John Gifford Bellet
Schriften von J.G. Bellet
Die Welt vor der Flut und die Patriarchen
1. Mose 37-50 - Joseph1. Mose 37-50 - Joseph
„Durch Glauben gedachte Joseph sterbend des
Auszuges der Söhne Israels und gab Befehl wegen seiner Gebeine" (Heb 11,22).
Von Kapitel 37 des 1. Buches Mose ab bildet Joseph die Hauptperson und bleibt es auch bis ans Ende des Buches. Seine Geschichte hat, wie alle anderen in diesem Buche, ihren besonderen Platz, ihr eigenes Geheimnis und ihre charakteristische Nutzanwendung. In Abraham wurde, wie wir gesehen haben, die Auserwählung dargestellt, in Isaak die Sohnschaft oder die Annahme des Auserwählten zum Sohne, und in Jakob die Zucht des zum Sohne Angenommenen. In Joseph nun tritt die Erbschaft vor unsere Augen.
Das alles ist in göttlicher Ordnung. Und in Übereinstimmung mit dem Gesagten finden wir bei Joseph, daß der Herrlichkeit oder der Ererbung des Reiches Leiden vorangehen, so daß sich das Wort des Apostels bestätigt: „wenn aber Kinder, so auch Erben — wenn wir anders mitleiden, auf daß wir auch mitverherrlicht werden". Denn während Zucht unser Teil als
Kinder ist, müssen wir durch Leiden gehen, bevor wir unser Erbe antreten, und das zeigt uns den Unterschied zwischen Jakob und Joseph. Bei Jakob sahen wir Zucht, und zwar eine
Zucht, die ihn als Kind, unter der Hand des Vaters der Geister, der Heiligkeit Gottes teilhaftig werden ließ. Bei Joseph finden wir Leiden, Leiden eines Märtyrers, Leiden um der Gerechtigkeit willen. Leiden bezeichnen seinen Pfad zur Herrlichkeit.
Dies ist die Krönung des Gebäudes, und darum kommt es erst am Schluß dieses wunderbaren Buches, das sich auf diese Weise als ebenso vollkommen in seiner Zusammenstellung erweist, wie es in seinen Erzählungen wahr ist. Eine Belehrung nach der anderen wird behandelt, ein Geheimnis nach dem anderen wird enthüllt in den ungekünstelten Familienszenen, die den Stoff dieses Buches bilden, und in ihnen lernen wir unsere Berufung, die Ursprünge und Ausgänge unserer Geschichte, kennen, von der Auserwählung bis zum Antritt des Erbes.
Dagegen gibt es in diesem Buche kein Gesetz, Wir werden in Römer 5,13 darüber belehrt. Indes hätte unser Gefühl uns das auch schon sagen können, denn in der Verwaltung der
Zeiten bildet die Zeit dieses Buches gleichsam das Zeitalter der Kindheit. Die Auserwählten waren wie Kinder, die nie die Heimat verlassen hatten, noch jemals unter einem Zuchtmeister gewesen waren.
Ebensowenig gab es Wunder, ich meine Wunder, die durch die Hand des Menschen gewirkt wurden. Denn Kraft würde nicht besser zu solchen Händen gepaßt haben, als das Gesetz oder ein Zuchtmeister zu einem solchen Zeitabschnitt. Ferner gab es weder eine Mission noch eine Apostelschaft zu besiegeln. Wunder und Zeichen waren als Beglaubigung einer
Sendung nicht erforderlich. Aber sobald wir dieses Buch verlassen und in das 2. Buch Mose eintreten, finden wir eine Mission oder eine Apostelschaft, und dementsprechend auch sofort Wunder, um die Sendung zu beglaubigen.
So ist die Abwesenheit dessen, was wir nicht finden, ebenso passend wie das Vorhandensein dessen, was wir finden. Weder Kraft noch Gesetz würden der Zeit entsprechend gewesen sein, und darum finden wir weder das eine noch das andere.
Doch gehen wir jetzt zur Betrachtung der Geschichte Josephs oder der Kapitel 37—50 unseres Buches über.
Die Gegenstände, die wir in diesen Kapiteln finden, lassen sich in vier Teile einteilen:
-
Die früheste Zeit Josephs im Hause seines Vaters im Lande
Kanaan. -
Sein Leben als ein Abgesonderter in Ägypten.
-
Seine Wiedervereinigung mit seinem Vater und seinen
Brüdern sowie die Folgen dieser Wiedervereinigung. -
Seine letzte Zeit im Lande Ägypten bis zu seinem Tode.
Das ist in kurzem der Inhalt der Geschichte Josephs. Die Art und Weise, in der sie erzählt wird, hat zu allen Zeiten die Teilnahme und die Gefühle Tausender von Herzen erweckt.
1
Gleich bei Beginn der Geschichte erblicken wir in Joseph den Erben. Seine Träume haben die Herrlichkeit zum Gegenstand. Aber ebenso schnell bringt die Wirklichkeit ihm Leiden.
Die Erzählung beginnt mit der Stellung Josephs als Zeuge an und gegen seine Brüder. Er erzählt seinem Vater ihre bösen Taten und ihnen selbst teilt er seine Träume mit. Ich kann ihn in beidem nicht tadeln. Ich sage nicht, inwieweit die Natur ihn bei diesen Handlungen befleckt haben mag, aber die Zeugnisse selbst geschahen, wie ich glaube, unter göttlicher Autorität. Es hat Einen gegeben, Der in allem vollkommen war, in allem, was Er tat oder sagte, und Er zeugte gegen die Welt und von Seiner eigenen Herrlichkeit. Ein Mangel in betreff des passenden Augenblicks oder des richtigen Maßes mag diesen Dienst bei Joseph befleckt haben, denn eine Handlung, die nicht zur passenden Zeit geschieht oder über das rechte
Maß hinausgeht, bringt, obwohl sie an und für sich richtig sein mag, Befleckung mit sich. Ein Gefäß im Hause des Herrn hat den Schatz, der in ihm ist, zu Zeiten zu verbergen und sollte wissen wann, wo und wie er benutzt werden muß. David hatte das öl Samuels, die Salbung des Herrn, auf sich, und er wußte, daß das Königtum ihm gehören sollte, aber er verbarg seine Herrlichkeit, bis Abigail sie durch den Glauben erkannte. Und hierin mag David Joseph übertroffen haben. Aber daß Joseph erzählte, was der Geist ihm in seinen Träumen oder
Gesichten mitgeteilt hatte, war von Gott.
Seine Leiden waren eine Folge davon. Der Herr bezeichnet ihn als den Erben der Herrlichkeit. Joseph spricht von der Gunst, die ihm zuteil geworden war, und von dem hohen Vorsatz Gottes betreffs seiner, und seine Brüder hassen ihn. Sie beneiden ihn, und wer kann dem Neid gegenüber bestehen? Sie hatten ihn schon wegen der Liebe seines Vaters beneidet, und jetzt hassen sie ihn wegen der Gunst Gottes. Sie hassen ihn um seiner Worte und seiner Träume willen, und als sie zusammen auf dem Felde waren (wie vor alters Kain und Abel), beratschlagen sie, ob sie ihn töten oder in eine Grube werfen oder an Fremde verkaufen sollen.
Und das geschah zu einer Zeit, als er ihnen diente. Er war weither gekommen, um sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen und ihnen einen Segen aus dem Vaterhause samt den Grüßen ihres Vaters zu überbringen und dem Vater Antwort von ihnen zurückzubringen. Ein solcher Augenblick war eine passende Gelegenheit für sie. Sie nehmen ihn nicht auf als den Überbringer guter Nachrichten, sondern empfangen ihn mit den Worten: „Siehe, da kommt jener Träumer!" „Dieser ist der Erbe" (Mt 21,38) — das war der Sinn ihrer Worte. Aus Neid überliefern sie ihn. Wegen seiner Liebe sind sie seine Feinde, und schließlich verkaufen sie ihn an die Ismaeliter für zwanzig Silbersekel.
Diese allen Brüdern Josephs gemeinsame Feindschaft mag sich nicht bei allen in gleicher Stärke offenbaren, aber alle stehen auf einem Boden, sind von einem Geschlecht. Ruben war
Jakobs Erstgeborener, und wir dürfen annehmen, daß er sich seinem alten Vater gegenüber betreffs des Knaben für verantwortlicher hielt als die übrigen. Er rettet Joseph vom Tode.
Juda schlägt vor, ihn den Ismaelitem zu verkaufen, anstatt ihn in der Grube zu lassen. So gibt es wohl ein verschiedenes Maß bei der allen gemeinsamen Feindschaft, wie die einen auch von Jesu sagten: „Er ist gut", andere: „Nein, sondern Er verführt die Volksmenge"; oder wie in dem Gleichnis von „der Hochzeit des Königssohnes" die einen auf den Acker gingen, andere an den Handel, während wieder andere die Knechte ergriffen und töteten. Aber der Herr betrachtet sie alle als ein Geschlecht, indem Er sagt: „die übrigen aber ergriffen seine
Knechte, mißhandelten und töteten sie". Der Richter der ganzen Erde wird sicherlich Recht tun, und die Sünden werden dem einen viel, dem anderen wenig Schläge einbringen, aber die Welt hat Jesum verworfen, und die Welt ist die Welt. So auch hier: Alle sind die schuldigen Brüder Josephs, und er wird infolge ihrer Ratschläge und ihres gemeinsamen Hasses an die Ismaeliter verkauft und von diesen auf den Markt nach Ägypten gebracht, um dort mit Gewinn weiter verkauft zu werden.
Was dabei am meisten unseren Unwillen erregt, ist ihre Gefühllosigkeit, und gerade das ist es auch, was der Prophet Amos unter der Leitung des Heiligen Geistes so feierlich betont, wenn er von solchen spricht, „die sich nicht grämen über die Wunde Josephs" (Amos 6,6). Und auch wir mögen heutigentags wohl unser Teil von dem Tadel des Propheten hinnehmen, denn wir machen uns einer ähnlichen Gefühllosigkeit schuldig, wenn wir willig die Welt lieben können, die den wahren Joseph verwirft. Und was sollen wir sagen, wenn wir auf den gepriesenen Fortschritt von allem in dieser Welt, sowie auf die Kunstfertigkeit blicken, mit der man unaufhörlich sich bemüht, jenes Haus zu fegen und zu schmücken, das mit Jesu Blut befleckt ist? Die elfenbeinernen Betten, der Klang der Harfen, der Wein und die Salbungen mit dem besten öl sind nie in solchem Überfluß vorhanden gewesen wie in unseren Tagen. Und wenn das Leben in einer solchen Welt unsere Herzen anziehen kann, sind wir dann, wie wir es doch sein sollten, dem Kreuze Christi treu? Wahrlich, ein gefühlloses Herz haben wir, und in einer gefühllosen Welt leben wir, und es sind gefühllose Brüder Josephs, die wir hier betrachten. Ein jeder weiß das für sich selbst sehr wohl. Und ich wiederhole, gerade diese Gefühllosigkeit ist es, die (wenn ich für andere reden darf) unseren Unwillen erregt, so wie sie auch dem Geist in Amos so überaus anstößig war. Wir sind nicht bekümmert über die Wunde Josephs, wie wir es sein sollten. Wir sind nicht treu gegenüber der Verwerfung Christi. Bedenken wir es wohl: Weltlichkeit ist Gefühllosigkeit gegen Ihn.
Welche Tiefen des Verderbens gibt es doch in uns! Hören wir nur, was die Brüder Josephs taten: sie tauchten den langen Leibrock, den der alte Vater seinem geliebten Kinde hatte machen lassen, in Blut und sandten ihn ihrem Vater mit den Worten: „Dieses haben wir gefunden; erkenne doch, ob es der Leibrock deines Sohnes ist oder nicht". Das ist die Sprache
Kains: „Bin ich meines Bruders Hüter?" Kain schob die Schuld an Abels Tod dem Herrn zu, indem er durch seine Worte andeutete, daß der Herr Abels Hüter hätte sein sollen, da Er ja ein solches Wohlgefallen an ihm und seinem Opfer gehabt hatte. So scheinen auch die Worte der Brüder Josephs die Schuld an Josephs Tod auf den betagten Vater zu werfen, der, wenn er Joseph wirklich so liebte, wie das lange Gewand zu sagen schien, besser auf ihn hätte achten sollen, als er es laut des Blutes getan hatte.
Wahrlich, welche Tiefen gibt es in dem abtrünnigen, verderbten Herzen des Menschen! Wie deckt die Versuchung zuweilen diese Tiefen auf! Die Brüder Josephs sündigten in diesem allem gegen ihren betagten Vater und gegen ihren harmlosen Bruder, und zwar zu einer Zeit, als die Liebe des Vaters in Gnade und Segen eine Botschaft an sie gesandt hatte, und die
Liebe des Bruders diese Botschaft überbracht hatte. Ja, in sittlicher und vorbildlicher Weise stellten sie jene Personen dar, von denen gesagt wird: „sie gefallen Gott nicht und sind allen
Menschen entgegen" (1Thes 2,15).
Wahrlich, eine schwarze Tat! Josephs Blut ist auf ihnen, mögen sie es noch so eifrig zu verbergen suchen, und der Tag wird kommen, an dem ihre Sünde sie finden und das Blut an Josephs Rock laut wider sie zeugen wird. Für den Augenblick allerdings geht es ihnen gut. Sie schreiten in ihrer Gottlosigkeit voran, damit sie ihr Maß vollmachen. Der Lauf der Geschichte Josephs wird unterbrochen, um uns in Kapitel 38 (während der Trennung Josephs von seinen Brüdern) ein Bild von diesem Zustande zu geben, und wir sehen da in der Tat
Abfall und ein völliges Abweichen von dem „Wege Jehovas", in welchem Abraham gewandelt, und in dem zu wandeln er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm befohlen hatte.
Der heilige Same vermischt sich mit dem Samen der Menschen. Er entweiht den Bund seiner Väter. Juda handelt treulos, indem er die Tochter eines kanaanitischen Mannes heiratet.
Allerdings wird die Gnade sich noch überschwenglicher erweisen, aber die Sünde war wahrlich überströmend. Der Weg des Herrn wurde von Juda aufs äußerste verachtet und verlassen14. Doch auch hier handelt Gott in Gnade, und Perez, ein zweiter Überlister, wird die Hoffnung Israels, der Stammvater des Herrn. Ein Segen ist in der Traube, aber wahrlich, es ist eine Traube von einem wilden Weinstock, die abgeschmitten zu werden verdiente, wenn nicht die unumschränkte, überströmende Gnade sagte: „Verdirb sie nicht, denn ein
Segen ist in ihr" (Jes 65,8; vergl. Mt 1. 3).
Und wie die Sünde ihres Vaters Juda, so ist auch die Sünde des Volkes Israel, aber auch dieselbe Gnade wird diesem Volke in späteren Tagen widerfahren. Gnade wird dann in der Geschichte Israels herrschen, wie sie es jetzt tut in der Person eines jeden Heiligen, der nach dem unumschränkten Wohlgefallen Gottes auserwählt und als ein Denkmal der errettenden Macht Christi hingestellt ist.
Wir sind auf diese Gnade Gottes in einigen ihrer besonders hervorragenden Offenbarungen vielleicht nicht vorbereitet. Wahrscheinlich sind wir weniger empfänglich dafür, als wir selbst denken. Jona, Ananias und Petrus waren auch nicht darauf vorbereitet. (Vergl. Jona 4; Apg 9 und 10). Wir sind nicht immer Wiegemeister, die in dem Gebrauch der Waagen,
Gewichte und Maße des Heiligtums geübt und geschickt sind. Halten wir die Gefühllosigkeit in Kapitel 37 und die Beflekkung in Kapitel 38, und noch dazu wenn beides vereinigt gefunden wird, für zu schlecht, um dabei an „Buße und Vergebung der Sünden" in der Gnade Gottes zu denken? Das sittliche Gefühl, das natürliche Gewissen, die Selbstgerechtigkeit, die gesellschaftlichen Regeln und die Urteile der Menschen versehen uns mit falschen Maßen und Gewichten, und wir tragen diese mehr mit uns herum, als wir uns bewußt sind.
Aber sie sind ein Greuel (5Mo 25,16). Nach unseren Gedanken sind die Handlungen der Huren und Zöllner schlechter als der gefällige und achtbare Lauf der Welt. Hätten wir die Waage des Heiligtums, so würden wir die Dinge anders wägen. „Was unter den Menschen hoch ist, ist ein Greuel vor Gott".
2
In den Kapiteln 39—41, die nach unserer Einteilung den zweiten Teil bilden, finden wir das Leben Josephs, während er sich als ein Abgesonderter im Lande Ägypten befand. In diesem Abschnitt tritt der Anfang seines Tages oder seine Erhöhung vor unser Auge. Vorher jedoch sind wir noch Zeugen seiner weiteren Leiden, und zwar seiner Leiden von der Hand Fremder.
Wir denken vielleicht, und in gewissem Sinne ist das auch naturgemäß, daß der Jude in besonderer Weise schuldig sei, soweit es sich um die sittliche Geschichte dieser Welt handelt — in besonderer Weise verantwortlich wegen der Sünde gegen den Herrn. Doch das ist nicht ganz zutreffend. Allerdings hat der Jude einen besonderen Anteil an den Leiden Christi, und als Volk betrachtet befindet sich Israel auch unter einem besonderen Gericht. Allein der Heide ist, wenn auch unterschieden, so doch nicht verschieden von dem Juden. Der Dienst des Herrn Jesus stellte sowohl „die Welt" als auch „das Seinige" auf die Probe. Die Schrift sagt betreffs des Kreuzes: „In dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit wider deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels" (Apg 4,27). Alle waren schuldig, wie auch der Apostel der Heiden in seiner Lehre sagt, daß „die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei". Juden und Heiden haben sich in gleicher Weise als unter der Sünde erwiesen.
Das vorliegende Kapitel deutet dies ebenfalls an. Josephs Trübsal, die unter seinen Brüdern begonnen hatte, setzt sich jetzt inmitten der Fremden fort. Seine Brüder hatten ihn schon gehaßt, in die Grube geworfen und ihn wieder herausgezogen, um ihn als Sklaven zu verkaufen. Jetzt klagt ihn eine schlechte Frau in Ägypten fälschlich an und bringt ihn ins Gefängnis, und ein anderer Ägypter, dem er gedient und Freundschaft erwiesen hatte, vergißt und verläßt ihn. Doch wie es auch mit ihm stehen mag, ob er daheim oder in der Fremde ist, Gott ist mit ihm. Das kennzeichnet nunmehr in charakteristischer Weise seine ganze Geschichte. (Vergl. 1Mo 39 mit Apg 7,9.10). Denn in den Wegen Gottes mit Seinen Auserwählten kommt Sein Mitgefühl zuerst und dann Seine Macht. Sein Mitgefühl begleitet sie durch die Trübsal, und dann befreit sie Seine Macht aus ihr. Wir sind stets geneigt, augenblicklich Erleichterung zu wünschen und möchten gern jede Unbequemlichkeit und Widerwärtigkeit sofort beseitigt sehen. Doch das ist nicht Seine Handlungsweise. In dem Hause zu Bethanien „weinte Jesus", und erst nachher sagte Er: „Lazarus, komm heraus!" Die Natur würde gern den Tod, der die Tränen hervorgerufen hatte, verhindert haben. Nach unserer Meinung hätte uns manche Trübsal erspart bleiben können, und unser Verstand zieht den klaren und unwiderleglichen Schluß, daß Gott ja die Macht dazu besessen hätte, gerade so wie die Freunde der Familie zu Bethanien sagten: „Konnte dieser, der die Augen des Blinden auftat, nicht machen, daß auch dieser nicht gestorben wäre?" Aber ihr Urteil war unvollkommen, weil sie nur die eine Seite ins Auge faßten, nämlich die Macht Christi.
Wir sollten die Zeit Seines Mitgefühls viel höher schätzen, als wir es gewöhnlich tun. Sie bringt Ihn Selbst uns nahe in einer ganz besonderen Weise. Joseph erfuhr dieses Mitgefühl des
Herrn in den Tagen seiner Trübsal in reichem Maße. Wie gesagt, die Worte „Gott war mit ihm" kennzeichneten seine Lage, und er erhielt davon Beweise in Fülle. Sobald er im
Hause Potiphars ist, gedeiht unter seiner Hand alles, was sein Herr ihm anvertraut. Und ob auch der Schauplatz sich verändern mag, in dieser Beziehung tritt keine Veränderung ein, denn sobald er im Gefängnis ist, lesen wir dasselbe von ihm, wie vorher in dem Hause des Ägypters. Der Oberste der Feste setzt das gleiche Vertrauen in ihn, wie Potiphar es getan hatte, und unter seiner Hand gelingt auch im Gefängnis alles, so daß Joseph ein vollkommenes Zeugnis von Gott hatte, daß Gott für ihn genug war.
Für einen solchen Mann war es nicht am Platze, die Hilfe des Herrn für die Hilfe des Geschöpfes aufzugeben. Aber Joseph trachtet nach dem Mitgefühl des Schenken und bittet ihn, seiner zu gedenken und ein gutes Wort bei dem König für ihn einzulegen. Das war ganz natürlich. Joseph hatte dem Schenken des Königs einen Freundschaftsdienst erwiesen und dieser war imstande, für ihn das auch zu tun. Wir können deshalb sein Verlangen nach dem Mitgefühl des Schenken weder aus natürlichen und menschlichen, noch selbst aus sittlichen Gründen verurteilen. Ob es aber Josephs ganz würdig war, so zu handeln, mag dahingestellt bleiben, wie auch, ob es genau der Weg war, den der Glaube ihm angewiesen haben würde15. Und es führte zu nichts. Der Schenke vergißt ihn, wie wir wissen, und er bleibt noch zwei lange Jahre im Gefängnis, denn Gott wollte alles für ihn sein. Hilfe sollte kommen, aber sie sollte von Ihm Selbst kommen. Mit dem Herrn wird der Kummer der Nacht sicher der Freude des Morgens weichen, und ehe noch die Zeit der Trennung von seinen Brüdern zu Ende ging, wurde Joseph freigelassen, gesegnet und geehrt. Diese Zeit wurde zur Blütezeit seiner Herrlichkeit.
Wahrlich, herrliche Dinge finden wir bei Joseph in dem Zustande seiner Absonderung — Dinge, die unsere Gedanken auf Den hinlenken, Der größer ist als Joseph. Ich möchte viererlei besonders hervorheben.
Zunächst seine große sittliche Schönheit. Er war ein Nasir, so rein wie Daniel in ähnlichen Umständen, als ein Gefangener unter den Unbeschnittenen, der seine Beschneidung, seine Absonderung für Gott, unverletzt aufrecht erhielt. Sodann die kostbare geistliche Gabe in ihm. Er war ein Gefäß im Hause Gottes, das den Geist Christi besaß und dadurch, wie Daniel,
Träume deutete und, obwohl er selbst noch im Zustande der Erniedrigung war, sogar Königen kundtat, was auf der Erde geschehen würde. Ferner ist der Platz zur Rechten der Macht und Würde für ihn. Er erhält seinen Platz in der nächsten Nähe des Thrones und kommt in den Besitz seiner Hilfsquellen, von denen binnen kurzem seine Brüder, die ihn verworfen hatten, sowie die ganze Welt betreffs ihrer Erhaltung auf der Erde abhängig sein sollten. Schließlich finden wir Freude, eine besondere Freude, für ihn bereitet. Der König macht eine Hochzeit für ihn, und er wird das Haupt einer Familie unter den Heiden, und das ist eine Quelle solcher Freude für ihn, daß er in gewissem Sinne, wie die Namen seiner Kinder uns anzeigen, seine Verwandten vergessen und sogar in seiner Trübsal sich freuen kann.
Das sind sicher herrliche Dinge, die wir in Joseph finden, während er von seinen Brüdern getrennt war. Wir erblicken in ihnen den Herrn Selbst in der gegenwärtigen Zeit, der Zeit
Seiner Trennung von Israel. Ein Kind könnte die Ähnlichkeit erkennen, und Er, Der Unmündigen und Säuglingen Seine Offenbarungen gibt, hat uns hierin den Weg gezeigt. In den wundervollen Worten des Stephanus in Apostelgeschichte 7 werden Joseph und andere auf einen verwandten Platz und in gleichartige Umstände mit dem Herrn gestellt, Der dort „der
Gerechte" genannt wird. Und das ist so voll von Interesse, daß wir, wenn auch nur für einen Augenblick, den Faden unserer Betrachtung unterbrechen und auf jene wichtige Stimme des Geistes Gottes horchen wollen.
Stephanus erscheint nur vorübergehend im Lauf der göttlichen Geschichte, aber er nimmt einen sehr hervorragenden und ausgezeichneten Platz ein. Die Gelegenheit, bei der er gesehen wird und handelnd auftritt, ist überaus bedeutungsvoll. Die jüdische Feindschaft vollbrachte wieder eine ihrer schwarzen Taten, und der Gott der Herrlichkeit offenbarte wieder Seine herrlicheren Vorsätze.
Stephanus ist ein weiterer Zeuge des Herrn, der von der Erde zum Himmel ging, die Erde eine Zeitlang ihrem Unglauben und Abfall überließ und ein Volk für die himmlischen Örter berief. Auch war die Zeit des Stephanus von neuem eine Zeit der Absonderung. Die Zeit Abrahams war bereits eine solche Zeit gewesen, ebenso die Zeit Josephs, die Zeit Moses und die des „Gerechten", Jesu. Die Umstände der Absonderung von der Verwandtschaft zu Fremdlingen (das ist von der Erde zum Himmel) mögen verschieden sein, aber die Absonderung ist die gleiche. Abraham wurde abgesondert, weil Gott eine verderbte Welt ungerichtet ließ, und ungerichtetes Verderben kann Gott nicht zu Seiner Wohnstätte machen, noch erlauben, daß es der Wohnplatz Seiner Auserwählten sei. Die Welt nach der Flut hatte sich verderbt, und der Herr überließ sie ihrem Verderben, indem Er sie nicht durch eine zweite Flut reinigte, und in Übereinstimmung damit wird Er Selbst ein Fremdling in ihr und ruft Seinen Auserwählten mit sich aus ihr heraus. So wurde Abraham ein abgesonderter Mann. Joseph war zu seiner Zeit auch ein solcher, abgesondert von Haus und Verwandtschaft wie Abraham. Ebenso Moses. Aber Joseph und Moses waren nicht in derselben Weise abgesondert wie Abraham, indem Gott sie einfach aus dem ungerichteten Verderben berief, sondern sie waren es durch die Feindschaft und die Verfolgungen ihrer Brüder. Geradeso war es mit Jesu. „Das Seinige" (Sein Volk Israel) und „die Welt, die durch ihn geworden war", nahmen Ihn nicht an und wollten nichts von Ihm wissen. Gottlose Hände brachten Ihn um, und der Himmel nahm Ihn auf. Dasselbe finden wir bei Stephanus.
Auf diese Weise befindet sich Stephanus in der Gesellschaft dieser Abgesonderten: des Abraham, des Joseph, des Moses und endlich des „Gerechten" selbst. Und er wird ganz naturgemäß durch den Geist dahin geleitet, ihre Geschichte in jenem wunderbaren Kapitel (Apg 7) der Reihe nach zu betrachten. Diese Abgesonderten haben in verschiedenen Zeiten und Zwischenräumen, in der fortschreitenden Entwicklung der Wege Gottes auf der Erde, Seine höheren und herrlicheren Vorsätze betreffs des Himmels vorbildlich dargestellt. Denn ihre Zeiten waren sozusagen Übergangszeiten.
So war es auch mit der Zeit des Stephanus. Bis dahin war die Erde der Schauplatz der Apostelgeschichte gewesen. Im 1. Kapitel hatte der auferstandene Herr zu Seinen Aposteln von dem „Reiche Gottes" gesprochen. In demselben Kapitel fordern die Engel die Männer von Galiläa (wie sie die Jünger nennen) auf, nicht länger gen Himmel zu schauen, indem sie ihnen die Verheißung geben, daß Jesus wieder auf die Erde zurückkommen werde. Wenn im 2. Kapitel der Heilige Geist gegeben wird, so reden die Apostel unter Seinem Einfluß von Dingen der Erde. Sie bezeugen, daß Jesus zur Seite Gottes im Himmel sitzen solle, bis Seine Feinde auf Erden zu Seinem Fußschemel gemacht würden. Dann predigen sie, daß auf die Buße Israels hin Jesus zur Erde zurückkehren würde mit Zeiten der Erquickung und der Wiederherstellung aller Dinge, und daß Er erhöht worden sei, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben. Israel ist also das Volk, und die Erde ist der Schauplatz in den Handlungen oder dem Zeugnis des Geistes in den Aposteln in diesen ersten Kapiteln.
Doch die jüdische Feindschaft geht wieder ihren Weg wie zu so manchen anderen Zeiten, ja, wie von Anfang an, und die göttliche Gnade geht ebenfalls ihren Weg, wie sie es zu jenen anderen Zeiten getan hatte. Und Stephanus nimmt, unter der Leitung des Geistes Gottes, einen solchen Augenblick gleichsam zu seinem Text. Er blickt zurück auf den Weg des Volkes, das, unbeschnitten an Herzen und Ohren, dem Herrn in dem einen oder anderen Seiner Zeugen widerstrebt hatte, aber er blickt auch zurück auf den Weg des Gottes der Herrlichkeit,
Der diejenigen, die durch irdisches Verderben oder jüdische Feindschaft abgesondert oder ausgestoßen wurden, zu neuer und besonderer Segnung berief.
Seine eigene Lage in jenem Augenblick bildete also seinen Text, geradeso wie die Lage der Dinge im 2. Kapitel der Gegenstand der Rede Petri gewesen war. Petrus predigte über die Gabe der Sprachen, Stephanus, wenn ich so sagen darf, über sein eigenes Antlitz, das in jenem Augenblick glänzte wie eines Engels Antlitz, sowie über die Feindschaft der Juden, die ihn bedrängte und bedrohte. Der Geist in Stephanus erfaßte den Augenblick. Es war ein Wendepunkt, eine Übergangszeit. Es war die Stunde des glänzenden Antlitzes und der mörderischen Steine, der Feindschaft der Erde und der noch herrlicheren und reicheren Entfaltung einer Gnade, die zum Himmel berief.
Es war ein ähnlicher Wendepunkt hier in der Apostelgeschichte, wie einst bei Joseph in dem 1. Buch Mose, und dies gibt dem Heiligen Geist in Stephanus eine natürliche Veranlassung,
Sich auf Joseph zu beziehen. Doch wenn die Erde Stephanus einen Platz verweigert, wie die Brüder Josephs diesem einen Platz in dem Lande seiner Väter verweigert hatten, so tut sich der Himmel für Stephanus auf. Ist die Feindschaft im Menschen tätig, so bleibt die Gnade in Gott nicht müßig. Der Himmel öffnet sich, und ein Strahl himmlischen Lichts findet von dort seinen Weg und verklärt glänzend das Antlitz des Stephanus, als das Volk der Erde ihn hinausstößt. Und so besiegelt vom Himmel und für den Himmel, spricht er vom
Himmel. Der Himmel selbst tut sich ihm auf, und dann richtet der Heilige Geist sein Auge zum Himmel empor, und sein Geist wird von dem Herrn Jesus in den Himmel auf genommen. Alles ist hier der Himmel. Wir hören von nichts anderem. Stephanus empfängt zuerst das Unterpfand des Himmels, dann den Aufblick in seine weit geöffneten Herrlichkeiten und endlich seinen Platz in ihm bei Jesu.
Nichts kann, solange man noch im Leibe ist, den Glanz eines solchen Augenblicks übertreffen. Es war gleichsam die „Verklärung" der Apostelgeschichte. Es ging über das Bethel des
Patriarchen hinaus, denn hier war die Spitze der Leiter enthüllt, und dem Stephanus wurde zu erkennen gegeben, daß sein Platz droben bei dem Herrn sei, und nicht nur am Fuße der
Leiter, bei Jakob. Der Augenblick war ein Wendepunkt, was der Zeitabschnitt von 1. Mose 28 nicht gewesen war. Er hatte sein Vorbild eher in dem verworfenen, ausgestoßenen Joseph, der seine größeren Freuden und glänzenderen Ehren unter den fernen Heiden in Ägypten fand. Oder wenn man will, die Geschichte Josephs wie die des Stephanus sind jede zu ihrer Zeit und in ihrem verschiedenen Charakter ein Vorbild und Unterpfand jener Herrlichkeit und jenes Erbteils im Himmel, zu denen die Kirche, die Auserwählten der Jetztzeit, berufen sind.
In ganz naturgemäßer und notwendiger Weise werden daher Joseph und Stephanus in Apostelgeschichte 7 miteinander in Verbindung gebracht. Jeder von ihnen füllte denselben Übergangsplatz aus, obwohl dies, und zwar mit Recht, bei Stephanus stärker hervortritt. Alles war bei Stephanus neu und himmlisch. Er wird nicht aufgefordert, nach unten, sondern nach oben zu blicken. Die Engel hatten die Männer von Galiläa in Kap. 1 veranlaßt, ihre Augen vom Himmel wegzuwenden. Hier in Kapitel 7 aber heißt der Geist selbst Stephanus seinen Blick geradeswegs in den Himmel hinein richten. Die Herrlichkeit des Irdischen war eine Sache gewesen, die Herrlichkeit des Himmlischen war jetzt eine zweite. Selbst die Gabe der Sprachen in Kapitel 2 war für die Jünger nicht ein Unterpfand des Himmels gewesen. Es fand bei dieser Gelegenheit keine Verklärung statt. Es gab kein Angesicht, das wie eines Engels Angesicht glänzte. Der Heilige Geist ruhte auf der Versammlung zu Jerusalem, aber die Versammlung selbst befand sich nicht im Angesicht des Himmels als ihrer Heimat und ihres Erbteils. Stephanus dagegen stand auf der Grenze der beiden Welten. Sein Leib war das Opfer der Feindschaft der Welt des Menschen und sein Geist stand im Begriff, in die
Herrlichkeiten der Welt Christi aufgenommen zu werden. Er wurde von seinen Brüdern verworfen, von Gott aufgenommen. Alles deutete einen Übergang an, und so war es am Platze, daß er auf Joseph und Moses zurückblickte, die vor ihm in einer ähnlichen Lage gewesen waren.
Bei dieser Anspielung auf Joseph und andere in Apostelgeschichte 7 möchte ich darauf hinwedsen, daß wir über diesen vorbildlichen und gleichnisartigen Charakter der Geschichten des Alten Testaments nicht erstaunt sein sollten, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: Gott, handelnd in diesen Geschichten, ist in ihnen tätig, Sich und Seinen Ratschlüssen entsprechend. Und infolgedessen werden diese Geschichten zu ebenso vielen Offenbarungen Seiner Selbst und der Vorsätze, die Er zur Ausführung bringen will.
Die Gewißheit, daß die Erzählung göttlich inspiriert ist, läßt uns darum noch nicht im vollen Sinne des Wortes Gott in ihr finden. Die Erzählung ist nicht nur völlig wahr, sondern sie enthält auch eine Absicht. Es tritt uns in ihr nicht nur die Tatsache der göttlichen Eingebung, sondern auch ein „Vorbild" entgegen. „Diese Dinge widerfuhren jenen als Vorbilder". Die
Ereignisse trugen sich so zu, wie sie erzählt werden. Sie sind geschichtlich wahr. Aber Gott ließ sie geschehen, damit sie „Vorbilder" seien, und so lange wir nicht dieses Vorbild, d. h. die göttliche Absicht in der Geschichte, finden, haben wir nicht Gott in ihr gefunden. Wir sollten an diese Erzählungen, sei es nun die von Joseph oder von irgendeinem anderen, in dem
Geiste herantreten, wie der Prophet in das Haus des Töpfers gehen mußte (Jer 18). Er sollte dort eine tatsächliche Arbeit sehen, Gefäße, die von der Hand und durch die Geschicklichkeit des Töpfers gemacht wurden. „Siehe, er machte eine Arbeit auf der Scheibe" (Jer 18,3). Doch in dieser Arbeit lag zugleich eine Unterweisung. Sie hatte eine bildliche Bedeutung, denn der Prophet sollte ebensogut Gott Selbst an der Scheibe sehen wie den Töpfer. So ist es auch mit diesen Geschichten, die uns die Schrift mitteilt. Es ist Wirklichkeit in ihnen, genaue Wahrheit, wie sie uns die Inspiration verbürgt. Aber es liegt auch eine Bedeutung in ihnen, und so lange wir nicht diese entdecken und Gott und Seine Absicht in der Geschichte wahrnehmen, sind wir noch nicht wirklich in das Haus des Töpfers gegangen.
Doch ich erwähne dies nur nebenbei, veranlaßt durch den Gebrauch, den der Geist selbst durch Stephanus von den alttestamentlichen Geschichten von Abraham, Joseph und Moses in diesem wunderbaren Kapitel (Apg 7) macht.
3
Wir kommen jetzt zu dem Teil der Geschichte Josephs, in dem er seinen Vater und seine Brüder wiederfindet, sowie zu den Folgen des Wiederfindens.
Unter den Dingen, die Joseph und seine Umstände während seiner Trennung von seinen Brüdern kennzeichneten, sahen wir namentlich dies: daß er in den Besitz jener Hilfsquellen gebracht wurde, von denen seine Brüder selbst, wie auch die ganze Welt, bezüglich ihrer Erhaltung auf der Erde abhängig sein sollten (vergl. Seite 205). Die Zeit für die Welt, diese Hilfsquellen in Ansprach zu nehmen, war jetzt gekommen, und damit auch für Joseph die Zeit, mit seinen Brüdern wieder vereinigt zu werden.
Joseph steht jetzt in Ansehen und Würden. Der Tag der Erniedrigung und der Trübsal ist für ihn vorüber. Er befindet sich zur Rechten des Thrones von Ägypten und übt Macht und
Herrschaft im Lande. Ohne ihn kann niemand weder Hand noch Fuß aufheben. Er hat den Ring des Königs bekommen und fährt in dem zweiten Wagen. Er ist der Schatzmeister und
Verwalter des ganzen Vermögens der Nation, der einzige, der ihre Vorratshäuser öffnen oder schließen konnte, wie es ihm gefiel. Er, der einst in der Grube war, ist jetzt auf dem Thron.
So ist Joseph gleichsam auferstanden. Ich sage: gleichsam auferstanden, denn die Sache selbst (die Auferstehung aus den Toten) mußte auf den Tag des Sohnes des lebendigen Gottes warten, Der in Seiner eigenen Person aus den Toten wieder lebend hervorkommen sollte. Doch wenn wir auch „das Ebenbild" dieses großen Geheimnisses im Alten Testament nicht finden können, so finden wir doch „Schatten" davon, sowohl in gewissen Anordnungen des Gesetzes, als auch in den Geschichten der Auserwählten. Unter anderem sind der geschlachtete und der lebendige Vogel in 3. Mo 14 und die zwei Böcke in Kapitel 16 desselben Buches solche Anordnungen, und manche geschichtliche Szenen, wie z. B. das Losbinden Isaaks von dem Altar auf dem Berge Morija, oder Jonas Befreiung aus dem Bauche des großen Fisches, stellen dasselbe dar. Ebenso ist es mit diesem Abschnitt in der Geschichte Josephs, als dem Tage seiner Macht und Herrschaft in Ägypten nach den schweren Trübsalen in der Grube und im Gefängnis.
Der Geist Gottes, der in 1Mo 49 Seine Gedanken Jakob in den Mund legt, blickt auf Joseph in dieser Lage zurück und preist ihn dementsprechend: „Sohn eines Fruchtbaumes ist
Joseph, Sohn eines Fruchtbaumes am Quell; die Schößlinge treiben über die Mauer. Und es reizen ihn und schießen, und es befehden ihn die Bogenschützen; aber sein Bogen bleibt fest, und gelenkig sind die Arme seiner Hände, durch die
Hände des Mächtigen Jakobs". Und nachdem der Geist dies von Joseph gesagt hat, benutzt Er es als ein Bild von einem Größeren als Joseph, denn Jakob fügt hinzu: „Von dannen ist der Hirte, der Stein Israels". Wir erblicken Christum in Joseph. Der auferstandene Christus wird hier wie in einem Bilde gesehen. Alle Macht ist jetzt in Ihm im Himmel und auf Erden.
Er sitzt zur Rechten der Majestät in der Höhe. Seine Ansprüche auf alle Hilfsquellen der Schöpfung sind gesichert, besiegelt durch die Würde des Platzes, den Er jetzt einnimmt. Und die Hilfsquellen, die Ihm jetzt gehören, wird Er dereinst gebrauchen für Israel und für die ganze Erde, gemäß dem Muster dieses Geheimnisses, wie es uns in Joseph gezeigt wird.
Am Ende von 1Mo 41 beginnt die Hungersnot und mit ihr das öffnen der Vorratshäuser Josephs. Aber dann verändert sich die Szene für einen Augenblick, und die Erzählung der
Reue seiner Brüder und ihre Annahme wird als eine Art Zwischenhandlung eingeschoben. Doch gerade das ist von besonderer Schönheit, da die Wiederherstellung aller Dinge, wie wir wissen, auf die Buße und Vollzahl Israels wartet. Ehe Vorgänge in Ägypten und das völlige öffnen der Vorratshäuser Josephs für Ägypten und die ganze Erde wird erst später zur passenden Zeit in 1Mo 47 erzählt. Denn „was wird die Annahme anders sein, als Leben aus den Toten"? fragt der Apostel, indem er unter der Leitung des Geistes die Geschichte Israels auf zeichnet (Röm 11). „Wenn ihr Fall der Reichtum der Welt ist, und ihr Verlust der Reichtum der Nationen, wieviel mehr ihre Vollzahl!" So können wir es denn nicht anders erwarten, als daß die Buße der Brüder der vollen Segnung der Erde vorangeht.
Wir kommen nicht umhin, bei diesem Vorgang des Weichwerdens ihrer Herzen unter der Hand Josephs für einen Augenblick zu verweilen. Er ist voll der schönsten Züge wahrer Zuneigung, tief in der Entfaltung der sittlichen Grundsätze unserer Natur und wichtig im Blick auf das Gemälde, das Er von dem Wirken Gottes vermittels Seines Geistes entwirft, indem Er Sünder durch Überführung und durch die Erkenntnis ihres verderbten Zustandes zur Buße und Neuheit des Lebens leitet.
Dieses Wirken Gottes vollzieht sich in einer Zeit der Not und der Drangsal, wie das gewöhnlich in den Wegen des Gottes aller Gnade der Fall ist, denn Er weigert sich nicht, von uns gesucht zu werden, wenn wir keinen Ausweg mehr sehen. So war es bei dem verlorenen Sohn. So bei Josephs Brüdern. Und bald wird es sich ohne Zweifel zeigen, daß es so bei sehr vielen von denen der Fall war, die bestimmt sind, Seinen Namen ewig zu preisen. Der verlorene Sohn wußte nicht mehr aus noch ein. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zu seinem Vater und seines Vaters Haus zurückzukehren. Josephs Brüder wissen sich nicht mehr zu helfen, und so müssen sie hinab nach Ägypten und zu Ägyptens Vorratshäusern. Es mag eine niedrige und schlechte Gesinnung in dem Herzen des Menschen verraten, daß er sich erst dann zu Gott wendet, wenn alles andere ihn im Stich gelassen hat, aber der Herr läßt Sich von solch schlechten und selbstsüchtigen Herzen finden. Er läßt Sich herab, durch diese verächtlichen Türen der Natur einzutreten. Zwanzig lange Jahre hatten Josephs Brüder behaglich und gut gelebt, mit aufgespeicherten Gütern und reichen Segnungen um sich her, und Joseph und seine Trübsale waren ganz und gar in Vergessenheit geraten. Eine Zeitlang besaß der verlorene Sohn sein Geld, das Erbteil seines Vaters, das ihm zugefallen war, und so lange sein Geld vorhielt, suchte er sein Vergnügen und kehrte seinem Vater den Rücken. Aber die Hungersnot überfällt „das feme Land" und „das Land Kanaan", und dann müssen, ob freiwillig oder unfreiwillig, das Vaterhaus und Josephs Vorratshäuser aufgesucht werden (siehe Ho 5,15).
So kamen Josephs Brüder nach Ägypten hinab, um Speise zu kaufen. Sobald Joseph sie sah, erkannte er sie. „Und Joseph gedachte der Träume, die er von ihnen gehabt hatte". Und sogleich reifte der Entschluß in ihm, ihre Seelen wiederherzustellen. Das ist auffallend, aber zugleich von großer Schönheit. Seine Träume hatten nur von seiner Erhebung über sie gehandelt. Wenn er deshalb nur danach getrachtet hätte, diese Träume wahr zu machen, so würde er sich seinen Brüdern sofort zu erkennen gegeben haben, und, wie die bevorzugte
Garbe auf dem Felde oder wie die Sonne am Himmel, sie vor sich auf ihren Angesichtern liegend gesehen haben. Aber seine unmittelbare Absicht war, ihre Seelen wiederherzustellen, nicht etwa, sich selbst zu erheben. Das war der Entschluß, der in seinem Herzen aufkam, als er den Augenblick vor sich sah, in dem er seine eigene Größe und ihre Erniedrigung hätte verwirklichen können. Wie erhaben und schön ist das! Es gab Einen in späteren Tagen, Der, indem Er wußte, daß Er von Gott ausgegangen war und zu Gott hinging, und daß der Vater
Ihm alles in die Hände gegeben hatte, aufstand und Sich umgürtete und anfing, die Füße Seiner Jünger zu waschen. Das Bewußtsein Seiner Würden leitete Ihn nur dahin, den Bedürfnissen Seiner Heiligen zu dienen. Wer könnte den Charakter eines solchen Augenblicks schildern? Doch Joseph erinnert hier in seinem Maße daran. „Er gedachte seiner Träume" — Träume, die ihn erhöhten und nur erhöhten, und dennoch wendet er sich sogleich zu den beschmutzten Füßen, den schuldigen Herzen und verunreinigten Gewissen seiner Brüder, um sie zu waschen, zu heilen und wiederherzustellen.
Das ist, ich wiederhole es, auffallend. Zwischen jener Erinnerung an die Träume und einer solchen Handlungsweise gibt es keine Verbindung, es sei denn, daß Gnade, göttliche Gnade, deren Zeuge Joseph war, gekannt, und daß das Beispiel des Herrn von Johannes 13 verstanden wird. „Joseph gedachte der Träume, die er von ihnen gehabt hatte, und er sprach zu ihnen: Ihr seid Kundschafter; zu sehen, wo das Land offen ist, seid ihr gekommen". Das hieß das gute Werk der Wiederherstellung ihrer Seele beginnen, obwohl der Vorgang demütigend und schmerzlich war. Das Gewissen muß mit aller Treue behandelt werden, wenn etwas erreicht werden soll. Und darauf arbeitet Joseph sogleich hin. Er stellt sich fremd gegen sie. Er spricht mit ihnen durch einen Dolmetscher, und er redet hart. Er muß ihr Gewissen in Tätigkeit bringen, wie schwer das auch für seine persönlichen Gefühle sein mochte. Seine Liebe muß für den Augenblick streng sein. Die Stunde der Rührung und der Zärtlichkeit wird auch kommen. Die Liebe wird einmal belohnt werden, jetzt aber muß sie dienen. An dem Tage ihrer Sünde hatten die Brüder von ihm gesagt: „Siehe, da kommt jener Träumer!" und jetzt, am Tage ihrer Überführung, sagt er zu ihnen: „Ihr seid Kundschafter; zu sehen, wo das Land offen ist, seid ihr gekommen". Sie hatten einst ihren armen Bruder gebunden und verkauft, als ihr Herz kein Erbarmen kannte. Jetzt wird mit aller Entschiedenheit, die keine Zurückhaltung kennt, einer von ihnen genommen und gebunden. Doch das alles geschah nur in der gnädigen Absicht, den Pfeil tief in das Gewissen eindringen zu lassen, damit sein Gift dort wirke und das Urteil des Todes dort niederschreibe. Und dieser Zweck wurde erreicht. Wenn Gott handelt, so dient die Macht des Geistes dem Vorsatz der Liebe. „Wenn sie mit Fesseln gebunden sind, in Stricken des Elends gefangen werden, dann macht er ihnen kund ihr Tun und ihre Übertretungen, daß sie sich trotzig gebärdeten" (Hiob 36,8.9). „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unseres Bruders", sagen sie alle wie mit einem Gewissen, „dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns flehte, und wir hörten nicht; darum ist diese Drangsal über uns gekommen".
Das war schon etwas, ja, es war viel, aber Joseph muß in dem Dienst der Liebe noch weiter gehen. Hätte er von Anfang an seinen Namen berücksichtigt, so würde er sich gleich geoffenbart und als der Geehrte inmitten seiner beschämten und gedemütigten Brüder gestanden haben. Hätte er jetzt sein Herz zu Rate gezogen, so würde er sich geoffenbart und als der Befriedigte an der Brust seiner überführten, trauernden Brüder gelegen haben. Doch er tat weder das eine noch das andere. Die Liebe war mit dem Dienst beschäftigt, und der Ackersmann der Seele muß zu Zeiten, gleich dem Bearbeiter des Erdbodens, lange Geduld haben und auf den Früh- und Spätregen warten.
Das war ein glücklicher und verheißungsvoller Anfang, weil es ein richtiger Anfang war. Joseph muß nunmehr erfahren, ob Gefühle kindlicher und brüderlicher Liebe in seinen Brüdern vorhanden sind, oder ob sie sich immer noch, wie früher, tun das Geschrei eines Bruders und den Kummer eines Vaters nicht kümmern. Deshalb stellt er sie weiter auf die Probe. Härte und Freundlichkeit, Ermunterung und Erschrecken, Forderungen und Gastmähler, Gunstbezeugungen und Vorwürfe, alles wird benutzt, und alles muß Zusammenwirken. Doch alle diese Dinge sind nach der Schätzung eines schuldigen Gewissens wenig verschieden. Nach den Vorstellungen eines solchen Gewissens ist Jesus der aus den Toten auferstandene Johannes der Täufer. Für ein schuldiges Gewissen ist ein fallendes Blatt ein bewaffneter Feind. Die Brüder sind erschreckt, weil sie in das Haus Josephs gebracht werden. Sie fürchten sich, wo kein Grund zur Furcht ist. Aber das alles bewirkt eine nie zu bereuende Buße, und die einer solchen Buße würdige Frucht muß bald hervorkommen.
Joseph entwirft einen Plan, nun völlig zu erproben, ob jetzt wirklich die Gefühle eines Kindes und eines Bruders in ihnen sind. Als sie im Begriff stehen, zum zweiten Male mit Speise für sich und ihre Haushaltungen nach Kanaan zurückzukehren, wird der Kelch Josephs in Benjamins Sack getan — wir kennen die Erzählung ja alle — und sie treten ihre Reise an. Damit haben wir, so einfach die Sache auch scheinen mag, den Wendepunkt erreicht. Ihre eigenen Lippen werden jetzt das Urteil sprechen müssen, denn es handelt sich nunmehr um die Frage, ob sie noch sind, wie sie früher waren, oder ob ihnen ein Herz von Fleisch gegeben worden ist. Wird die Trübsal Benjamins sie bewegen, wozu die Angstrufe Josephs einst nicht imstande waren? Wird der Kummer des betagten Vaters daheim zu ihren Herzen reden, was er einst nicht getan hatte? Wir stehen hier gleichsam wieder auf dem Felde zu Dothan. Die Brüder werden im Geist wieder an den Ort zurückgeführt, wo sie einst ihre Missetat begangen haben. Auf dem Felde zu Dothan (1Mo 37) handelte es sich um die Frage, ob sie ihren unschuldigen Bruder Joseph ihren Lüsten, ihrem Neid und ihrer Bosheit opfern wollten. Hier, wo Benjamin zum Gefangenen gefordert wird, weil der Kelch in seinem Sack gefunden wurde — gefordert als einer, der Leben und Freiheit bei dem Herrn von Ägyptenland verwirkt hatte — werden sie auf dieselbe Weise vor die Frage gestellt, ob sie ihn opfern und dann leichtfertig, sorglos und zufrieden ihres Weges nach Hause weiterziehen wollen, oder nicht.
Nichts könnte die Weisheit Josephs übertreffen, die sich darin kundgibt, daß er seine Brüder im Geiste zu dem Feld bei Dothan zurückführt. Hier wie dort wird dieselbe Frage erhoben und ihnen in ernster Weise vorgelegt. Juda, „den seine Brüder loben werden", gibt Antwort auf diese Frage. Was den Kelch betrifft, so sind sie allerdings unschuldig. Doch das hat für ihre Gewissen nichts zu bedeuten und wird von Juda gar nicht erwähnt. Wenn das Gewissen einmal erwacht und überführt ist, dann wird an nichts anderes mehr gedacht als an die Sünde. „Ich kenne meine Übertretungen, und meine Sünde ist beständig vor mir". Die Brüder hätten von ihrer Unschuld sprechen und einigermaßen darüber verletzt sein können, daß sie von Joseph immer wieder falsch verstanden und beschuldigt wurden. Sie waren Kundschafter genannt worden, als sie aufrichtige Männer waren, und jetzt wurden sie als gemeine Diebe behandelt, obwohl sie ehrlich waren. Sie hätten sagen können, das sei zu arg. Sie hätten manches beleidigende Wort, manche harte Behandlung ertragen können, aber so behandelt zu werden, war doch etwas zuviel für Fleisch und Blut, um es still und ruhig hinzunehmen. Aber nein, nichts von dem allem hören wir. So waren Josephs Brüder jetzt nicht mehr. Sie hatten einst ihre Schuld hinter der Lügenbotschaft, die sie ihrem Vater sandten, versteckt. Jetzt sind sie bereit, ihre Unschuld betreffs des Kelches unter dem Bekenntnis, das sie Joseph machen, zu verbergen. Juda tritt auf, um diese neue Gesinnung in ihnen darzustellen. Sie waren in der Tat schuldlos in allen diesen Dingen, von Anfang bis zu Ende. Sie waren weder Kundschafter noch Diebe. Aber einige zwanzig Jahre früher hatten sie sich einer Sache schuldig gemacht, von der dieser Fremdling in Ägypten (wie sie nicht anders voraussetzen konnten) nichts wußte, die aber Gott und ihr Gewissen kannte. Sie mögen augenblicklich unschuldig sein, aber damals waren sie schuldig gewesen, und ihre Sünde, und diese allein, steht jetzt vor ihnen. Bekenntnis und nicht Rechtfertigung ist ihre Sprache. „Was sollen wir reden", sagt Juda, „und wie uns rechtfertigen? Gott hat die Missetat deiner Knechte gefunden". Joseph stellt sich einen Augenblick so, als ob ihn das alles nichts anginge. Das sei ihre Sache, aber Benjamin gehöre ihm.
Benjamin war der Schuldige, soweit es den großen Mann in Ägypten betraf. Er muß bleiben, die übrigen können, so rasch es ihnen gefällt, nach Hause zurückkehren. „Der Mann, in dessen Hand der Kelch gefunden worden ist, der soll mein Knecht sein; und ihr, ziehet in Frieden hinauf zu eurem Vater".
Was könnte die Weisheit Josephs übertreffen! War die Weisheit Salomos größer, als er den Streit zwischen den beiden Huren entschied? Wenn er, in einem Richt-Geiste, der für einen auf dem Richterstuhl Sitzenden passend war, das Herz einer Mutter ausfindig machte, deckte dann nicht Joseph hier mit derselben göttlichen Weisheit in wirklich bewundernswürdiger Weise das Herz seiner Brüder auf?
Nach jenen Worten Josephs tritt Juda mit den Gefühlen eines Sohnes und Bruders für Jakob und Benjamin ein. „Der Knabe" und „der alte Vater" bilden den Hauptinhalt seiner Rede, denn sein Herz ist jetzt von ihnen erfüllt. Er will ein Knecht seines Herrn bleiben, wenn nur „der Knabe" zu „seinem Vater" zurückkehren kann. Wenn nur das Herz des Vaters getröstet wird und Benjamins Unschuld ihn bewahrt, so will Juda dankbar sein, mag mit ihm selbst geschehen was da will.
Der Erfolg, den Joseph von Anfang an im Auge hatte, ist jetzt erreicht. Die Güte Gottes hat zur Buße geleitet. Joseph war in der Tat erhöht. Die Garbe hatte sich aufgerichtet und stand aufrecht, doch der Zweck von allem war, ihre Sünde hinwegzunehmen. So ist auch Christus jetzt, wie wir lesen, „zum Führer und Heiland erhöht worden, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben" (Apg 5,31).
Und nun kann der Schleier zerrissen wierden, und er wird zerrissen. Joseph wird sich seinen Brüdern zu erkennen geben. Doch das war ein Augenblick, der außergewöhnliche Weisheit erforderte. Das Wiedererscheinen dessen, den sie gehaßt und verkauft hatten, und bei dessen Andenken ihre Seele eben noch so tief erschüttert worden war, konnte zu überwältigend für sie sein. Joseph muß dieses Licht für ihre Augen dämpfen, damit es sich nicht unerträglich für sie erweise. Doch die Liebe ist erfinderisch und hat für jede Gelegenheit die passenden Mittel und Wege. „Ich hin Joseph", sagt er zu seinen Brüdern, fügt aber sozusagen in demselben Atemzug hinzu: „Lebt mein Vater noch?"
Welch ein schöner Beweis von der Größe der Gnade und von der Erfindungsgabe der Liebe! Joseph hätte sich diese Frage selbst beantworten können. Judas Worte (die ihm sicherlich noch in den Ohren klangen, da sie zu kostbar für ihn waren, als daß er sie so rasch hätte vergessen können) hatten ihm schon gesagt, daß sein Vater noch am Leben sei. Aber Joseph beeilte sich, die Gedanken seiner Brüder auf eine dritte Person hinzulenken. Die Aufseher und Diener des Palastes durften nicht gegenwärtig sein, wenn er sich seinen Brüdern zu erkennen gab, denn das hätte sie vor jenen bloßgestellt. Aber ebensosehr fürchtete Joseph, mit ihnen allein zu sein, weil er dies für zu schwer für sie hielt. Darum brachte er eine dritte Person hinein, und er hätte keine passendere finden können als gerade die, welche er durch seine Worte einführte.
Das war in der Tat an seinem Platze vollkommen. Es erinnert mich an die Szene am Brunnen zu Sichar. „Ich bin's, der mit dir redet", sagt der Herr zu dem Weibe, das gerade durch Ihn dahin gebracht worden war, sich selbst in ihren vielen Sünden zu erkennen. Er sagt nicht nur: „Ich bin's", sondern: „Ich bin's, der mit dir redet". In diesen Worten offenbart Er Seine
Herrlichkeit. Er steht vor ihr als der Messias, der nach ihren eigenen Worten alles verkündigen konnte, und der ihr, wie sie es gerade erfahren hatte, wirklich alles gesagt hatte, und zwar Dinge, die für das Ohr eines erwachten Gewissens schrecklich waren. Aber Er offenbart zugleich mit Seiner Herrlichkeit auch die liebliche, herablassende und einladende Gnade Dessen, Der da saß und mit ihr, dem sündigen Weibe, redete. Und auf diesem Grunde fand ihre Seele Freimütigkeit, während man meinen möchte, sie hätte überwältigt werden müssen.
Ja, die Liebe weiß immer das rechte Wort und den rechten Weg zu finden. Doch wir werden noch mehr davon bei Joseph sehen.
Kurz nachher sagt er ihnen nochmals: „Ich bin Joseph", und fügt dann hinzu: „den ihr nach Ägypten verkauft habt". Aber in unmittelbarer Verbindung damit setzt er ihnen Gottes Vorsätze bezüglich dieser ganzen Sache weitläufig auseinander und sagt ihnen, wie wichtig es für den Pharao, für Ägypten und für die ganze Welt, ja selbst für sie und ihre Haushaltungen gewesen sei und noch sein werde, daß er seine Heimat verlassen habe. Die Liebe läßt ihnen somit keine Zeit, sich mit Gedanken über sich selbst zu beschäftigen. Joseph erfüllt ihre Herzen mit einer Menge anderer Gedanken — und dann küßt er sie und weint mit ihnen.
Jetzt, nachdem dies alles geschehen ist, mögen auch die Leute des Pharao wieder zugegen sein und in den Fremden aus Kanaan nicht Josephs Verfolger, sondern seine Brüder erkennen. Nur in diesem Charakter werden sie in den Palast geführt. Gerade wie in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn: der Vater allein will ihn in seinem Elend sehen, und während er noch mit Lumpen bedeckt, in Hunger und Schande ist, küßt und bewillkommt er ihn. Aber die Hausangehörigen sollen ihn als Sohn am Tische sehen. „Laßt jedermann von mir hinausgehen", hatte Joseph gesagt, als er im Begriff stand, sich seinen Brüdern zu erkennen zu geben, aber jetzt soll das ganze Haus des Pharao hören, daß Josephs Brüder angekommen sind. Alles das atmet den Geist des Hochgelobten, von dem uns die Evangelien erzählen. Wir befinden uns gleichsam in Joh 4 und Lk 15, wenn wir 1Mo 45 betrachten.
Es gibt Zeiten und Verhältnisse im menschlichen Leben, wo das Herz ganz und gar in den Vordergrund tritt und seine Rechte geltend macht. Wir alle kommen zuweilen in eine solche
Lage, wie auch der Herr Selbst es tat. In Seinem Verkehr mit den Jüngern finden wir eine nie wankende Treue. Er ließ ihre Fehler nicht ungestraft durchgehen. Vielmehr tadelte Er sie oft, weil Er sie vollkommen liebte. Es lag Ihm mehr daran, ihre Seelen zu erziehen und zu üben, als Sein eigenes Herz zu befriedigen. Doch es kam ein Augenblick, wo die Treue der
Zärtlichkeit Platz machen mußte. Ich meine die Stunde der Trennung, wie sie uns in Joh 14-16 beschrieben wird. Da war es nicht mehr an der Zeit, treu zu sein. Die Erziehung der Seele unter den Zurechtweisungen eines Hirten sollte nicht mehr länger fortgesetzt werden. Kein: „O ihr Kleingläubigen!" oder: „Wie, verstehet ihr noch nicht?" wurde mehr gehört. Die
Stunde der Trennung war gekommen, und das Herz hatte Freiheit, sie für sich auszunutzen.
Nun, eine Versöhnungsstunde gleicht in dieser Beziehung einer Scheidestunde. Das Herz nimmt sie ganz für sich in Anspruch. Zärtlichkeit allein paßt für sie. Treue würde nicht am Platze sein. Und so finden wir es denn auch jetzt bei Joseph. Er weinte laut, so daß das ganze Haus des Pharao es hörte. Er weinte an dem Halse aller seiner Brüder. Er fiel seinem Bruder
Benjamin um den Hals und weinte und küßte ihn. Und wenn er inmitten dieser strömenden Tränen sprach, so geschah es nur, um ihre Herzen zu ermutigen und ihnen Versicherungen und Erklärungen zu geben, die dazu geeignet waren, ihnen volles Vertrauen und Zuversicht in seiner Gegenwart zu geben16.
Doch als diese Stunde vorüber war und er sie in den Palast des Pharao geführt hatte, und als sie wiederum im Begriff waren, nach Kanaan zurückzukehren, um ihren alten Vater nach Ägypten zu holen, ja, als sie so dastanden, Benjamin und Simeon bei ihnen, alle überglücklich in dem Genuß dieser frohen Stunde, da war wohl ein Wort der Warnung am Platze, und Joseph hatte es auch für sie. Er sagt zu ihnen: „Erzürnet euch nicht auf dem Wege". Die Frage: „Simon, Sohn Jona', hast du mich lieb?" wurde in ähnlicher Weise und in einem verwandten Augenblick an das Herz des Petrus gerichtet, als die Versöhnung, wenn ich sie so nennen darf, vollendet war, das Netz des Petrus hundertdreiundfünfzig Fische umschlossen und er mit dem von ihm verleugneten Herrn am Ufer des Sees gegessen hatte.
Dies alles ist von Anfang bis zu Ende wirklich vollkommen. Es gibt in der Schrift eine sittliche Schönheit, die sie in Wahrheit zu dem vorzüglichsten, wie wir wohl sagen dürfen, unter den Werken Gottes macht. Sein Geäst weht überall darin. Ihre Zartheit, ihre Erhabenheit und ihre Tiefe sind alle gleicherweise Sein. Der Ausgang der Geschichte Josephs und seiner
Brüder ist außerordentlich schön. Den Rechten Josephs und dem Unrecht, das ihm widerfahren war, den Ansprüchen, die er gemacht, und den Beleidigungen, denen er ausgesetzt gewesen war, allem wurde in wunderbarer Weise entsprochen. Welche erhabenen Würden ihm seine Träume auch zugesprochen haben mochten, sie wurden ihm alle in vollem Maße zuteil. Wie groß auch das Unrecht war, das er erduldet hatte, es wurde alles gerächt, und zwar in einer Weise, die auch sein eigenes Herz gewählt haben würde. Das Gericht über die an ihm verübte Sünde wurde in den Herzen der Brüder selbst ausgeübt. Nicht ein hartes Wort betreffs ihrer kam von Anfang bis zu Ende über die Lippen Josephs.
Bei der Betrachtung dieser wunderbaren Ausgänge der Geschichte Josephs und seiner Brüder werden wir unwillkürlich an das Wort des Propheten erinnert: „Auch dieses geht aus von Jehova der Heerscharen; er ist wunderbar in seinem Rat, groß an Verstand" (Jes 28,29).
Doch ich möchte noch auf etwas anderes aufmerksam machen. Die Überführung des Gewissens kann eine bloß natürliche sein, die gewöhnliche, notwendige Tätigkeit der Seele, deren Mangel einen unreinen, verhärteten Zustand verraten würde. Wenn jene Überführung dagegen mehr ist als eine bloße Aufrüttelung der Seele unter der Wirksamkeit der Natur, wenn der Geist Gottes sie hervorgebracht hat, so nimmt dieser gleichsam Sein eigenes Werkzeug zur Hand und arbeitet damit. David, von dem Geiste überführt, sagt: „Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt, und ich habe getan, was böse ist in deinen Augen" (Ps 51,4). Und so wird es auch mit dem Volke Israel am Tage seiner Überführung sein. Ihr Gewissen wird sie dann auf den einst verworfenen und gekreuzigten Jesus hinweisen, Wie der Herr durch den Propheten sagt: „Ich werde über das Haus Davids und über die Bewohner von Jerusalem den Geist der Gnade und des Flehens ausgießen; und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen gleich der Wehklage über den Eingeborenen, und bitterlich über ihn leidtragen, wie man bitterlich über den Erstgeborenen leidträgt" (Sach 12). So ist die Überführung, wenn der Geist Gottes jene Arbeit aus der Hand der Natur in Seine eigene Hand nimmt, und so tut das Gewissen sein Werk „in dem Heiligen Geiste", wie der Apostel es ausdrückt. An einem solchen Tage und unter so mächtiger Einwirkung wird Israel sich dereinst unmittelbar an Jesum wenden. Jes 53 zeigt uns dieselbe Sache in einer anderen Form. Und wahrlich, dies ist ein köstliches Werk in der Seele, ja, nicht nur köstlich, sondern auch notwendig in einem jeden von uns.
Nun, dieses Werk sehen wir in den Brüdern Josephs, und es ist wirklich unserer eingehenden Betrachtung wert. Ihre Sünde gegen Joseph war es, die sie sich am Tage ihrer Bedrängnis ins Gedächtnis zurückriefen. „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unseres Bruders", sagen sie, „dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns flehte, und wir hörten nicht". Andere
Sünden mochten zu gleicher Zeit vor ihrem Gewissen stehen. Ruben mochte an die Schändung des Bettes seines Vaters denken, Simeon und Levi an ihr Blutvergießen und ihre Treulosigkeit, und Juda an seine Ehe mit der Tamar. Aber bis ins Herz bewegt, nicht bloß durch die Trübsal, die über sie gekommen war, sondern durch den Geist selbst, gedenken sie der gemeinsamen Sünde und sprechen, wie aus einem Gewissen, von ihrer Bosheit gegen Joseph. Und das ist es, was das Werk des Geistes bei dieser Überführung verrät.
Dies ist, ich wiederhole es, ein notwendiges Werk in einem jeden von uns. Aber die Quelle der Gnade muß ebensogut ihr Werk tun, wie der Geist der Gnade. Joseph gab, wie wir gesehen haben, eine Erklärung seiner Trübsale, obwohl diese sehr verschieden war von der Erklärung, die ihre Befürchtungen und ihr Schuldbewußtsein den Brüdern gegeben hatte. Sie sagen, und zwar mit allem Recht: „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unseres Bruders". Er sagt, und er sagt es der Wahrheit gemäß: „Gott hat mich vor euch hergesandt, . . . um euch am
Leben zu erhalten". Gerade so ist das Evangelium. Wir werden überführt, aber gerettet. Wir lernen, daß wir uns selbst zugrunde gerichtet haben, aber zugleich auch, daß in Ihm unsere Hilfe ist. Die Quelle der Gnade öffnet sich uns gerade in jenen Wunden, die unsere eigenen Hände geschlagen haben. Dasselbe wird der jüdische Überrest (dessen Geschichte, wie wir wissen, in derjenigen der Brüder Josephs vorbildlich dargestellt ist) in jenen Tagen erfahren, von denen Jes 53 und Sach 13 reden. Das Kreuz ist das Zeugnis. Der Glaube steht vor ihm und lernt dort Verderben und Erlösung kennen.
Im Verlauf dieser wunderbaren Geschichte ist die Versöhnung also eine völlige Versöhnung geworden. Joseph hat seine Brüder angenommen, und infolgedessen ist alles zu Israels völliger Segnung bereit. Auf die Bekehrung muß die Wiederherstellung folgen. „Zeiten der Erquickung und der Wiederherstellung" (Apg 3) müssen kommen, wenn Israel Buße tut. Der betagte Vater wird mit seiner Haushaltung und seinen Herden aus Kanaan geholt und mit seinen Söhnen vor den Pharao gestellt, und der allerbeste Teil des Landes, das Land Gosen, wird ihnen zum Wohnsitz gegeben17.
Sie waren aufgefordert worden, ihren ganzen Hausrat zurückzulassen, da ja das Beste des ganzen Landes Ägypten vor ihnen sei. Und so erwies es sich auch. Ihre leeren Säcke waren das erste Mal nach Ägypten gekommen, um dort gefüllt zu werden, und jetzt sollten sie aufs neue erfahren, daß es ein Herz und eine Hand in Ägypten gab, die sowohl fähig als auch bereit waren, ohne Maß zu geben, und je leerer sie hinabkamen, desto reichlicher und herrlicher sollten sie dies erfahren.
Sie waren allerdings nur Hirten, und solche waren den Ägyptern ein Greuel, aber Joseph „schämte sich nicht, sie Brüder zu nennen". Sie waren Fremdlinge und Beisassen, aber ich wiederhole, der Mann jenes Tages, der Herr von Ägypten, „schämte sich nicht, sie Brüder zu nennen". Er erkennt sie an in Gegenwart des Königs, des Palastes und des Volkes. Und der König zeigt die gleiche Gesinnung. Daß sie Josephs Brüder waren, war für den Pharao genug. Wahrlich, das redet laut und verständlich zu uns. Ein Tag ist nahe, an dem diese Vorbilder ihre volle Verwirklichung finden werden in Christo und Israel. Er wird sich wieder zu ihm wenden und sagen: „Mein Volk", und Israel wird sagen: „Jehova ist mein Gott".
Doch so groß und erhaben dies auch sein mag, so ist es doch noch nicht alles. Die Erde selbst muß geordnet und gesegnet, das Erbe muß in Besitz genommen und vor aller Augen gezeigt werden. Dazu kommen wir jetzt. Joseph wird in 1Mo 47 der Erhalter der Welt in Bezug auf Leben und Ordnung. Durch ihn wird das Leben auf der Erde erhalten und die
Ordnung bewahrt, und das ganze Volk ist willig gemacht am Tage seiner Macht. (Vergl. Ps 110,3). Alles was Joseph tut, ist recht in den Augen des ganzen Volkes. Ihr Geld, ihr Vieh, ihr Land und sogar sie selbst werden in den Besitz des Pharao gebracht, und doch sind sie mit allem einverstanden, denn sie verdanken Joseph ihr Leben. Das Ägypten jener Tage war ein
Vorbild von der neuen Welt, von der durch Erlösung wieder für Gott erworbenen Welt. Es war „ein erworbener Besitz", was ja auch die Erde im tausendjährigen Reich sein soll (Eph 1,
14). Es war eine versöhnte Schöpfung, von dem Verderben der Hungersnot, von Tod und Fluch befreit durch die Hand eines Retters. Josephs Korn hatte das Land, das Vieh und das Volk gekauft. Alles gehörte dem Pharao in einem neuen Charakter, als ein erworbener Besitz, der unter der Gnade der Erlösung stand. Der Pharao, der einst König des Landes war, ist auch noch König, aber er ist jetzt mit einem anderen, einem Erlöser des Landes und des Volkes verbunden, was vorher nicht der Fall war. Ebenso wird der Thron im tausendjährigen Reich „der Thron Gottes und des Lammes" sein. Welch ein Bild hat die Hand Gottes hier für uns auf gezeichnet! Welch ein Unterpfand, ja welch ein Beispiel haben wir hier von der Erde in den Tagen des Reiches, wenn die Erde eine Zeitlang den wahren Joseph als Herrn bekennen wird zur Verherrlichung Gottes, des Vaters, und der Thron Gottes und des Lammes aufgerichtet ist!
Der Pharao hatte im Anfang Joseph Vertrauen geschenkt, und Joseph hatte dem Pharao Versicherungen gegeben, bevor irgend etwas geschehen war. Ehe das Wort Josephs in Erfüllung ging, hatte der Pharao ihn in Macht und Würden eingesetzt, ihm ein Weib gegeben aus den Töchtern der Ersten des Landes und ihm einen Namen beigelegt, der einem jeden, der ihn zu deuten verstand, sagte, was der Pharao von ihm dachte, und Wie er ihn betrachtete18. Und Joseph hatte im Vertrauen darauf, daß alles nach der Traumdeutung, die Gott ihm zu verkünden gegeben hatte, geschehen würde, dies alles aus der Hand des Pharao angenommen, und dann erst kamen die Jahre des Überflusses, eines nach dem anderen, um die Versicherungen, die Joseph dem Pharao gegeben hatte, wahrzumachen und alle die Ehrenbezeugungen, die der Pharao Joseph erwiesen hatte, zu rechtfertigen (siehe 1Mo 41).
Das sind kostbare Aufzeichnungen von alledem, was sein Urbild, seine zuvor beschlossene und ewige Verwirklichung in den Geheimnissen findet, die zwischen Gott und Seinem Gesalbten von jeher bestanden haben. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns niederzubeugen und anzubeten, und, wenn wir die Beute und die Reichtümer des Wortes Gottes einsammeln, uns daran zu erfreuen und dankbar zu sein. „Ich freue mich über dein Wort wie einer, der große Beute findet". „An dem Wege deiner Zeugnisse habe ich mich erfreut wie
über allen Reichtum" (Ps 119).
Es ist ganz naturgemäß, daß wir dieses Muster der neuen Welt oder des zukünftigen Zustandes der Erde im tausendjährigen Reich in der Geschichte Josephs finden, denn, wie ich im Anfang sagte, er ist der Erbe, und er war dazu gesetzt, einen solchen unter der Gnade Gottes darzustellen, nachdem jeder seiner Väter unter derselben fruchtbringenden und überströmenden Gnade seinen besonderen Teil der Gedanken Gottes vorbildlich ausgedrückt hatte. In Abraham fanden wir die Erwählung, in Isaak die Sohnschaft, zu der uns die Erwählung zuvorbestimmt hat, in Jakob die Zucht, unter welche die Sohnschaft uns bringt und jetzt in Joseph den Erben und die Erbschaft, die der Sohnschaft folgt. Damit schließt dann die Enthüllung des Geheimnisses, das die Gnade sich vorgesetzt hat, und damit schließt das erste Buch Mose.
Hier ist keine Rede oder Sprache, aber das geöffnete Ohr vernimmt eine Stimme, die klar, voll und harmonisch klingt. Und wenn wir auf die Geschichte Josephs allein zurückblicken, so haben wir ein Blatt der Heiligen Schrift vor uns, das voll von Jesus ist. Zuerst sehen wir einen verworfenen Jesus, dann einen auferstandenen und verherrlichten Jesus, und schließlich den Jesus des tausendjährigen Reiches in Seinem Erbe und Königreich. — Wie groß und wunderbar ist Gott! Ihm sind alle Seine Werke von Anfang an bekannt. Er hat das Licht und die
Finsternis gebildet.
Doch das, was wir hier nicht finden, ist ebenso lehrreich wie das, was wir finden. In der herrlichen Darstellung der Erbschaft tritt eine, die Wir vielleicht hauptsächlich zu sehen erwarten hätten, gar nicht hervor. Asnath, das Weib Josephs, wird hier nicht gefunden. Sie und ihre Kinder erhalten kein Teil bei diesem Ordnen aller Dinge im Lande. Sie werden dabei nicht einmal erwähnt. Sollten sie etwa vergessen worden sein? Das wäre unmöglich. Nein, die Ursache ist eine andere. Sie war das Bild der himmlischen Braut, das Weib, das dem Joseph aus den Nationen gegeben wurde während seiner Absonderung von seiner Verwandtschaft, und ihr Teil ist erhabener als was das Land in seinem besten Zustand ihr hätte bieten können. Ihr Teil ist in ihm und mit ihm, der der Herr und der Verwalter von allem ist. Asnath geht in Joseph auf oder wird nur in Joseph gesehen.
Und so wird uns das volle Ende von Anfang an mitgetedlt, denn alles, was wir hier im ersten Buch Mose finden, stellt „die Verwaltung der Fülle der Zeiten" dar, wenn Gott alles unter ein Haupt zusammenbringen wird in dem Christus, das was in den Himmeln und das was auf der Erde ist. Und wirklich, es ist köstlich, angesichts der gegenwärtigen Verwirrung in der Welt und inmitten des Streites menschlicher Meinungen, wovon wir stets umgeben sind, aus dem Munde solcher Zeugen zu erfahren, daß das Ende so vor Gott steht und von Anfang an so vor Ihm gestanden hat. „Der Ratschluß Jehovas besteht ewiglich, die Gedanken seines Herzens von Geschlecht zu Geschlecht" (Ps 33,11). Sein Volk und Seine Ratschlüsse betreffs Seines Volkes stehen in gleicher Weise vor Ihm, und solche Wahrheiten trösteten auch die Apostel, als sie inmitten des Verfalls der Kirche Enttäuschung auf Enttäuschung erfuhren (siehe 2Tim 2,19).
4
Die Kapitel 48—50 bilden mehr einen Anhang als einen Teil der Geschichte Josephs. Sie erzählen einige für sich dastehende Handlungen aus seinen späteren Tagen. Das erste Ereignis, dem wir hier begegnen, trägt indes einen der ganzen Geschichte Josephs verwandten Charakter. 1Mo 48 teilt uns nämlich die Verleihung des Erstgeburtsrechtes an Joseph mit, und
Erstgeburtsrecht und Erbschaft sind in gewissem Sinne das gleiche.
In Israel (oder unter dem Gesetz) trug das Erstgeburtsrecht ein doppeltes Teil ein. Der Erstgeborene erhielt zwei Teile von den Gütern des Vaters, und das Gesetz erklärte dies für ein unverletzliches Recht, das nicht umgestoßen werden durfte. Das doppelte Teil durfte weder auf Grund einer persönlichen Zuneigung noch infolge irgendwelcher Parteilichkeit einem anderen Kinde der Familie gegeben Werden (siehe 5Mo 21,15-17).
Doch obwohl dies so war, konnte das Erstgeburtsrecht doch von dem Erstgeborenen selbst verkauft oder verwirkt werden. Seine eigenen Handlungen konnten es ihm entziehen. Und wir finden, daß beides vorgekommen ist. Esau verkaufte es, und Ruben verwirkte es (1Mo 25; 1Chr 5). Bei dem Verkauf durch Esau empfing naturgemäß Jakob, der es kaufte, das
Anrecht daran. Der Kauf und Verkauf machten es zu seinem Eigentum. Aber wer sollte es in dem Fall der Verwirkung durch Ruben erhalten? Es fiel auf den Vater zurück. Aber welchem seiner Söhne würde er es verleihen? Das war die Frage, und diese Frage beantwortet das vorliegende Kapitel. Es zeigt uns den betagten Vater, den sterbenden Jakob, wie er in feierlicher Weise Joseph in das Erstgeburtsrecht einsetzt, das Ruben, sein Erstgeborenen, verwirkt hatte.
Auf die Nachricht von der Erkrankung seines Vaters eilt Joseph an dessen Bett und bringt seine beiden Söhne Manasse und Ephraim mit. Keiner der anderen Söhne Jakobs war bei dieser bedeutsamen Handlung gegenwärtig. Der Geist Gottes hatte durch Jakob etwas Besonderes mit Joseph zu tun.
Jakob erinnert zunächst Joseph daran, daß Gott ihnen das Land Kanaan geschenkt habe. Er weist auf das Familiengut hin, das er seinen Kindern zu hinterlassen hatte. Darauf adoptiert er die Söhne Josephs, denn das war notwendig, um ihnen Kindesrechte zu verleihen, da sie in streng gesetzlichem Sinne nicht zu Abraham gehörten. Ihre Mutter war eine Ägypterin. Sie waren deshalb ein Same, den das Gesetz zur Zeit seiner Geltung beiseitegesetzt haben würde (vergl. Esra 10,3). Doch Jakob adoptierte sie. Er nimmt sie in die Familie auf. „Und nun", sagt er zu Joseph, „deine beiden Söhne, die dir geboren sind im Lande Ägypten, ehe ich zu dir gekommen bin nach Ägypten, sollen mein sein". Sie werden dem Samen Abrahams einverleibt und zu Kindern Jakobs gemacht, und nachdem dies geschehen ist, versetzt Jakob sie sofort an den Platz des Erstgeborenen, indem er hinzufügt: „sie sollen mein sein wie
Ruben und Simeon".
Das war ein feierlicher Verleihungsakt, durch den die Rechte des Ältesten, das doppelte Teil, in der Person seiner beiden Söhne auf Joseph überging. (Siehe 1Chr 5; Hes 47,1319.
Doch die Frage bleibt: Warum wurde Joseph so bevorzugt? War es einfach Gnade? Ich glaube nicht. Ich weiß wohl, daß die Gnade auch bei dieser Gelegenheit ihren Weg ging, aber doch möchte ich lieber sagen, daß Joseph das Erstgeburtsrecht sich erworben habe. Wir haben bereits seinen Weg bis zur Besitzergreifung des Erbes angedeutet. Es war ein Pfad gleich dem seines göttlichen Meisters, dessen ferner Schatten er war, ein Pfad der Schmerzen, der Verwerfung, der Absonderung, und doch der Gerechtigkeit und des treuen Zeugnisses. Und dieser Pfad hatte sein Ende gefunden in Lob und Ehre und Herrlichkeit in dem Reiche oder dem Erbe, und Erstgeburtsrecht und Erbe sind, wie wir bereits gesagt haben, verwandte
Begriffe.
Es ist deshalb natürlich zu sagen, daß Joseph sich das Erstgeburtsrecht erworben habe. Juda erwarb das Königtum, Levi das Priestertum, und so Joseph das doppelte Teil. Auch gibt ihm sein Vater ein Pfand, „ein Unterpfand des Erbes", denn am Schluß dieser Begebenheit sagt er zu ihm: „Ich gebe dir einen Landstrich über deine Brüder hinaus, den ich von der
Hand der Amoriter genommen habe mit meinem Schwerte und mit meinem Bogen". Das war ein Unterpfand und zugleich ein charakteristisches Beispiel von dem Erbe Josephs. Diesen Landstrich hatte das Schwert Jakobs erworben, so wie das Ausharren Josephs das Erbe und das Erstgeburtsrecht erworben hatte, und demgemäß preist ihn nachher der sterbende Vater. „Die Segnungen deines Vaters überragen die Segnungen meiner Voreltern bis zur Grenze der ewigen Hügel. Sie werden sein auf dem Haupte Josephs und auf dem Scheitel des Abgesonderten unter seinen Brüdern". Oder wie Moses, der Mann Gottes, von ihm sagt: „Es komme der Segen auf das Haupt Josephs und auf den Scheitel des Abgesonderten unter seinen Brüdern" (5Mo 33,16).
Der Apostel spricht von der „Vergeltung des Erbes", Worte, die gerade nicht so lauten, als ob sie genau zusammenpaßten, denn ein Erbe ist aus Gnaden, eine Vergeltung aber die Folge eines Werkes. So spricht auch der Herr davon, daß Er eine „Krone des Lebens" geben wolle, Worte, die auch fast so klingen, als ob sie nicht zusammengehörten, denn Leben ist eine
Gnadengabe, und eine Krone ist eine Belohnung. Doch die Seele versteht diese Dinge und macht keine Schwierigkeit daraus, denn in einem Sinne sind die Segnungen alle erworben, in einem anderen verheißen oder geschenkt. Und Joseph empfing, meine ich, auf diese Weise das Erstgeburtsrecht oder das Erbe. Es war für ihn „die Vergeltung des Erbes". Es war etwas Erworbenes und doch Geschenktes, etwas Verdientes und doch eine freie Gabe. In seiner Erteilung erblicken wir einerseits Gnade, andererseits aber auch die Frucht oder den
Ausgang des dornenvollen Pfades eines Märtyrers, den er, und er allein unter allen Söhnen Jakobs, geduldig und triumphierend gegangen war.
Die Handlung des Kapitels 48 steht daher in völliger Übereinstimmung mit dem besonderen Charakter der Geschichte Josephs. Wir sehen in ihm den Erben, und als solchem wird ihm das Erstgeburtsrecht, das zweifache Teil, und zugleich damit das Pfand, „das Unterpfand des Erbes", übertragen.
Im folgenden Kapitel wird Joseph nur als einer der vielen Söhne Jakobs betrachtet, indem Jakob, der Vater, hier die Hauptperson ist. Joseph und seine Brüder befinden sich in
Gegenwart und vor den Gedanken des sterbenden Patriarchen, der, durch den Geist geleitet, ihnen kundtut, was ihnen am Ende der Tage begegnen würde. Doch ich will hier nicht näher darauf eingehen, da dies bereits in der Betrachtung über „Jakob" geschehen ist.
In dem letzten Kapitel tritt Joseph wieder in den Vordergrund, jedoch weniger als Vorbild, sondern mehr persönlich, d. h. nicht als Erbe, sondern mehr als Mensch. Wir erblicken hier
Joseph selbst, seinen Charakter und seine Tugenden, weniger den Herrn von Ägypten mit dessen Stellung und Würden. Und persönlich betrachtet ist er vielleicht der anziehendste Charakter im ganzen ersten Buche Mose. Bei ihm offenbart sich mehr Frucht und Kraft der Gottseligkeit als bei irgendeinem seiner Vorväter. Wir finden bei ihm den stetigsten, sich allezeit gleichbleibenden Wandel in den Wegen Gottes. Wohl zeigt sich nicht die Erhabenheit wie bei Abraham, und selbstverständlich auch weniger Übung des Geistes als bei Jakob. Aber durch alle Umstände, Versuchungen, Ehren und Wechsel hindurch bleibt Joseph stets der Mann Gottes, der in der Furcht Gottes und vor Gott wandelt. Seine Geschichte besteht nicht aus Fehltritten und Wiederherstellungen, noch weist sie die Notwendigkeit einer Rückkehr zu den ersten Werken auf. Sie ist vielmehr ein Pfad des Lichtes, und wenn dieses Licht auch nicht fort und fort bis zur Tageshöhe zunahm, so schien es doch klar und ruhig und beständig. In seiner Geschichte hören wir nichts von Besuchen seitens der Engel, oder von Erscheinungen des Herrn, oder vom Empfangen göttlicher Aussprüche. Aber wir erblicken in Joseph selbst ein Gefäß, das von Gott benutzt wurde, weil es von Ihm erprobt war — etwas sehr Köstliches bei Gott. Wir begegnen keiner Wiederholung von Pniel oder Beerseba, keinen gelegentlichen Erfrischungen und Erleuchtungen, sondern vielmehr einem bleibenden inneren Zeugnis, so daß Joseph den Weg Gottes kannte und ihn ging. „Das Wort Jehovas läuterte ihn" (Ps 105,19). Die Autorität, die Ägypten zu seiner Zeit in ihm anerkannte, hatte er vorher in dem Herrn anerkannt. Er war selbst der Gehorsame, und dann wurde er der Eine, dem alles untertan war. Er harrte gleichsam mit Christo in Seinen Versuchungen aus, und dann wurde er zum Königtum bestimmt. Unterwerfung war sein Pfad zur Verherrlichung, und das ist der rechte Pfad aller Erben desselben Königtums.
Außer dem bereits Berührten gibt es noch einige besondere Umstände in der Geschichte Josephs. So finden wir z. B. bei ihm weder Altar noch Zelt, wie bei seinen Vätern, weil uns in ihm nicht Fremdlingschaft auf der Erde vor Augen gestellt wird, sondern Erbschaft und Königtum, nach Leiden und Erniedrigung. Statt des Zeltes seiner Väter finden wir die Grube und das Gefängnis, und diese sind nur sein Teil, nicht das Teil seiner Väter. Zelt und Altar waren die passenden Symbole ihrer Berufung. Grube und Gefängnis, und nachher der Thron, sind die Symbole seiner Berufung.
Weiter ist zu erwähnen, daß der Herr niemals der Gott Josephs genannt wird, wie Er „der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs" heißt. Auch das hat seinen besonderen Grund. Joseph gehörte eher zu den Söhnen als zu den Vätern. Mit ihm war nicht der Bund gemacht worden, wie mit Abraham, Isaak und Jakob, noch war irgend jemand beiseitegesetzt worden, um ihm die Segnung zuteil werden zu lassen. Der Bund war mit Abraham gemacht worden, als er von seinem Vaterland, von seiner Verwandtschaft und von seines Vaters Haus abgesondert wurde. Er war mit Isaak erneuert worden, wodurch Ismael beiseitegesetzt wurde, und wiederum mit Jakob, was die Beiseitesetzung Esaus herbeiführte. Aber mit Joseph wurde er nicht erneuert, denn er war nur einer der Söhne Jakobs, die alle gleichen Anteil daran hatten. Sie alle gehörten zu dem Samen, auf den der Bund sich bezog, und zwar Joseph nicht mehr als jeder der übrigen. So war kein Grund vorhanden für den besonderen Namen: „der Gott Josephs". Denn während die Gnade sich offenbarte in der Berufung Abrahams und darauf in der Auswahl Isaaks, des Jüngeren, und schließlich in der Auswahl Jakobs, des Jüngeren, entfaltete sie sich bei Joseph nur in dem gewöhnlichen Maße zugunsten des ganzen Samens, ohne im Blick auf Joseph eine Ausnahme zu machen20.
So ist Joseph an unseren Blicken vorübergezogen in seinem sittlichen, wie in seinem vorbildlichen Charakter, mit den ihm eigenen Tugenden, wie in seiner besonderen symbolischen
Stellung. Doch sind wir noch nicht ganz mit ihm fertig.
Er war auch ein Mann der Tränen. Paulus sagt, daß er „eingedenk" sei der Tränen des Timotheus, und manche Tränen waren bei verschiedenen Gelegenheiten in den Augen Josephs, deren wir wohl eingedenk sein sollten. Inmitten der anerzogenen und höflichen Umgangsformen unserer Tage tun uns ernste, wahre und herzliche Gefühle wirklich not. Tränen sind oft etwas Kostbares und zuweilen sogar etwas Heiliges.
Im Anfang, als Joseph sah, daß ein Schuldbewußtsein in den Herzen seiner Brüder erwachte, weinte er. Das waren Tränen des Schmerzes und zugleich der Freude. Er fühlte den Kampf in ihren Seelen mit ihnen, und doch muß er sich gefreut haben, zu sehen, wie der Pfeil sie ins Mark traf und die Wunden anfingen zu bluten.
Er weinte aufs neue, als er Benjamin sah, den Sohn seiner eigenen Mutter, dessen Geburt zugleich ihr Tod gewesen war, und den einzigen unter den Söhnen seines Vaters, der sich nicht seines Blutes schuldig gemacht hatte. Diese Tränen waren daher mehr eine Folge natürlicher Gefühle.
Wiederum weinte er, als er sah, daß das Werk der Buße in seinen Brüdern Fortschritte machte. In seiner Weise sehnte er sich nach ihnen mit dem Herzen Jesu Christi, bis zuletzt Judas
Worte zuviel für ihn wurden. Die Überführung des Gewissens endete in der Wiederherstellung des Herzens. Der „alte Vater" und der „Knabe", von denen Juda wieder und wieder in beredtester Weise sprach, wirkten so mächtig auf ihn, daß er sich nicht länger bezwingen konnte. Er schluchzte laut, und das ganze Haus des Pharao hörte ihn. Das war mehr als die
Tränen der Natur. Es waren die Gefühle Christi, oder die Tränen des Vaters am Halse des verlorenen Sohnes.
Doch wir sind noch nicht fertig. Joseph fiel auch auf das Angesicht seines Vaters und weinte, als dieser den Geist aufgegeben hatte. Es war für ihn dasselbe wie das Grab des
Lazarus für Maria und Martha, und da konnten er und »sein Herr zusammen weinen.
Ferner weinte er, als nach dem Tode seines Vaters seine Brüder anfingen, seiner Liebe zu mißtrauen. Er war enttäuscht. Diese unwürdige Antwort auf alle die Wege und Handlungen einer stetigen, ausharrenden und dienenden Liebe brachte ihn zum Weinen — in dem Geiste Dessen, möchte ich sagen, Der in späteren Tagen über Jerusalem weinte. Jahrelang hatte er alles getan, was er konnte, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Er hatte sie und ihre Kinder versorgt. Jahre waren vergangen, und weder in seinem Leben noch in seiner Handlungsweise hatte sich irgendein Tadel ihnen gegenüber gezeigt. Die Trauer über ihren heimgegangenen Vater hatte ihnen eben erst aufs neue gezeigt, welche gemeinsamen Gefühle sie miteinander verbanden. Joseph hatte ihnen wahrlich alle Ursache gegeben, ihm zu vertrauen, und doch, nach allen diesen Dingen fürchteten sie sich vor ihm. Das war ein harter Stoß für ein Herz wie das des Joseph. Doch er verwies es ihnen nicht, außer durch seine Tränen. Er gab ihnen vielmehr aufs neue Versicherungen seiner rastlosen, treuen Liebe. Und sind nicht solche Tränen, möchte ich fragen, von so kostbarer Art, wie Tränen je sein können? Sie gleichen den Äußerungen des schmerzlich verletzten Geistes des Herrn, wenn Er sagt: „Bis wann soll ich bei euch sein?" „Was seid ihr furchtsam?" „So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?" Jesus weinte heilige Tränen und machte sie, wie alles andere, was von Ihm zu Gott emporstieg, zu einem Opfer lieblichen Wohlgeruchs. Joseph, Paulus, Timotheus und andere weinten kostbare Tränen und legten sie gleichsam in der Schatzkammer des Geistes im Schoß der Kirche nieder.
So steht Joseph vor uns, und ich wiederhole, vielleicht als der anziehendste Charakter im ganzen 1. Buch Mose. Wir sehen in ihm die Gnade und das tadellose Leben, dem wir bei Isaak begegneten. Frömmigkeit kennzeichnete ihn in allen Lebenslagen. Zugleich aber finden wir bei ihm, was wir bei Isaak vermißten: Sein Zartgefühl war mit Festigkeit und Energie verbunden, was bei Isaak nicht der Fall war.
Joseph hat jetzt noch einen letzten Liebesdienst dem Andenken seines Vaters zu weihen, und er übt ihn in aller Schönheit und Treue aus. Er beerdigt seinen Vater, wie dieser es gewollt hatte, im Lande Kanaan. Die ganze Handlung geht mit großer Feierlichkeit und in einer Weise vor sich, daß wir noch einen Augenblick dabei verweilen müssen.
In früheren Zeiten war der Gottesdienst mit prächtigen feierlichen Gebräuchen verbunden. Tempel, Altäre, Feste, Opfer und dergleichen riefen diese Pracht hervor, und Diener verschiedener Ordnungen, mit entsprechenden Gewändern bekleidet, verrichteten den Dienst. Warum das alles? In jenen Tagen wies der Gottesdienst vorwärts auf gewisse große Geheimnisse, die damals bildlich dargestellt werden sollten. Da aber jetzt diese Geheimnisse in der Offenbarung Christi, in
Seiner Person, Seinem Werke, Seinen Leiden und Siegen, ihre Erfüllung gefunden haben, so würde ein prunkvoller Gottesdienst jetzt nur eine Herabsetzung alles dessen sein, was in seiner vollen Wirklichkeit und Kraft in Ihm gefunden wird.
Wie mit dem Gottesdienst, so ist es auch mit Leichenbegängnissen. In früheren Zeiten waren sie mit Recht prunkvoll, weil die Auferstehung nur in der Ferne gesehen wurde, und die
Leichenbegängnisse eine Art Unterpfand der erwarteten Auferstehung bildeten. Es war ganz in der Ordnung, daß das Unterpfand prachtvoll war, entsprechend der Herrlichkeit dessen, was es verbürgte. Aber jetzt, nachdem die Auferstehung in der Person des Herrn Jesus, des Sohnes Gottes, ihre Verwirklichung gefunden hat, ist ein prunkvolles Leichenbegängnis, ebenso wie ein zeremonieller Gottesdienst, eher eine Herabsetzung oder Schmähung, als ob das große Geheimnis selbst noch nicht in seiner Wirklichkeit und Kraft geoffenbart worden wäre. Denn jetzt ist nicht der Pomp eines Leichenbegängnisses das Unterpfand unserer künftigen Auferstehung, sondern vielmehr die Auferstehung des Herrn, sie, die Erstlingsfrucht einer verheißenen Ernte.
Demgemäß sollte jetzt dieselbe Einfachheit beim Gottesdienst wie bei der Beerdigung den Glauben der Kirche an erfüllte Geheimnisse verraten. Wir haben jetzt den Sieg des Herrn
Jesus vor Augen. Wir geben oder empfangen nicht mehr ein Unterpfand davon, wie in den Satzungen und Verordnungen früherer Tage, sondern wir feiern ihn. Joseph von Arimathia bereitete dem Leibe unseres Heilandes ein prunkvolles Begräbnis, wie es Joseph, der Sohn Jakobs, hier dem Leibe seines geliebten und verehrten Vaters tat. Wir lesen von Jesu:
,.Man hat sein Grab bei Gesetzlosen bestimmt; aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tode". In den Tagen Josephs von Arimathia war das Grab noch nicht vernichtet, und deshalb mochte noch ein Unterpfand — ein gleiches Unterpfand wie in den Tagen des Patriarchen — gegeben werden. Aber bei der Beerdigung des Herrn Jesus sehen wir mit Recht dieses Unterpfand zum letzten Mal, weil wir in Ihm die Erstlingsfrucht der Vernichtung des Hades erblicken. Jesus ist auferstanden. Die Grabtücher lagen in dem leeren Grab als Beute eines glorreichen Krieges und als Trophäen eines herrlichen Sieges. Der Tod war zunichte gemacht, und jetzt feiert der Glaube das, was Satzungen und Gebräuche21, Verordnungen und Zeremonien einst nur verbürgt und vorgebildet hatten. Und ich möchte hinzufügen, der Glaube verstand dies, denn bei dem Begräbnis, das auf das Begräbnis des Herrn Jesus folgte, hören wir weder von Einbalsamierung noch von irgendwelcher Prachtentfaltung. Es wurde ganz einfach veranstaltet, gewiß in aller Ehrerbietung und Liebe, aber doch ohne besondere Feierlichkeit. „Gottesfürchtige Männer bestatteten den Stephanus und stellten eine große Klage über ihn an".
Wenn wir Glauben hätten, würden wir dies alles hoch schätzen. Unsere Vorrechte sind wahrlich groß. In dem Dienst des Hauses Gottes ist der Tisch an die Stelle des Altars getreten, und statt eines Opfers haben wir ein Fest auf Grund eines Opfers. Und so haben wir auch Tod und Beerdigung im Lichte der Auferstehung Jesu zu betrachten.
Der Tod Jakobs hatte auch eine sittliche Wirkung auf die Familie, indem er etwas aufdeckte, was vorher nicht wahrgenommen wurde. Das ist oft der Fall, wenn ein Familienhaupt weggenommen wird. Hierauf möchte ich noch etwas näher eingehen.
Die Einfalt des Glaubens der Patriarchen ist sehr bemerkenswert. Ihr Glaube wie ihre Gewohnheiten waren schön, weil sie ungekünstelt waren. Es gab nichts von dem Geist der
Knechtschaft in diesen Heiligen des 1. Buches Mose. Die Patriarchen wandelten in der Gewißheit, daß Gott ihr Gott war, daß Seine Verheißungen ihnen gehörten, und daß die Stadt und das Land der Herrlichkeit ihr Erbteil ausmachten. Sie lebten und starben in diesem Geist des Glaubens. Kein Argwohn, kein Überlegen, kein Mißtrauen hinsichtlich der Gnade befleckte ihre Seelen. Und das ist um so befremdender, als wir diesem Geist der Knechtschaft sonst überall in der ganzen Schrift begegnen, sobald wir das erste Buch Mose verlassen.
Es würde unmöglich sein, alle die Beispiele davon in der Schrift zu verfolgen. Er wirkt naturgemäß und leider in ausgedehntem Maße auch in uns. Wahrlich, wir haben ihn bei uns selbst kennengelemt und sehen ihn rund um uns her.
Woher kommt es nun, daß er sich nicht in den Patriarchen verrät? Lag es daran, daß sie für sich selbst so beständige Zeugen der Gnade und der Auserwählung Gottes waren und die Stimme des Gesetzes nie gehört hatten? Sicherlich trug dies dazu bei, ihre Gesinnung zu bilden, aber abgesehen davon stand das Fehlen des Geistes der Knechtschaft in lieblicher
Übereinstimmung mit ihrer derzeitigen Stellung, da sie wie Kinder waren, die nie vom Hause entfernt gewesen sind. Sie befanden sich in dem Kindesalter und konnten daher ebensowenig in der Gegenwart Gottes in einem Geist der Furcht und Ungewißheit wandeln, wie ein Kind, bevor es das Elternhaus verläßt, in die Versuchung kommen kann, seinen Anspruch an Unterhalt und Obdach in seines Vaters Hause in Zweifel zu ziehen. Und es gehört mit zu der Schönheit und Vollkommenheit des 1. Buches Mose, in den Heiligen Gottes dort diesen kindlichen, nicht zweifelnden Glauben zu sehen. Sie fehlen wohl, und auch zu Zeiten durch Mangel an Glauben unter dem Druck gewisser Umstände, aber ihre Seelen verunreinigen sich nie durch einen Geist des Mißtrauens und der Knechtschaft. Wir finden diesen Geist erst, wenn wir im Begriff stehen, von diesem Buch Abschied zu nehmen, und über seinen eigentlichen patriarchalischen Charakter hinauskommen, und zwar entdecken wir ihn in Josephs Brüdern, sobald das Begräbnis Jakobs vorüber ist.
Da stellte es sich heraus, daß sie ihrem Bruder nicht in argloser, glücklicher Weise Vertrauen geschenkt hatten. Es hatte einen Gegenstand gemeinsamen Interesses zwischen ihnen gegeben, und auf diesen hatte sich ihr Vertrauen viel mehr gegründet als auf Joseph selbst. Ihre Zuversicht beruhte nicht auf dem, was Joseph war oder getan hatte, sondern auf den Umständen. Jakobs Gegenwart war die Stütze ihrer Herzen. Sie hatten Buße getan. Sie waren überführt und dann gleichsam lebendig gemacht worden. Aber dennoch ehrten sie Joseph nicht durch ihr Vertrauen, wie er es doch so reichlich um sie verdient hätte.
Liegt hierin nicht auch eine Mahnung für uns? Wir mögen uns wohl fragen: Wenn Gott uns einmal die Stütze und die Gemeinschaft anderer entzöge, würde es sich dann zeigen, daß unser ganzes Vertrauen allezeit auf Jesum gerichtet gewesen wäre?, daß wir die Gnade so kennengelernt hätten, um die Gegenwart einer unverhüllten Herrlichkeit ertragen zu können?, daß die Wegnahme eines Jakob nicht die Atmosphäre umwölkte, in der unsere Seelen sich aufzuhalten gewöhnt waren?
*
Wir sind jetzt am Ende der Geschichte Josephs angelangt. Bevor ich jedoch von seinem Tode spreche, möchte ich noch auf ein schönes Beispiel der Bekanntschaft des Glaubens mit dem Lauf der Weltgeschichte hinweisen. Ich meine nicht die Kenntnis eines Propheten bezüglich dessen, was unter den Nationen sich ereignen wird, wie sie z. B. ein Daniel besaß, als er von den vier Tieren und von dem großen Bilde redete. Solche Kenntnis wurde durch den Geist mitgeteilt, indem der Herr das Herz Daniels oder anderer Propheten mit Seinem Licht erfüllte. Ich rede nur von der Kenntnis, die der Glaube von dem Lauf der Geschichte der Nationen besitzt.
Joseph sagt zu seinen Brüdern: „Ich sterbe; und Gott wird euch gewißlich heimsuchen und euch aus diesem Lande heraufführen in das Land, das er Abraham, Isaak und Jakob zugeschworen hat".
Die Kinder Israel waren zu jener Zeit im Lande Ägypten sehr glücklich. Sie genossen die volle Gunst des Königs, besaßen den besten Teil des ganzen Landes und sahen einen aus ihrer Mitte auf dem zweiten Platz im Reiche. Es war nicht das geringste Anzeichen einer Gefahr oder Veränderung ihrer Umstände wahrzunehmen, und Joseph selbst war so glücklich, wie die Umstände ihn nur machen konnten. „Er sah von Ephraim Kinder des dritten Gliedes; auch die Söhne Makirs, des Sohnes Manasses, wurden auf die Knie Josephs geboren". Aber bei alledem spricht Joseph davon, daß Gott sie heimsuchen würde, und diese Worte deuten an, daß Tage der Trübsal im Anzuge waren, Tage, in denen Gott ihr einziger Freund und Helfer sein würde.
Das war sonderbar, sehr sonderbar! Wer konnte es glauben? Hatte Joseph geträumt? so würden Staatsmänner und Politiker gefragt haben. Aber nein, Joseph hatte nicht geträumt. Das
Wort Gottes war seine Weisheit. Der göttliche Ausspruch in Kapitel 15 hatte zuvor angekündigt, daß die Ägypter Israel bedrücken würden, daß aber Gott Sich als ihr Freund erweisen und sie nach Kanaan zurückbringen würde, und dieses Wort aus dem Munde Gottes galt für Joseph und für den Glauben alles. Der äußere Schein galt nichts. Gott hatte gesprochen.
Joseph glaubte dem göttlichen Ausspruch und gedachte daran. Und daher sah er durch den Glauben Israels Bedrückung zu einer Zeit, als das Volk sich in den glänzendsten und glückverheißendsten Umständen befand. Er sah die Feindschaft Ägyptens zur Zeit seiner Freundschaft. Durch denselben Glauben hatte einst Noah hundertzwanzig Jahre lang das Gericht der Welt vorhergesehen, während um ihn her Saat und Ernte, Wein und Ährenlese, Kaufen und Verkaufen, Pflanzen und Bauen seinen ruhigen Fortgang nahm.
Solche Kenntnis hatte der Glaube von dem zukünftigen Lauf der Dinge, und wahrlich, er sollte auch heutzutage ein solcher Politiker sein und durch das Licht des Wortes Gottes etwas von der Zukunft wissen, trotz allem äußeren Scheins. Dies ist auch der einzige Akt in Josephs Leben, der als eine Handlung des Glaubens in Heb 11 aufgezeichnet und auf diese Weise besonders hervorgehoben ist unter so vielen Handlungen des Glaubens und der Gottseligkeit, und bei einem solchen ununterbrochenen Wandel mit Gott, wie wir ihn bei Joseph gesehen haben. Aber er war auch wert, so aufgezeichnet zu werden. Er war ein lautes Zeugnis dafür, daß Joseph inmitten der Verlockungen und Beschäftigungen der Welt von dem Wort Gottes lebte, und zwar mit einem Herzen, das über alle Äußerlichkeiten erhaben war. Abraham war durch göttliche Gesichte und Aussprüche über die zukünftige Geschichte Israels belehrt worden. Joseph benutzte nur, was Abraham empfangen hatte. Er erhielt keine Besuche von Seiten des Herrn wie Abraham. Joseph stand vielleicht nicht auf der Höhe Abrahams, aber wir finden in ihm, was in sittlicher Hinsicht das Vorzüglichste ist, nämlich das Licht und die Gewißheit eines gläubigen Herzens, das Verständnis und das entschiedene Urteilen des Glaubens. Er gedachte dessen, was Abraham gehört hatte, und handelte demgemäß. Was ihm an persönlicher Erhabenheit fehlte, (indem er nicht wie Abraham die Aussprüche Gottes empfing) besaß er an sittlicher Kraft als ein an Gott Glaubender. Und wenn ich gezwungen wäre, zwischen beidem zu wählen, so möchte ich lieber glauben, als inspiriert sein. Und Joseph glaubte, als er, wie wir lesen, „des Auszugs der Söhne Israels gedachte, und Befehl gab wegen seiner Gebeine" (Heb 11,22). Dieses politische Verständnis des Glaubens (wenn ich es so nennen darf) über das, was auf der Erde geschehen wird, machte einen Noah und einen Joseph weiser als alle Staatsmänner der weltlichen Reiche. Wir wissen ja, wie genau Josephs Worte eintrafen, und in wie unerwarteter Weise Ziegelhütten das blühende Land Gosen schändeten, und Treiber Israel zur Arbeit antrieben, gerade so wie früher in den Tagen Noahs das Wasser die höchsten Spitzen der Berge bedeckte und ein Schiff, das scheinbar in großer Torheit für trockenes Land erbaut worden war, die einzige Arche der Rettung wurde.
Aber sollte es mit dem Glauben nicht auch heute noch so sein? möchte ich fragen. Haben wir nicht durch den Glauben an das Wort Gottes eine Gewähr, den Lauf dieser Welt kennen zu können, trotz ihrer wachsenden Verfeinerung und ihrer Fortschritte auf allen Gebieten? Haben wir keinen Grund dafür, zu wissen, daß sie sich auf dem Wege zum Gericht befindet?
Sicher. Der Herr Jesus ist in dieser Welt verworfen worden.
Das ist es, was der Welt vor Gott ihren Charakter aufprägt. Kein Fortschritt in Gesittung und Kultur, selbst nicht die Ausbreitung der göttlichen Wahrheit unter den Völkern, vermag die Welt von dem Gericht zu befreien, das sie wegen jener schrecklichen Tat zu erwarten hat. Und wäre auch der Tag so glänzend, wie er es zur Zeit Josephs für Israel war, so weiß der Glaube doch, daß die schimmernde Oberfläche bald zerstört werden wird. Die Umstände können nie dem Glauben einen Gegenstand bieten. Das kann nur das Wort Gottes. Und den Umständen und Erscheinungen sollte nie gestattet werden, das Auge des Glaubens von seinem Gegenstand abzuziehen. Das Haus, gekehrt und geschmückt wie es heute ist, scheint viel zu verheißen. Das tat auch das Land Gosen und die Freundschaft des Pharao in jenen Tagen. Aber solche Verheißungen sind für das Ohr des Glaubens leere Worte. Es achtet nicht darauf. Wie Jeremia, als das verbündete Heer angekommen und das feindliche abgezogen war, zu dem König von Juda sagte: „Täuschet euch nicht selbst" (Jer 37,9), so sagt heute der Glaube zu der sich ihrer Fortschritte rühmenden Welt: „Täuschet euch nicht selbst". Der Glaube sagt das mit aller Kühnheit, denn er weiß genau, daß der letzte Zustand des gekehrten und geschmückten Hauses ärger sein wird als der erste.
Joseph lieferte also den Beweis, daß er glaubte, was er bezeugte. Wie das Herz Jakobs, so war auch sein Herz in Kanaan, dem Lande des Bundes und der Gräber seiner Väter. Und wie Jakob, so ließ auch er seine Brüder schwören und sprach: „Gott wird euch gewißlich heimsuchen; so führet meine Gebeine von hier hinauf". Die unsichtbare Welt war für ihn das
Wahre und Wirkliche, wie sie es auch für seine Väter gewesen war. Die Berufung Gottes hatte sie alle mit dem verbunden, was jenseits des Todes liegt, und dort waren ihre Gedanken und ihre Herzen, bevor sie selbst dahin gelangten. Zu sterben war für sie so natürlich wie zu leben. „Joseph starb, hundertzehn Jahre alt". Seine Brüder, die Kinder Israel, benahmen sich treu gegen ihn, wie er es gegen seinen Vater Jakob getan hatte. Sie balsamierten seinen Leib sogleich ein. Später nahm Moses ihn mit aus Ägypten, und schließlich beerdigte ihn Josua in Sichern im Lande Kanaan. (Siehe lMo 50, 26; 2Mo 13,19; Jos 24,32).
*
Die Geschichte Josephs ist hiermit zu Ende und damit auch das 1. Buch Mose, das Buch der Schöpfung und der ersten Wege Gottes mit dem Menschen, das Buch der Patriarchen, der ersten Familien der Menschenkinder und des Kindesalters der Auserwählten Gottes.
Ich glaube, wir alle fühlen, daß wir beim Verlassen dieses Buches in gewisser Beziehung einen niedrigeren Boden betreten. Im ersten Buche Mose offenbart Gott mehr Sich Selbst,
nachher das was der Mensch ist. Der Mensch war, wie wir wiederholt bemerkten, noch nicht unter Gesetz gestellt. Er sollte Gott unter mancherlei verschiedenen Offenbarungen
Seiner Selbst kennenlernen. Aber sobald das Gesetz kommt, tritt der Mensch notwendigerweise mehr in den Vordergrund, und wir haben dann ihn zu betrachten, und zwar nicht einfach unter der Berufung Gottes, sondern in seiner eigenen Stellung und in seinem Charakter. Das wird sicher genügen, um uns fühlen zu lassen, daß wir uns in gewisser Beziehung auf einem niedrigeren Boden befinden. Selbstredend begegnen wir andererseits in der Enthüllung der Ratschlüsse, in der Darstellung der Hilfsquellen Gottes gegenüber dem Fehlen des Menschen, sowie in den ferneren Offenbarungen Seiner Selbst gegenüber der Bloßstellung des Menschen einem steten Fortschreiten in dem ganzen Wort Gottes von Anfang bis zu Ende.
Doch so mannigfach und wunderbar die Ratschlüsse sind, deren fortschreitende Enthüllung uns bei der Erforschung der Schriften entgegentritt, und so mannigfaltig die Weisheit Gottes auch sein mag, so können wir doch sagen, daß jeder einzelne Teil von ihnen in irgendeiner Weise in dem ersten Buche Mose eine Erwähnung oder ein Vorbild findet, allerdings schwach und dunkel, aber die Grundzüge von allem sind darin enthalten. Versöhnung, Glaube, Gericht, Herrlichkeit, Regierung, Berufung, das Reich, die Kirche, Israel, die Nationen,
Bündnisse, Verheißungen, Prophezeiungen, neben dem hochgelobten Gott Selbst in Seiner Heiligkeit, Liebe und Wahrheit, das Tun Seiner Hand und die Arbeit und die Früchte
Seines Geistes — alles das und noch manches Ähnliche kommt in diesem Buche zum Vorschein. Im Beginn wird die Schöpfung dargestellt. Nachdem diese unter der Hand des Menschen befleckt und verdorben ist, wird die Erlösung geoffenbart. Sodann zeigt sich in den Erzählungen von Henoch und Noah, daß Himmel und Erde die Schauplätze der Erlösung sind (wie sie auch anfangs die der Schöpfung gewesen waren). Weiter finden wir in Abraham, Isaak, Jakob und Joseph den Menschen (den Hauptgegenstand der Erlösung) in seiner Auserwählung, Sohnschaft, Zucht und Besitznahme des Erbes. Alle diese Geheimnisse liegen offen vor unseren Augen, sind beachtenswert für unsere Seele und rufen unsere ungeteilte Bewunderung wach.
Möchten wir zum Preise Gottes sagen lernen, daß, wie die Himmel die Herrlichkeit Gottes erzählen, und die Ausdehnung Seiner Hände Werk verkündet, so auch die Blätter der Heiligen Schrift mit nicht geringerer Klarheit und Bestimmtheit das Wehen Seines Geistes verraten!
14 Vergl. das Kapitel über Isaak.↩︎
15 So war auch seine spätere Handlungsweise ganz natürlich, als er die rechte Hand seines Vaters von Ephraims Haupt wegnehmen wollte. Die Natur rechtfertigte das, aber es war nicht vom Geiste (vergl. das Kapitel über Jakob). So glaube ich auch hier, daß Joseph einigermaßen auf dem Boden der Natur und nicht völlig auf dem des Glaubens stand.↩︎
16 Weder dem Pharao, noch seinem Hause, noch irgendeinem Menschen in Ägypten scheint jemals etwas von der Sünde der Brüder mitgeteilt worden zu sein.↩︎
17 Auf die Einzelheiten der Reise Jakobs und hre Folgen, sowie auf seine Einführung bei dem Pharao gehe ich hier nicht näher ein, da dies bereits in dem Kapitel über Jakob geschehen st.↩︎
18 Wie man sagt, bedeutet Zaphnat-Pahneach in der alt-ägyptischen Sprache:«Erhalter der Welt".↩︎
19 Das hier verliehene Anrecht wurde später verwirklicht, als das Familiengut, das Land Kanaan, unter die Stämme verteilt wurde. Joseph bekam da in seinen beiden Söhnen zwei Teile, indem diese behandelt wurden, als ob sie zwei verschiedene Söhne Jakobs gewesen wären.↩︎
20 Später wird Gott „der Gott Israels" genannt, wie Er zuvor „der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" hieß, weil Sein Bund mit dem Volke Israel errichtet wurde.↩︎
21 Ein Leichenbegräbnis war keine Verordnung, sondern ein Brauch, eine Sitte. (Vergl. Joh 19,40). Wir hören nicht, daß es den Patriarchen aufgetragen worden, oder daß es in dem Gesetzbuch Israels enthalten gewesen wäre, Leichenbegängnisse zu veranstalten. Machpela wurde von Abraham ohne ein unmittelbares Gebot Gottes gekauft. Aber Leichenbegängnisse wurden durch den Glauben an die Auferstehung eingegeben, und zwar mit Recht. Die Auferstehung war das, was der Glaube zu erlangen hoffte (Apg 26).↩︎