und in allem Betrug der Ungerechtigkeit denen, die verloren gehen, darum daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden“ (2Thes 2).
4. IX. Wahrlich, Worte wie diese sollten die Menschen dieser Welt in ihrem Laufe einhalten und sie dahin führen, mit allem Ernst ihr Ende zu bedenken. „Achtet die Langmut unseres Herrn für Errettung“, ermahnt der Apostel Petrus. Manche achten diese Langmut für einen „Verzug“, als ob der Herr Seine Verheißung verzöge. Aber nein, Er verzieht nicht Seine Verheißung, sondern Er wartet in Langmut mit der Vollziehung des Gerichts, um noch manchem Sünder gnädig sein zu können.
4 d. i. Tor, gemeiner Mensch.↩︎