Charles Henry Mackintosh
Schriften von Charles Henry Mackintosh
1Sa 27; 29; 30 - Kapitel 5 - Ziklag1Sa 27; 29; 30 - Kapitel 5 - Ziklag
5. IX. Die Geschichte Davids weist neben vielen herrlichen Taten des Glaubens auch manche Schwachheiten und Fehler auf, und wir tun wohl, bei der Betrachtung derselben stets im Gedächtnis zu behalten, was wir selbst sind, da wir sonst Gefahr laufen, in einem Geist der Selbstgefälligkeit zu geraten. Der göttlich inspirierte Schreiber berichtet mit unbeugsamer Treue alle Unvollkommenheiten der Männer, deren Geschichte er uns erzählt. Sein Zweck ist, Gott in all der Fülle und Mannigfachheit Seiner Hilfsquellen und Wege vor unsere Seele zu stellen und uns zu zeigen, wie bereitwillig und fähig Er ist, nicht nur den hilflosen Sünder in seiner tiefsten Not zu begegnen, sondern auch den schwachen Gläubigen in allen seinen Fehlem und Verkehrtheiten zu tragen und ihn in Seiner Weisheit und Liebe zu erziehen. Wir haben nicht die Geschichte von Engeln vor uns, sondern von Menschen, von Geschöpfen von Fleisch und Blut und „denselben Gemütsbewegungen wie wir“. Gerade dieser Umstand macht die alttestamentlichen Erzählungen so eindrucksvoll und belehrend für uns. Die berichteten Ereignisse reden zu unseren Herzen. Wir werden durch Umstände und Verhältnisse geführt, die mit rührender Einfachheit, aber auch mit überwältigendem Ernst die geheimen Triebfedern unserer Natur neben den verborgenen Quellen der Gnade ans Licht bringen. Wir lernen, daß der Mensch zu allen Zeiten derselbe ist: in Eden, in Kanaan, inmitten der Segnungen der Kirche, ja selbst in der Herrlichkeit des Tausendjährigen Reiches beweist er, daß er aus demselben demütigenden Stoff bereitet ist. Zugleich aber lernen wir auch zu unserer Freude und Ermunterung, daß Gott derselbe ist, „derselbe gestern und heute und in Ewigkeit“, geduldig, gnädig, mächtig und heüig. In Seiner Geduld trägt Er unsere betrübenden und rnannigfaltigen Reizungen; in Seiner Gnade vergibt Er unsere sich so oft wiederholenden Übertretungen und stellt unsere irrenden Seelen wieder her; in Seiner Macht befreit Er uns aus den Schlingen unserer eigenen bösen Natur, und in Seiner Heiligkeit übt Er Gericht an Seinem Hause und züchtigt Seine Söhne, damit sie Seiner Heiligkeit teilhaftig werden.
6. IX. Das ist der Gott, mit welchem wir es zu tun haben, und wir sehen die wunderbaren Entfaltungen Seines Charakters in den interessanten Berichten des Alten Testaments, und vielleicht in keinem mehr als gerade in dem vorliegenden. Wenige Gläubige weisen eine solche Mannigfaltigkeit in ihren Erfahrungen auf wie David. Er kannte in Wahrheit die Höhen und Tiefen, welche den Pfad eines Mannes des Glaubens kennzeichnen. Seine Psalmen jubeln und weinen, jauchzen und klagen, frohlocken und trauern. Gerade diese Mannigfaltigkeit der Erfahrungen Davids machten ihn zu einem passenden Gegenstand, um uns die mannigfaltige Gnade Gottes in lebendigen Bildern vor Augen zu führen. Es ist immer so. Der arme verlorene Sohn würde nie eine solch innige und erhabene Gemeinschaft mit dem Vater haben schmecken können, hätte er nicht vorher die demütigenden Erfahrungen des fernen Landes gemacht. Die Gnade, die ihm das vornehmste Kleid anzog, hätte nicht in solchem Glanze strahlen können, wäre der Sohn nicht in die schmutzigen Lumpen eines Schweinehirten gehüllt gewesen. Gottes Gnade wird durch des Menschen Verderben verherrlicht; und je tiefer das Verderben gefühlt wird, desto höher wird die Gnade geschätzt. Der ältere Bruder erhielt nie ein Böcklein, um mit seinen Freunden fröhlich zu sein. Und warum nicht? Weil er sich einbildete, ein solches verdient zu haben. „Siehe“, sagt er, „so viele Jahre diene ich dir, und niemals habe ich ein Gebot von dir übertreten.“ Eitler Mann! Wie konnte er den Ring, das Kleid oder das gemästete Kalb erwarten? Hätte er diese Dinge erlangt, so würden sie nur als Schaustücke seiner eigenen Gerechtigkeit gedient haben, nicht aber als der herrliche Schmuck, mit welchem die Gnade den glaubenden Sünder bekleidet.
7. IX. Ähnlich verhielt es sich auch mit Saul und David. Saul lernte niemals seine Bedürfnisse als Sünder so kennen, wie David es tat; auch werden von ihm keine so auffallenden Sünden berichtet wie von David (wenigstens was die Menschen „auffallend“ nennen würden). Saul war der äußerlich moralische und religiöse Mensch, dabei aber ein selbstgerechter Mann. Seine Sprache lautete: „Ich habe das Wort Jehovas erfüllt . . . Ich habe der Stimme Jehovas gehorcht und bin. auf dem Wege gezogen, den Jehova mich gesandt hat“ (1Sam 15). Wie hätte ein solcher Mann die Gnade wertschätzen können? Unmöglich. Ein ungebrochenes Herz und ein nicht überführtes Gewissen werden nie verstehen, was Gnade bedeutet. Wie ganz anders war es mit David! Er fühlte seine Sünden, seufzte unter ihnen und bekannte und richtete sie in der Gegenwart Gottes, dessen Gnade sie für immerdar vergab und auslöschte'.
8. IX. „Und David sprach in seinem Herzen: Nun werde ich eines Tages durch die Hand Sauls umkommen; mir ist nichts besser, als daß ich eilends in das Land der Philister entrinne“ (1Sam 27,1). Dies war Davids zweiter Besuch im Lande der Philister. Schon im Beginn seines Umherwanderns vor Saul war David nach Philistäa geflohen. Wir lesen im 21. Kapitel: „Und David machte sich auf und floh an selbigem Tage vor Saul, und er kam zu Achis, dem König von Gath“. David nahm sich damit gleichsam aus den Händen Gottes heraus und vertraute sich den Händen des Philisterkönigs an. Er verließ den Platz der Abhängigkeit und begab sich mitten unter die Feinde Gottes und Israels. Und doch war er, beachten wir es wohl, mit dem Schwerte Goliaths, des Philisterhelden, umgürtet. Aber anstatt in seinem wahren Charakter als Gottes Knecht aufzutreten, spielte er den Irrsinnigen angesichts derer, welche ihn noch vor so kurzer Zeit als den gewaltigen Kämpfer Israels kennen gelernt hatten. „Und die Knechte Achis sprachen zu ihm: Ist das nicht David, der König des Landes? Haben sie nicht von diesem in den Reigen gesungen und gesprochen: „Saul hat seine Tausende erschlagen, und David seine Zehntausende“?“ Die Philister erkannten Davids wahren Charakter als König von Israel und als mächtigsten Gegner ihres Landes an, und sie meinten, daß er unmöglich als ihr Freund zu ihnen kommen könne. Sie waren nicht imstande, den Zustand seiner Seele in jenem Augenblick zu verstehen, und dachten nicht im Entferntesten daran, daß der Mann, welcher einen Goliath gefällt hatte, vor Saul fliehen und bei ihnen Schutz suchen könne.
9. IX. Die Welt kann die Veränderungen, die Ebben und Fluten in dem Leben des Glaubens nicht verstehen. Wer hätte auch, nachdem er Zeuge der Vorgänge im Terebinthentale gewesen, denken können, daß David sich so bald schon fürchten würde, die Ergebnisse des Glaubens, mit welchem Gott ihn bekleidet hatte, vor seinen Feinden zu bekennen? Und doch war es so. „Und David nahm sich diese Worte zu Herzen und fürchtete sich sehr vor Achis, dem König von Gath. Und er verstellte seinen Verstand vor ihren Augen und tat unsinnig unter ihren Händen, und er kritzelte an die Flügel des Tores und ließ seinen Speichel auf seinen Bart herabfließen.“
10. IX. So wird es stets gehen, wenn ein Gläubiger den Pfad der einfältigen Abhängigkeit und der Fremdlingschaft in dieser Welt verläßt. Er wird ein anderer Mensch; er fürchtet sich; er verliert seinen wahren Charakter und schlägt ein Verhalten ein, das vor Gott den Charakter des Betrugs und vor der Welt den Stempel der Torheit trägt. Wie traurig ist das! Ein Gläubiger sollte stets seine Würde bewahren, jene erhabene Würde, die sich aus dem Bewußtsein der Gegenwart Gottes herleitet. Aber sobald der Glaube erlahmt, ist auch die Kraft zum Zeugnis dahin, und der Gläubige wird für einen „Narren“ gehalten. Als David in seinem Herzen sprach: „Nun werde ich eines Tages durch die Hand Sauls umkommen“, verließ er den Pfad wahrer Kraft. Hätte er seinen Weg als der heimatlose Flüchtling auf den Bergen Israels fortgesetzt, so würde er niemals vor den Knechten des Königs Achis eine so demütigende Rolle gespielt haben — er würde niemals ein Wahnsinniger genannt worden sein. Aber ach! David hatte sich der Macht dieses Fremdlings übergeben, und deshalb mußte er entweder um seiner früheren Treue willen leiden, oder er mußte alles aufgeben und zu einem Narren in ihren Augen werden. Er wählte das letztere. Indem er sich vor den Folgen fürchtete, die für ihn aus einer kühnen Behauptung seiner Würde als König des Landes hätten erwachsen können, verleugnete er sein Königtum und wurde ein Narr.
11. IX. Wie oft können wir das nämliche Übel in dem Wandel mancher Christen unserer Tage entdecken! Da ist ein Mann, der durch sein früheres Verhalten und Wirken, das durch die Kraft des Geistes Gottes geleitet war, einen hohen Platz in den Gedanken seiner Brüder, ja selbst der Kinder dieser Welt, erlangt hat; und doch, wenn dieser Mann die Gemeinschaft mit Gott verliert, so wird er sich fürchten, jenen Platz aufrecht zu erhalten, und in demselben Augenblick, da die Ungläubigen nichts anderes als ein entschiedenes, klares Zeugnis gegen ihr Tun und Lassen von ihm erwarten, wird er sein Verhalten ändern, „seinen Verstand verstellen“ und nun, anstatt Achtung und B e achtung zu finden, verachtet werden. Laßt uns gegen dieses Übel sorgsam auf der Hut sein, geliebter Leser! Wir können ihm nur dann entgehen, wenn wir in der göttlichen Gegenwart bleiben und in dem vollen und gesegneten Bewußtsein der Allgenugsamkeit Gottes beharren. So lange Wir im Lichte sind und das Bewußtsein in uns tragen, daß Gott für alle unsere Bedürfnisse genügt, bleiben wir unabhängig von der Welt; im anderen Falle werden wir die Wahrheit Gottes aufgeben und unseren Charakter als himmlische Menschen verleugnen.
12. IX. wie vollständig muß David das Bewußtsein von Gottes Allgenugsamkeit verloren haben, wenn er sagen konnte: „M irist nichts besser, als daß ich eilends in das Land der Philister entrinne“! Nichts besser für einen Mann des Glaubens, als in die Welt zurückzukehren, um da Schutz zu suchen? Seltsame Verirrung! Ach! Es ist das Bekenntnis eines Menschen, der den Umständen erlaubt hat, zwischen Seine Seele und Gott zu treten. Wenn wir einmal von dem schmalen Pfade des Glaubens abgleiten, sind wir in Gefahr, in die schlimmsten Extreme zu geraten; und nichts könnte wohl treffender den Gegensatz darstellen zwischen einem Manne, der auf Gott blickt, und einem anderen, der auf die Umstände schaut, als David im Terebinthentale und David vor dem König Achis, wie er an die Flügel des Tores kritzelt. Dieser Gegensatz ist voll ernster Belehrung und Warnung für uns. Er zeigt uns, was wir sind und wie wenig auf den Besten von uns zu rechnen ist. Arme, irrende, strauchelnde Wesen, die bei jedem Wendepunkt des Weges bereit sind, eine falsche Richtung einzuschlagen — geneigt, den Fels der Zeitalter zu verlassen und auf die zerbrochenen Stützen der Welt zu vertrauen — geneigt, die Quelle des lebendigen Wassers aufzugeben und uns selbst Brunnen auszuhauen, die kein Wasser halten — ja, mein lieber christlicher Leser, das sind wir! Wahrlich, es tut uns not, dringend not, in Demut, Wachsamkeit und Gebet vor Gott zu wandeln; es tut uns not, mit dem Psalmisten unaufhörlich zu flehen: „Unterstütze mich nach deiner Zusage, so werde ich leben; und laß mich nicht beschämt werden in meiner Hoffnung! Stütze mich, so werde ich gerettet werden; und ich will stets schauen auf deine Satzungen“ (Ps 119,116.117).
13. IX. Die göttliche Gnade allein kann uns befähigen, in steter Hingebung und Treue zu wandeln. Sind wir uns selbst überlassen, so gibt es nichts Böses und Verkehrtes, in das wir nicht geraten könnten. Nur diejenigen sind sicher, welche Gott an Seiner Rechten hält und in dem Schatten Seiner Hand birgt. Und welch ein Glück, daß wir den Einen kennen, der uns in all unserem Wankelmut zu tragen und unsere Seelen wiederherzustellen vermag, wenn sie unter dem Einfluß des Bösen um uns her zu ermatten drohen. Andererseits bewahre uns Gott davor, von dem Ziklag-Abschnitt der Geschichte Davids einen anderen Gebrauch zu machen, als daß wir ihn in der göttlichen Gegenwart auf unsere Herzen anwenden und ihn als eine ernste und heilige Warnung für uns benutzen! Die göttlichen Erziehungs-Grundsätze bleiben zu allen Zeiten dieselben, mag auch die Stellung Seines Volkes in den verschiedenen Haushaltungen noch so verschieden sein.
14. IX. Wenn wir die Geschichte Davids während
seines zweiten Aufenthaltes im Lande der Philister verfolgen, so finden
wir immer neue Ursachen zur Demütigung. David bittet um einen Wohnplatz
im Lande der Unbeschnittenen, und Achis gibt ihm Ziklag. Er weilt hier
sechzehn Monate, und in all dieser Zeit ist er, obwohl von aller Furcht
im Blick auf Saul befreit, von Gott und von Israel entfernt. Es ist in
einem Sinne nicht schwer, einen prüfungsvollen Platz zu verlassen; aber
damit verlassen wir zugleich einen Platz des Segens. Wäre es nicht viel
gesegneter und glückbringender für David gewesen, in einer Stellung zu
verbleiben, die ihn den Nachstellungen Sauls aussetzte? nicht viel
besser, sich dem Schutze des Gottes Israels anzuvertrauen, als bei dem
König von Gath einen Bergungsort zu suchen? Allein wenn der Druck der
Schwierigkeit und Prüfung auf uns lastet, ist der Gedanke an eine
Erleichterung süß und wir sind in Gefahr, eine solche Erleichterung in
unserer eigenen Weise zu suchen. Der Feind hat stets einen Nebenweg für
den Mann des Glaubens bereit. Er hatte ein Ägypten für Abraham, ein
Ziklag für David, und er hat jetzt die Welt in ihren mancherlei Formen
für uns. „Wenn sie an jenes (Land) gedacht hätten, von welchem sie
ausgegangen waren, so hätten sie Zeit gehabt zurückzukehren“ (
15. IX. David handelte bei dieser Gelegenheit leider nicht so. Er nahm Ziklag gern an, und aus einem heimatlosen Wanderer wurde ein Bürger in dem Lande der Philister. Auch benimmt er sich jetzt nicht wie ein Irrsinniger, wie früher; nein, er spielt geradezu die traurige Rolle eines Betrügers. Er macht Einfälle in das Gebiet der Gesuriter und Girsiter, erschlägt Mann und Weib, damit niemand ihn verraten könne, und wenn Achis ihn dann fragt: „Habt ihr heute keinen Einfall gemacht?“ so belügt er ihn und sagt: „In den Süden von Juda usw.“ Ja, er ging auf diesem unseligen Wege so weit, daß er auf den Vorschlag des Königs von Gath, als sein Verbündeter mit ihm in den Krieg zu ziehen, antwortete: „So sollst du denn auch erfahren, was dein Knecht tun wird. Und Achis sprach zu David: So will ich dich denn zum Hüter meines Hauptes setzen alle Tage.“ Und gleich nachher lesen wir: „Und die Philister versammelten alle ihre Heere nach Aphek; und Israel war an der Quelle gelagert, die bei Jisreel ist. Und die Fürsten der Philister zogen vorüber nach Hunderten und nach Tausenden, und David und seine Männer zogen zuletzt mit Achis vorüber“ (1Sam 29).
16. IX. Welch ein seltsamer Widerspruch! Ein König von Israel steht im Begriff, zu dem Hüter des Hauptes eines Philisters gemacht zu werden und das Schwert zu ziehen wider die Schlachtreihen des lebendigen Gottes! Derselbe Mann, welcher den riesenhaften Feind Israels erschlagen hatte, ist jetzt der Knecht eines Philisters geworden. Wer hätte je so etwas denken können? Wahrlich, es ist schwer zu entscheiden, wie alles dieses geendet haben würde, wenn Gott Seinem armen Knecht erlaubt hätte, seine Pläne bis zum Äußersten zu verfolgen. Aber das war unmöglich. Gott wachte in Gnaden über Seinen irregehenden Diener und hatte reiche und mannigfaltige Segnungen für ihn in Bereitschaft, neben demütigenden Lektionen und schmerzlichen Herzensübungen. Er gebrauchte — Gott ist in Seinen Mitteln nie beschränkt — gerade die Fürsten der Philister als Werkzeuge, um David aus seiner verkehrten Stellung zu befreien. Sie konnten, eingedenk seines früheren Verhaltens, ihm als Bundesgenossen unmöglich Vertrauen entgegenbringen. Als Achis für ihn eintrat, wurden sie zornig und forderten, daß David nach Ziklag zurückkehre und ihnen nicht etwa im Streit ein Widersacher werde. Sie hatten Recht. Wie konnte ein Philister sich in einem Kampfe wider Hebräer auf einen Hebräer verlassen? Wie könnten die Menschen dieser Welt Vertrauen zu einem Manne haben, der einst entschieden für die Wahrheit Gottes eingetreten ist, dann aber sich zu ihnen zurückgewandt hat? Ein solcher ist weder das eine noch das andere; er hinkt auf beiden Seiten. Ein Gläubiger, der sich aus der Gemeinschaft mit Gott entfernt hat und wieder nach dem trachtet, was hienieden ist, wird niemals, mag er auch in seiner Verkehrtheit noch so weit gehen, von der Welt als einer der Ihrigen betrachtet und geschätzt werden. Er ist ein verdächtiger Mann, gerade so wie David den Verdacht der Philister erregte.
17. IX. „Schicke den Mann zurück, daß er an seinen Ort zurückkehre, wohin du ihn bestellt hast, und daß er nicht mit uns in den Streit hinabziehe und uns nicht zum Widersacher werde in dem Streite“ (Kap. 29, 4). Die Philister waren bereit, ihm einen Platz in ihrer Mitte zu überlassen; aber sobald ein Krieg zwischen ihnen und Israel in Frage kam, wollten sie ihn nicht anerkennen. Und sie handelten verständig; denn mochte David auch einen Charakter annehmen, welchen er wollte, er konnte in Wirklichkeit nichts anderes sein als ein Feind der Philister. Wenn es zu einer Entscheidung kam, konnte David nur in Übereinstimmung mit seinem wahren Charakter handeln, als derjenige, welcher Zehntausende der Philister erschlagen hatte.
18. IX. Doch vergessen wir nicht, hinter allem stand der Herr. Er wollte nicht erlauben, daß David auf dem Schlachtfelde als ein Feind Israels erschiene. Er sandte ihn zurück, oder richtiger, Er führte ihn beiseite, um im Geheimen mit ihm über sein trauriges Verhalten zu reden. „Und David machte sich früh auf, er und seine Männer, daß sie am Morgen fortzögen, um in das Land der Philister zurückzukehren; die Philister aber zogen nach Jisreel hinauf. Und es geschah, als David und seine Männer am dritten Tage nach Ziklag kamen, da waren die Amalekiter in den Süden und in Ziklag eingefallen; und sie hatten Ziklag geschlagen und es mit Feuer verbrannt. Und sie hatten die Weiber und alle, die darin waren, gefangen weggeführt, vom Kleinsten bis zum Größten; sie hatten niemanden getötet, sondern sie hatten sie. weggetrieben und waren ihres Weges gezogen“. David mußte jetzt die bitteren Früchte seines Tuns ernten. Er hatte Schutz gesucht bei Achis und sich unter den Unbeschnittenen niedergelassen, und nun muß er die Folgen seiner Untreue tragen, Wäre er auf den Bergen Judas geblieben, so würde er all diesem Schmerz entronnen sein; sein Gott würde eine feurige Mauer um ihn gewesen sein. Aber er war nach Ziklag geflohen, um Saul zu entrinnen, und — ist es nicht wunderbar? — fast in demselben Augenblick, da Saul auf dem Gebirge Gilboa fiel, mußte David über die Ruinen Ziklags trauern.
19. IX. »Da erhoben David und das Volk, das bei ihm war, ihre Stimme, und sie weinten, bis keine Kraft mehr in ihnen war zu weinen . . . Und David war in großer Bedrängnis, denn das Volk sprach davon, ihn zu steinigen.“ In allem diesem war Gott mit Seinem Knechte beschäftigt, nicht um ihn gänzlich zu Boden zu schmettern, sondern um ihn zu einem richtigen Gefühl über das Verhalten zu bringen, welches er inmitten der Philister beobachtet hatte. In der Tat, die rauchenden Trümmerhaufen Ziklags und der Gedanke an seine Weiber, die auch von den Amalekitern geraubt worden waren, belehrten ihn in ernster Weise, wie böse und traurig es von ihm gewesen war, irgend etwas von der Welt anzunehmen. Sechzehn Monate lang hatte er nun schon einen Weg verfolgt, der sein Gewissen in der Gegenwart Gottes schwer beunruhigen mußte; er war von denen verworfen worden, unter deren Schutz er sich begeben hatte; seine Zufluchtsstätte war verbrannt, verwüstet, seine Weiber mit all seinem Hab und Gut waren geraubt; und schließlich, um den bitteren Kelch bis zum Rande zu füllen, drohten seine Gefährten, die ihn bis dahin auf allen seinen Wanderungen treu begleitet hatten, ihn zu steinigen.
20. IX. So war David in jeder Beziehung auf dem tiefsten Punkte angekommen. Alle menschlichen Hilfsquellen waren versiegt; und nicht nur das, der Augenblick war auch ganz und gar geeignet für den Feind, seine feurigen Pfeile auf ihn abzuschießen. Das Gewissen mußte in Tätigkeit kommen, und das Gedächtnis die ganze Vergangenheit in ernsten Bildern dem Manne Gottes vor die Seele führen. Das Aufgeben des gesegneten Platzes der Abhängigkeit, die Flucht zu Achis, die traurige Komödie vor den Knechten des Königs, die Lüge, die bereitwillige Erklärung, als der Knecht der Philister gegen Israel kämpfen zu wollen — alles das muß in hohem Grade die Seelenangst Davids vermehrt haben. Aber David war nach allem und trotz allem doch ein Mann des Glaubens; er kannte die unerschöpflichen Vorräte der Gnade, und hier fand er in diesem so finsteren Augenblick seines Lebens Freude und Trost. Wäre er nicht imstande gewesen, die schwere Last auf die unendliche Gnade Gottes abzuwälzen, so hätte er verzweifeln müssen. Nie vorher war er so schwer geprüft worden. Er war dem Löwen und dem Bären in der Wüste begegnet; er hatte mit dem Riesen von Gath gestritten im Terebinthental; aber niemals hatte ein solch überwältigendes Zusammentreffen schwieriger und schmerzlicher Umstände stattgefunden. Doch Gott war auch hierfür genug, und David wußte das. Deshalb lesen wir: „Aber David stärkte sich in Jehova, seinem Gott“. Selige und wohlbegründete Stärkung! Glücklich die Seele, welche sie kennt! Glücklich der Mann, der sich in einem Augenblick aus den tiefsten Tiefen menschlichen Jammers erheben kann zu Gott und Seinen nie fehlenden Hilfsquellen! Der Glaube weiß, daß Gott aller menschlichen Not, Schwachheit, Sünde und Verkehrtheit gewachsen ist. Gott steht über allem und genügt für alles; und das Herz, das im Glauben Ihn ergreift, wird über alle Prüfungen und Schwierigkeiten des Weges emporgehoben.
21. IX. Der Christ könnte unmöglich in eine Lage kommen, in welcher er nicht auf Gott rechnen dürfte. Geht er unter dem Druck äußerer Umstände gebeugt einher? Möge er Gottes Allmacht, Allwissenheit und Güte in diese Umstände hineinbringen! Ist das Herz von der Last persönlicher Schwachheit — in der Tat eine schwere Last! — niedergedrückt? Möge es Zuflucht nehmen zu den unerschöpflichen Quellen des Mitgefühls und Erbarmens Gottes! Ist die Seele mit Schrecken erfüllt durch das Bewußtsein von Sünde und Schuld? Möge sie sich wenden zu der schrankenlosen Gnade Gottes und zu dem kostbaren Blute Christi! Mit einem Wort, worin auch die Last, die Prüfung, der Schmerz, die Not bestehen mögen, Gott ist allem gewachsen, und es ist das Vorrecht des Glaubens, von Ihm Gebrauch zu machen. „David stärkte sich in Jehova, seinem Gott“, als alles um ihn her so dunkel und niederdrückend war wie möglich.
22. IX. Der Glaube durchdringt die Wolken und erhebt sich zu Gott. Er schaut nicht nur auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Er harrt aus, als sähe er den unsichtbaren Gott. Davids Rückkehr nach Ziklag war sicherlich eine der dunkelsten Stunden seines Lebens; aber Gott erschien auf dem Schauplatz zu seiner Ermunterung und Wiederherstellung. Er entfernte in Gnaden die schwere Last von seinem Geiste. Er zerbrach die Ketten und ließ den Gefangenen frei. Das ist die Weise Gottes. Er erlaubt, daß Seine Kinder die bitteren Folgen ihrer eigenen Wege schmecken müssen, damit sie zu Ihm zurückkehren in der vollen Gewißheit, daß sie nur bei Ihm, in Seiner heiligen Gegenwart, wahrhaft glücklich sein können. Ziklag mag für eine Zeit einen Bergungsort bieten, aber es muß nach kurzem verschwinden; und selbst so lange es Bestand hat, kann es nur durch ein schweres Opfer erkauft werden, durch das Aufgeben eines guten Gewissens Gott und Seinem Volke gegenüber. Wahrlich, ein hoher Preis, um dadurch für einen Augenblick Erleichterung von einem Druck zu finden! Viel besser ist es da, den Druck, so lange es Gott gefällt, zu ertragen!
23. IX. Doch, Gott sei gepriesen! „alle Dinge müssen zum Guten mitwirken“. Der Ted des Philisterhelden wie der sechzehnmonatige Aufenthalt in Ziklag, die Höhle Adullam wie das Haus des Königs Achis — alles wirkte mit zum Wohle Davids. Gott läßt gerade aus den Fehlern Seiner Kinder einen reichen Segen für sie hervorkommen, indem sie dadurch angeleitet werden, mit größerem Ernst im Gebet zu beharren und inniger mit Ihm zu wandeln. Wenn ein Straucheln uns lehrt, mit mehr Einfalt uns auf Gott zu stützen und alles Vertrauen auf unser eigenes Können aufzugeben, so haben wir Ursache, selbst für jenes Straucheln Gott zu danken, so tief wir uns auch bei der Erinnerung daran demütigen müssen. Tief demütigend waren Davids Erfahrungen in Ziklag; aber wir dürfen versichert sein, daß er sie später um keinen Preis hätte entbehren mögen. Sie lehrten ihn mehr von der Gnade und Treue Gottes als vielleicht alle seine bisherigen Erfahrungen zusammengenommen, und zeigten ihm, daß gerade dann, wenn der Mensch am Ende von allem Eigenen angelangt ist, Gott sich finden läßt in der ganzen Fülle Seiner Gnade.
24. IX. Das war eine höchst wertvolle Unterweisung für David, und auch wir sollten daraus lernen. Sind wir fähig, uns inmitten des allgemeinen Verfalls und Verderbens um uns her auf Gott allein zu stützen? Können wir uns in Ihm stärken, wenn alles in und außer uns direkt wider uns zu sein scheint? Ist Sein Name uns über alles teuer in dieser Zeit der Untreue und Gleichgültigkeit? Sind wir bereit, den Rest unseres Weges durch diese Wüste in Absonderung und selbst in Einsamkeit zu gehen, wenn dieses nötig werden sollte? Vielleicht haben wir gelernt, in keiner Weise mehr auf die Kinder dieser Welt zu blicken und von ihnen etwas zu erwarten; aber sind wir auch bereit, festzustehen, selbst wenn unsere Brüder sich gegen uns wenden sollten? Davids Gefährten redeten davon, ihn zu steinigen; doch der Herr war ihm kostbarer als alles. Er stärkte sich in Jehova, „seinem Gott“. Kennen wir die Kraft und den Trost eines solchen Verhältnisses? Der Herr gebe, daß wir es mehr kennen lernen möchten! Ja, möchten wir treuer und inniger an Christo hangen, mit einem tieferen Gefühl von unserem eigenen Nichts und Seiner Vollkommenheit! Möchten wir uns gleichsam in Ihn einhüllen, während wir durch diese kalte und glaubenslose Welt pilgern, unserem herrlichen Ziele zu!