Der zweite Einwurf Satans ist dem ersten sehr nahe verwandt. Wenn es ihm nicht gelingt, Israel ganz in Ägypten zurückzuhalten, so will er wenigstens versuchen, sie so nahe wie möglich zu halten:
2Mo 8,24: Und Pharao sprach: Ich will euch ziehen lassen, damit ihr dem Herrn, eurem Gott, in der Wüste opfert; nur entfernt euch nicht so weit!
Der Sache Christi wird weit mehr geschadet durch scheinbares, teilweises, halbes Aufgeben der Welt als durch völliges Bleiben in ihr. Ein unentschiedener, wankelmütiger Bekenner schwächt das Zeugnis und verunehrt den Herrn weit mehr als einer, der sich nie von der Welt getrennt hat. Ferner dürfen wir wohl sagen, dass zwischen dem Aufgeben gewisser weltlicher Dinge und dem Aufgeben der Welt selbst ein sehr großer Unterschied besteht. Es mag jemand gewisse Formen der Weltlichkeit ablegen und dennoch zu gleicher Zeit der Welt in seinem tiefsten Innern einen Platz aufbewahren. Er mag das Theater, den Ballsaal, die Spielhalle und die Massenmedien Funk und Ton, die Illustrierten, Zeitungen aufgeben und trotzdem an der Welt hangen. Ja, wir sind imstande, einige der schlechten Zweige abzuhauen, um nur mit umso größerer Zähigkeit an dem alten Stamm festzuhalten. Dies ist unserer ernstesten Beachtung wert. Das, was Hunderte von bekennenden Christen bedürfen, ist nach unserer festen Überzeugung: völliger mit der Welt zu brechen – ja, mit der Welt in der ganzen, umfassenden Bedeutung des Wortes. Es ist durchaus unmöglich, einen guten Anfang oder gar geistliche Fortschritte zu machen, solange das Herz mit den heiligen Ansprüchen Christi gleichsam spielt. Wir behaupten mit aller Bestimmtheit: In Tausenden von Fällen, wo Seelen über Befürchtungen und Zweifel, über Unruhe und Depression, über Mangel an Licht, Trost, Friede und Freude klagen, ist die Ursache darin zu suchen, dass sie nie in Wirklichkeit mit der Welt gebrochen haben. Entweder suchen sie dem Herrn ein Fest zu feiern in Ägypten oder sie bleiben doch so nahe, dass sie leicht wieder zurückgezogen werden können, so nahe, dass sie weder das eine noch das andere, weder kalt noch warm sind und dass aller Einfluss, den sie besitzen mögen, gegen Christus und für den Feind der Seelen ausschlägt.
Wie können solche Seelen glücklich sein? Wie kann ihr Friede fließen gleich einem Strom? Wie können sie wandeln im Licht des Vaterantlitzes Gottes oder im Genuss der Gegenwart des Herrn? Wie können die gesegneten Strahlen jener Sonne, die in der neuen Schöpfung scheint, sie erreichen inmitten der dumpfen Atmosphäre, die das Land des Todes und der Finsternis einhüllt? Unmöglich! Sie müssen mit der Welt brechen und sich selbst mit ganzem Herzen und aller Entschiedenheit Christus übergeben. Da muss, wenn wir so reden dürfen, ein ganzer Christus für das Herz und ein ganzes Herz für Christus sein. Hierin beruht das große Geheimnis der Fortschritte eines Christen. Wir müssen einen richtigen Anfang machen, bevor wir fortschreiten können, und um richtig zu beginnen, müssen wir alle Bande, die uns mit der Welt verknüpfen, zerreißen oder besser gesagt, wir müssen die Tatsache glauben und praktisch verwirklichen, dass Gott sie für uns in dem Tod unseres Herrn Jesus Christus zerrissen hat. Das Kreuz hat uns für immer von dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf getrennt. Es hat uns nicht nur von den ewigen Folgen unserer Sünden befreit, sondern auch von der Macht und Herrschaft der Sünde und von den Grundsätzen und Gewohnheiten einer Welt, die in den Händen des Bösen liegt.
Es ist eins der Meisterstücke Satans, dass er bekennende Christen dahin bringt, sich mit einem Blick auf das Kreuz zu ihrer Errettung zu begnügen, während sie in der Welt zurückbleiben oder sich doch „nicht so weit von ihr entfernen“. Vor dieser gefährlichen Schlinge können wir den christlichen Leser nicht ernst genug warnen. Aufrichtige Hingebung des Herzens an einen verworfenen und verherrlichten Christus und innige Gemeinschaft mit Ihm allein vermögen uns vor diesem Fallstrick zu bewahren. Um mit Christus zu wandeln, an Ihm uns erfreuen und von Ihm uns nähren zu können, müssen wir von dieser gottlosen, bösen Welt getrennt sein – getrennt von ihr in unseren Gedanken und Gesinnungen, in den Neigungen unserer Herzen, getrennt nicht nur von ihrem offenbaren Bösen, von ihrer Torheit und Eitelkeit, sondern auch von ihrer Religion, von all ihrem Tun und Treiben.
Indes möchte man uns hier fragen: „Ist das Christentum denn nichts anderes als ein Ablegen Ausleeren und Aufgeben? Besteht es nur aus Verboten und Verneinungen?“ Wir umwerten mit tiefer Freude des Herzens: Nein! Tausendmal nein! Das Christentum ist vorherrschend bejahend, durchaus wirklich, göttlich befriedigend. Was gibt es uns für das, was es uns nimmt? Es gibt uns „unermessliche Reichtümer“ für „Dreck und Kot“. Es gibt uns ein „unverwesliches und unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil, das in den Himmeln aufbewahrt ist“, für einen eitlen, schnell verschwindenden Tand. Es gibt uns Christus, die Wonne des Herzens Gottes, den Gegenstand der Anbetung des Himmels und der Lieder der Engel, das ewige Licht der neuen Schöpfung, statt einiger Augenblicke sündigen Vergnügens und schuldigen Genusses. Es gibt uns endlich eine Ewigkeit der reinsten Freuden und kostbarsten Segnungen im Haus des Vaters statt einer Ewigkeit schrecklicher Qual in den Flammen der Hölle.
Was sagst du zu diesen Dingen, mein lieber Leser? Ist das nicht ein guter Tausch? Findest du hierin nicht die mächtigsten Beweggründe, um die Welt aufzugeben? Man hört Christen zuweilen die Gründe aufzählen, weshalb sie diese oder jene Form der Weltlichkeit aufgegeben haben; aber wir meinen, alle diese Gründe sollten sich in einem einzigen vereinigen, und dieser sollte lauten: „Ich habe Christus gefunden, und deshalb habe ich die Welt aufgegeben.“ Niemand findet es schwer, Kohlen für Diamanten, Asche für Perlen, Dreck für Gold hinzugeben. Und ebenso ist es für einen Menschen, der einmal die Kostbarkeit Christi geschmeckt und erfahren hat, nicht mehr schwierig, die Welt aufzugeben. Nein, es würde eine Schwierigkeit für ihn sein, wenn er in ihr zurückbleiben sollte. Wenn Christus das Herz erfüllt, dann ist die Welt nicht nur für eine Weile ausgeschlossen, sondern sie wird stets ferngehalten. Wir wenden dem Land Ägypten nicht nur den Rücken, sondern entfernen uns auch weit genug, um nie wieder dahin zurückzukehren. Und zu welchem Zweck tun wir das? Um untätig die Hände in den Schoß zu legen? Um alles verloren zu haben und nichts mehr zu besitzen? Um niedergeschlagen, gedrückt, traurig und melancholisch zu sein? O nein, sondern um „dem Herrn ein Fest zu feiern“. Wir halten dieses Fest allerdings noch in der Wüste, aber wenn wir Christus bei uns haben, begehren wir nichts weiter mehr. Wir haben an Ihm genug, und die Wüste wird zum Himmel. Er ist – gepriesen sei sein Name! – das Licht unserer Augen, die Freude unserer Herzen, die Speise unserer Seelen; ohne Ihn würde der Himmel kein Himmel für uns sein, aber in seiner herrlichen, herzerquickenden Gemeinschaft verwandelt sich selbst die Wüste in den Vorhof des Himmels. Wir genießen im Voraus etwas von den gesegneten Dingen, die in Ewigkeit unser Teil sein werden.
Doch das ist noch nicht alles. Nicht nur ist das Herz völlig von Christus erfüllt und befriedigt, sondern auch das Gemüt ist vollkommen beruhigt im Blick auf alle Einzelheiten unseres Weges durch diese Welt: im Blick auf die Schwierigkeiten; die Fragen, die sich erheben können; die Verwirklichung, denen diejenigen fortwährend begegnen, die die hohe Segnung nicht kennen, Christus zu ihrem Standpunkt zu machen und alles in unmittelbarer Verbindung mit Ihm zu betrachten. Wenn ich zum Beispiel in irgendeinem Fall berufen bin, für Christus zu handeln, und ich betrachte die Sache, anstatt sie einfach nach ihrer Bedeutung für Ihn und seine Verherrlichung zu beurteilen, nach ihren Folgen für mich, so werde ich ganz gewiss in Finsternis und hoffnungslose Verlegenheit hineingeraten und zu einem verkehrten Schluss kommen. Wenn ich aber einfach auf Ihn blicke und untersuche, wie die Sache zu seiner Verherrlichung ausschlagen kann, so werde ich nicht nur völlig klar sehen, sondern auch mit glücklichem Herzen und mit fester Entschiedenheit den gesegneten Pfad gehen, der von den Strahlen des Vaterantlitzes Gottes erleuchtet wird. Ein einfältiges Auge blickt nie auf die Folgen, sondern unmittelbar auf Christus, und dann ist alles klar und einfach; der ganze Leib ist voll von Licht, und der Pfad wird durch eine unerschütterliche Entschiedenheit gekennzeichnet.
Das ist es, was uns in diesen Tagen weltlicher Religiosität, selbstsüchtiger Bestrebungen und des Jagens nach dem Beifall des Menschen so sehr nottut. Wir bedürfen es, Christus zu unserem alleinigen Standpunkt zu machen; von Ihm aus das eigene Ich, die Welt und die sogenannte Kirche zu betrachten; Ihn zum Mittelpunkt zu haben, um den sich alles dreht; von Ihm aus alles zu beurteilen, ohne im Geringsten an die Folgen zu denken. Stehen und handeln wir in Übereinstimmung mit seinen Gedanken, so können wir die Folgen Ihm ruhig überlassen. Oh, möchte es so mit uns sein! Möchten wir der unendlichen und unveränderlichen Gnade Gottes erlauben, in unseren Herzen zu wirken und das vor Ihm Wohlgefällige hervorzubringen! Wir werden dann etwas von der Fülle, Schönheit und Kraft des Wortes verstehen, mit dem dieser Aufsatz eingeleitet ist: „Lass mein Volk ziehen, dass sie mir ein Fest halten in der Wüste!“
Es ist merkwürdig und doch auch wieder nicht merkwürdig, zu sehen, wie hartnäckig Satan jeden Zollbreit Boden verteidigt, wenn es sich um die Befreiung Israels aus dem Land Ägypten handelt. Er war bereit, ihnen zu erlauben, in dem Land oder doch wenigstens in der Nähe des Landes ihren Gottesdienst auszuüben, aber ihrer absoluten und völligen Befreiung von dem Land widersetzt er sich mit aller Kraft. Er lässt kein Mittel unversucht, um sie zu hintertreiben.
Doch der Herr – gepriesen sei sein herrlicher Name! – steht über dem großen Feind des Volkes Gottes; Er will sein Volk befreit sehen und Er führt seinen Vorsatz aus trotz der vereinten Macht Satans und des Menschen. Die Forderungen Gottes können nie um eines Haares Breite vermindert werden. „Lass mein Volk ziehen, dass sie mir ein Fest halten in der Wüste“ – so lautete das Gebot des Herrn, und es musste erfüllt werden, wenn der Feind auch zehntausend Einwürfe machen mochte. Die göttliche Herrlichkeit stand in inniger Verbindung mit der völligen Trennung Israels von Ägypten und von allen Völkern des Erdbodens. Israel sollte allein wohnen und nicht unter die Völker der Erde gerechnet werden. Dem widersetzte sich der Feind, und er wandte seine ganze Macht und List an, um es zu verhindern. Zwei seiner Einwendungen haben wir schon betrachtet, wir kommen jetzt zu der dritten.