Gegen eine so strenge Absonderung macht Satan, wie uns allen wohl bekannt ist, stets viele Einwendungen. Der erste Einwurf, den er damals durch den Mund Pharaos erhob, lautete:
2Mo 8,21: Geht hin und opfert eurem Gott in dem Land.
Das waren listige, klug berechnete Worte, ganz dazu angetan, ein Herz zu betören, das nicht in inniger Gemeinschaft mit Gott stand und seine Gedanken kannte. Ist es nicht – hätte mit scheinbar vollem Recht gefragt werden können – sehr entgegenkommend vonseiten des Königs von Ägypten, euch anzubieten, eure besondere Art von Gottesdienst zu dulden? Ist es nicht ein hoher Beweis von Weitherzigkeit und Wohlwollen, dass er eurer Religion einen Platz in seinem Reich geben will? Gewiss, ihr dürft eure Religion ebenso gut ausüben wie andere Leute. Da ist Raum für alle. Warum fordert ihr denn Trennung? Warum wollt ihr euch nicht mit eurem Nachbarn auf gleichen Boden stellen? Eine solche Engherzigkeit, wie ihr sie offenbart, ist überflüssig und verkehrt.
Solche Worte mochten sehr vernünftig und klug klingen. Aber was bedeuteten sie angesichts der deutlichen und bestimmten Erklärung des Herrn: „Lass mein Volk ziehen!“? Nichts mehr und nichts weniger als Ungehorsam. Die Worte des Herrn ließen keine falsche Deutung zu; sie konnten nicht missverstanden werden. Es war unmöglich, einem solchen klaren Gebot gegenüber in Ägypten zurückzubleiben. Die überzeugendsten Vernunftgründe zerrinnen wie Nebel in der Gegenwart der gebietenden Stimme des Herrn, des Gottes Israels. Wenn Er sagt: „Lass mein Volk ziehen“, dann müssen wir gehen, und wenn alle Macht der Erde und der Hölle, der Menschen und der Teufel gegen uns wäre. Alles Überlegen, Streiten oder Disputieren ist nutzlos; wir müssen gehorchen. Die Ägypter mögen ihren eigenen Gedanken folgen; aber der Herr denkt für Israel, und die Folge wird lehren, wer von beiden Recht hat.
Der Leser erlaube uns, im Vorbeigehen ein Wort über die „christliche Engherzigkeit“ zu sagen, von der wir heutzutage so viel reden hören. Die eigentliche Frage ist: Wer hat die Grenzen oder Schranken des christlichen Glaubens festzustellen? Ein Mensch oder Gott, menschliche Meinung oder göttliche Offenbarung? Sobald diese Frage gelöst ist, erscheint die ganze Sache nicht mehr schwierig. Viele schrecken zurück vor dem bloßen Wort „Engherzigkeit“. Was ist denn eigentlich Engherzigkeit und was ist Weitherzigkeit? Nun, wir glauben, dass sich wahre Engherzigkeit stets da vorfindet, wo man sich weigert, die ganze Wahrheit Gottes aufzunehmen und sich durch sie leiten zu lassen. Ein Herz, das durch menschliche Meinungen und Vernünfteleien, durch weltliche Grundsätze, durch Eigenliebe und Eigenwillen regiert wird, ein solches Herz erklären wir ohne Zögern für eng. Andererseits nennen wir ein Herz, das sich der Autorität Christi unterwirft und sich ehrerbietig vor der Stimme der Heiligen Schrift beugt, das sich standhaft weigert, auch nur um Haaresbreite über den offenbarten Willen Gottes, das geschriebene Wort, hinauszugehen, ein Herz, das alles ohne Ausnahme verwirft, was sich nicht auf ein „So spricht der Herr!“ gründet – ein solches Herz nennen wir weit.
Ist dies nicht vollkommen richtig, mein lieber Leser? Ist nicht das Wort Gottes – seine Gedanken und sein Wille – weit umfassender und vollständiger als das Wort und der Geist des Menschen? Findet sich nicht in den Heiligen Schriften eine unendlich größere Höhe, Tiefe und Breite als in allen menschlichen Schriften der Welt? Erfordert es nicht eine viel ausgedehntere Weite des Herzens und eine weit innigere Hingebung der Seele, sich durch die Gedanken Gottes leiten zu lassen als durch unsere eigenen Gedanken oder die Gedanken unserer Mitmenschen? Auf diese Fragen gibt es wohl nur eine Antwort; und daher lässt sich der ganze Gegenstand in das einfache, aber so vielsagende Wort zusammenfassen: „Wir müssen so eng sein wie Christus und so weit wie Er.“
Ja, hierin liegt die Lösung dieser wie jeder anderen Schwierigkeit. Wir müssen alles von diesem gesegneten Standpunkt aus betrachten; dann wird unser Blick ungetrübt und unser Urteil gesund sein. Bildet aber der Mensch oder unser eigenes Ich unseren Ausgangspunkt, betrachten wir von dort aus alles um uns her; dann sind wir außerstande, ein gesundes Urteil zu fällen. Unsere Augen sind kurzsichtig und verblendet, unser Herz und Geist ohne wahres, göttliches Licht. Wir beurteilen und betrachten alles falsch.
Ein einfältiges Auge und ein aufrichtiges Herz wird dies alles verstehen und ohne Zögern anerkennen. Und wirklich, wenn das Auge nicht einfältig und das Gewissen dem Wort nicht unterworfen ist, wenn das Herz nicht wahrhaft für Christus schlägt, so ist es verlorene Zeit und Mühe, es von der Wahrheit des Gesagten überzeugen zu wollen. Welchen Nutzen könnte es haben, mit einem Mann zu streiten, der, statt dem Wort Gottes zu gehorchen, nur die Schärfe des Wortes abzustumpfen sucht? Nicht den geringsten. Es ist eine hoffnungslose Aufgabe, jemand überführen zu wollen, der nie die moralische Kraft und Bedeutung des Wortes „Gehorsam“ kennengelernt hat.
In der Antwort Moses auf den ersten Einwurf Satans gibt es etwas ungemein Schönes. Er sagt: „Es geziemt sich nicht, so zu tun; denn wir würden dem Herrn, unserem Gott, die Gräuel der Ägypter opfern; siehe, opferten wir die Gräuel der Ägypter vor ihren Augen, würden sie uns nicht steinigen? Drei Tagereisen weit wollen wir in die Wüste ziehen und dem Herrn, unserem Gott, opfern, so wie er zu uns geredet hat“ (2Mo 8,22.23). Die Gegenstände ägyptischer Anbetung waren völlig unpassend, um sie dem Herrn als Opfer darzubringen. Aber nicht nur das: Viel wichtiger noch war es, dass Ägypten nicht der rechte Platz war, um da dem wahren Gott einen Altar aufzurichten. Abraham hatte keinen Altar, als er nach Ägypten hinabzog. Er verließ seinen Gottesdienst und das Land seiner Fremdlingschaft, als er sich dem Süden zuwandte; und wenn Abraham dort nicht hatte anbeten können, so vermochte es auch sein Same nicht. Ein Ägypter hätte fragen können: Warum nicht? Aber es ist etwas anderes, eine Frage zu stellen, als die Antwort zu verstehen. Wie hätte ein Ägypter die Gründe verstehen können, die einen wahren, treuen Israeliten bei seinem Verhalten leiteten? Unmöglich. Wie hätte er in die Bedeutung jener „dreitägigen Reise“ eindringen können? „Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat“ (1Joh 3,1). Die Beweggründe, die den wahren Gläubigen leiten, und die Gegenstände, die ihn beseelen, liegen weit über dem Gesichtskreis der Welt. Wir können versichert sein, dass ein Christ, je mehr die Welt seine Beweggründe verstehen und wertschätzen kann, umso weniger seinem Herrn treu ist.
Wir reden selbstverständlich von den wahren Beweggründen eines Christen. Ohne Zweifel gibt es im Leben eines treuen Christen vieles, was die Welt bewundern und achten kann. Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit, Wahrheitsliebe, selbstlose Freundlichkeit, Sorge für die Armen, Selbstverleugnung – alles das sind Dinge, welche die Welt wohl verstehen und wertschätzen kann. Dennoch wiederholen wir mit allem Nachdruck die Worte des Apostels: „Die Welt erkennt uns nicht.“ Wenn wir begehren, mit Gott zu wandeln, wenn wir Ihm ein Fest feiern wollen, wenn es der aufrichtige und ernste Wunsch unseres Herzens ist, einen wirklich himmlischen Wandel zu führen, so müssen wir völlig mit der Welt sowie mit dem eigenen Ich brechen und unseren Platz außerhalb des Lagers nehmen mit einem von der Welt verworfenen, aber in den Himmel aufgenommenen Christus. Möchten wir dies tun mit wahrem Herzensentschluss zur Verherrlichung seines glorreichen, heiligen Namens!