Schriften von John Gifford Bellett
Die moralische Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus als Mensch
2Kor 6,10 - „Nichts habend und alles besitzend”2Kor 6,10 - „Nichts habend und alles besitzend”
Die Engel freuen sich über die Buße der Sünder. „Es ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.” Welch ein Glück für uns, daß uns dieses Geheimnis des Himmels geoffenbart ist, und daß wir davon in der Schrift eine bildliche Erläuterung nach der anderen finden, wie das z. B. in Lukas 15 der Fall ist! Aber es gibt noch mehr als das. Die Freude, obwohl sie im Himmel ist, ist öffentlich; sie äußert sich und findet ihren Widerhall. Es ist gut, daß es so ist; es geziemt sich, daß das ganze Haus an der Freude Anteil hat und sie als eine allgemeine Freude empfindet. Das ist noch nicht alles, es gibt noch mehr. Es gibt ebensowohl eine Freude des göttlichen Herzens wie eine Freude des Himmels. Die Freude des Himmels finden wir in Lukas 15, die des göttlichen Herzens in Johannes 4,31-34. Und es wird kaum nötig sein, zu betonen, daß die Freude des göttlichen Herzens die tiefste ist. Sie ist vollkommen, geräuschlos und persönlich, sie macht keinen Anspruch darauf, durch andere hervorgerufen oder unterhalten zu werden. „Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennet”; das ist die Sprache des Herzens Christi im Genuß dieser Freude. Die Herrlichkeit erfüllte das Haus des Herrn, so daß die Diener des Heiligtums eine Zeitlang beiseitetreten mußten. Der gute Hirte hatte eben erst das von der Herde abgeirrte Schaf mit Freuden auf Seine Schultern gelegt und glücklich nach Hause gebracht, und noch war die Freude ganz und gar auf Ihn allein beschränkt. Das Haus war noch nicht zusammengerufen worden, als die samaritische Frau, gerettet und glücklich, Ihn verließ. Die Jünger fühlten den eigentümlichen Charakter des Augenblicks. Das für den Altar Gottes bestimmte Fett, das reichste, vornehmste Teil des Festes, „die Speise Gottes”, war zubereitet; und die Jünger traten schweigend zur Seite. Es war in der Tat ein wunderbarer Augenblick, man findet nicht viele seinesgleichen. Die tiefe, unaussprechliche Freude des göttlichen Herzens offenbart sich hier, wie in Lukas 15 die öffentliche Freude des Himmels.
Aber Er, der auf solche Weise festlich gespeist werden konnte, war bisweilen müde, hungrig und durstig. Wir sehen das in demselben Kapitel (Joh 4), wie auch in Markus 4; jedoch mit dem Unterschied, daß Jesus in Markus 4 durch den Schlaf gestärkt und erquickt wird, während das in Johannes 4 ohne irgendein äußeres Mittel geschieht. Und warum dieser Unterschied? In Markus hatte der Herr einen mühevollen Tag hinter Sich, und am Abend fühlte Er Sich müde und erschöpft, wie das bei der menschlichen Natur nach einem schweren Tagewerk der Fall ist. „Der Mensch geht aus an sein Werk und an seine Arbeit, bis zum Abend” (Ps 104,23). Dann ist der Schlaf für ihn vorgesehen, damit er für den Dienst des nächsten Tages gestärkt und erquickt wird. Jesus erfuhr all das an Sich selbst. Er war im Schiff auf einem Kopfkissen eingeschlafen. In Johannes 4 ist Er ebenfalls ermüdet und hat zugleich Hunger und Durst. Er setzt Sich wie ein müder Reisender an dem Brunnen nieder und wartet auf die Rückkehr Seiner Jünger mit Speise aus der benachbarten Stadt. Doch als diese zurückkehrten, finden sie den Herrn erquickt und ausgeruht, und zwar ohne daß Er gegessen, getrunken oder geschlafen hätte. Seine Müdigkeit hatte eine Erfrischung gefunden, die Ihm der Schlaf nicht hätte verschaffen können. Er war dadurch glücklich gemacht worden, daß Er eine Frucht Seiner Arbeit sah in der Seele einer armen Sünderin; die Frau war fortgegangen in der Freiheit des Heils Gottes. In Markus 4 aber findet sich keine Samariterin, und der Herr macht deshalb in Seiner Müdigkeit von einem Kopfkissen Gebrauch.
Wie wirklichkeitsnah ist das alles und wie entspricht es den Erfahrungen unserer menschlichen Natur! Wir verstehen das sehr leicht. In Johannes 4 war, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Herz des Herrn fröhlich, während in Markus 4 nichts vorhanden war, was Ihn hätte fröhlich stimmen können; und die Heilige Schrift sagt (und unsere Erfahrungen bestätigen die Wahrheit dieses Wortes): „Ein fröhliches Herz bringt gute Besserung, aber ein zerschlagener Geist vertrocknet das Gebein” (Spr 17,22). Der Herr konnte daher in dem einen Fall sagen: „Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennet”, während Er in dem anderen das Kopfkissen benutzte, das liebende Sorge für Seine Müdigkeit herbeigeschafft hatte.
Wie vollkommen war Er in allen Empfindungen Mensch, Er, der Sohn Gottes von Ewigkeit her! Gewiß, es war ganz und gar die menschliche Natur, nur völlig ohne Sünde.
Doch gehen wir weiter. In einer Zeit, wo alles in Verwirrung ist, neigt man leicht dazu, alles als hoffnungslos aufzugeben und zu sagen: Es ist nutzlos und sinnlos, noch ferner Unterschiede machen zu wollen. Alles ist in Unordnung und Abfall; warum also den Versuch machen, zu unterscheiden?
Das war nicht die Sprache des Herrn. Er befand sich inmitten der Verwirrung, aber Er hatte kein Teil daran, gerade so wie Er in der Welt, aber nicht von der Welt war. Er traf mit allerlei Leuten in den verschiedensten Verhältnissen zusammen; eine Gruppe folgte der anderen, während doch alle hätten vereinigt sein sollen; aber ohne die geringste Abweichung verfolgte Er stets Seinen geraden, schmalen und heiligen Pfad. Die Anmaßungen der Pharisäer, der Weltsinn der Herodianer, die Philosophie der Sadducäer, die Neugierde der Menge, die Angriffe der Widersacher, die Unwissenheit und Schwachheit der Jünger, alle diese Dinge bildeten die sittlichen Elemente, denen Er begegnete und mit denen Er Tag für Tag zu tun hatte.
Und wie die verschiedenen Charaktere der Personen, so nahmen auch die Ihn umgebenden Zustände das Herz des Herrn in Anspruch: die Münze des Kaisers war gangbar im Lande Immanuels, die Trennungsmauern lagen in Trümmern; der Jude war mit dem Heiden, der Reine mit dem Unreinen vermengt, wenn nicht etwa religiöser Stolz die Sitten und Gebräuche der verschiedenen Nationen aufrecht erhielt. Aber die goldene Regel Jesu: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist”, stellte die Vollkommenheit ans Licht, mit der Er durch das alles hindurch Seinen Weg ging. In den Tagen der Gefangenschaft, einer ähnlichen Zeit der Verwirrung, verhielt sich der Überrest Israels sehr schön, indem er einen Unterschied machte zwischen dem, was verschieden war, und nicht alles als hoffnungslos aufgab. Daniel war der Ratgeber des Königs, aber er weigerte sich, von Seiner Tafelkost zu essen. Nehemia diente im Palast, aber er duldete nicht die Moabiter und Ammoniter im Hause des Herrn. Mordokai wachte über das Leben des Königs, aber er wollte sich nicht vor dem Amalekiter Haman beugen. Esra und Serubbabel nahmen gewisse Begünstigungen des persischen Königs an, aber sie wiesen seine Hilfe von sich und gestatteten keine Ehen mit den Heiden. Die Gefangenen beteten für den Frieden Babylons, aber sie weigerten sich, die Lieder Zions dort zu singen.
Das alles ist von großer Schönheit, und der Herr offenbarte in Seinen Tagen vollkommen diesen Charakter des Überrestes. Liegt darin nicht für uns ein bedeutsamer Wink? Auch wir leben in einer Zeit, die bezüglich ihres Charakters der Verwirrung den Tagen der jüdischen Gefangenschaft oder den Tagen Jesu nicht unähnlich ist. Und wie damals, so sind auch wir heute berufen zu handeln, nicht als solche, die ihr Auge auf die Hoffnungslosigkeit der Dinge um sie her richten, sondern als solche, die immer noch wissen, „dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist”. Alle moralische Schönheit des Herrn wird zu einem Vorbild für uns.
Doch sehen wir den Herrn Jesus auch als Gott dem Bösen gegenüberstehen; das ist eine Stellung, die wir selbstverständlich nie einnehmen können. Er rührte den Aussätzigen an und auch die Tragbahre, und dennoch blieb Er rein. Er stand als Gott der Sünde gegenüber. Er kannte das Gute und das Böse; aber Er stand in göttlicher Unumschränktheit über dem einen wie über dem anderen, indem Er beides kannte, so wie Gott es kennt. Wäre der Herr Jesus nicht gewesen, wie Er war, so hätte es Ihn verunreinigt, den Aussätzigen oder die Tragbahre anzurühren. Er hätte in diesem Fall außerhalb des Lagers gebracht werden und Sich der Reinigung unterziehen müssen, die durch das Gesetz vorgeschrieben war. Aber wir entdecken nichts Derartiges in Ihm. Er war nicht ein unreiner Jude. Nicht nur wurde Er nicht befleckt, sondern Er war auch unbeflecklich. Und doch war die Versuchung für Ihn ebenso wirklich, wie die Verunreinigung unmöglich. Das ist das große Geheimnis: Gott und vollkommener Mensch in Seiner Person vereinigt!
Verweilen wir hier einen Augenblick. Unser Platz gegenüber einem großen Teil dieser so notwendigen, obgleich geheimnisvollen und unendlich kostbaren Wahrheit ist es viel mehr, sie anzunehmen und anzubeten, als darüber zu disputieren und sie zergliedern zu wollen. Es ist wohltuend, wenn wir bei manchen einfältigen Gläubigen den Eindruck gewinnen dürfen, daß es ihnen um Christus Selbst zu tun ist. Oft gehen wir mit Wahrheiten in einer Weise um, daß uns schließlich nichts als die beschämende Überzeugung bleibt, daß, wie sehr wir uns auch ereifert haben, wir doch Christus Selbst nicht im Glauben erfaßt haben. Wir entdecken dann, daß wir die Zeit unnütz vertan haben.
Der Herr war „arm, aber viele reich machend” - „nichts habend, und alles besitzend”. Diese erhabenen und wunderbaren Zustände wurden bei Ihm offenbar, und zwar in einer Ihm eigentümlichen Weise. Er nahm die Unterstützung einiger frommer Frauen an, die Ihm mit ihrer Habe dienten, und doch verfügte Er über die ganze Erde und ihre Fülle, um die Bedürfnisse derer zu stillen, die um Ihn waren. Er konnte Tausende in öden Gegenden speisen, während Er Selbst Hunger litt und auf die Rückkehr Seiner Jünger wartete, die ausgegangen waren, um Speise zu kaufen. Das hieß tatsächlich „nichts haben und alles besitzen”.
Aber obwohl der Herr arm und bedürftig war, mancherlei Gefahren ausgesetzt, so findet man doch nicht das mindeste bei Ihm, was auf eine unedle Gesinnung hätte hindeuten können. Nie bat Er um eine Gabe, obwohl Er keinen Pfennig besaß; denn wenn Er (jedoch nicht zu Seinem eigenen Gebrauch) einen Denar brauchte (Lk 20,20-26), so war Er genötigt, Sich einen zeigen zu lassen. Nie floh Er, wenn Er auch in augenscheinlicher Lebensgefahr war; Er zog Sich zurück oder ging, gleichsam vor den Augen Seiner Feinde verborgen, vorüber. Ich wiederhole daher: Obgleich Armut und Gefahren Sein tägliches Los waren, so haftete Ihm doch nichts an, was unedel gewesen wäre oder mit der vollkommenen Würde Seiner Person im Widerspruch gestanden hätte.
Welch eine bewundernswerte Vollkommenheit! Wer könnte sich als eine Person vor unsere Augen stellen, die so vollkommen, so untadelig und von solch ausnehmender, zarter Reinheit in den gewöhnlichsten und geringfügigsten Einzelheiten des menschlichen Lebens ist? Paulus konnte es nicht; Jesus allein, der Mensch Gottes, vermochte es. Daß Seine außergewöhnlichen Tugenden inmitten der gewöhnlichen Umstände Seines Lebens so hervorstrahlten, redet laut zu uns von Seiner Person. Es muß eine besondere Person, ein göttlicher Mensch sein, wenn ich so sagen darf, der solche außergewöhnlichen Vollkommenheiten in so gewöhnlichen Umständen offenbart. Wir finden, ich wiederhole es, dergleichen nicht bei Paulus. Er besaß ohne Zweifel viel Würde und sittliche Größe, aber sein Verhalten war nicht das Verhalten Jesu. Er befindet sich in Lebensgefahr, und er bedient sich der Hilfsdienste seines Neffen. Zu einer anderen Zeit lassen ihn seine Freunde an der Stadtmauer hinab. Ich sage nicht, daß er jemanden um Geld ansprach; aber er bekennt, Geld empfangen zu haben. Ich verweile nicht dabei, wie er vor einer aus Pharisäern und Sadducäern zusammengesetzten Versammlung sich als Pharisäer ausgab, um sich so zu schützen; noch dabei, wie er übel von dem Hohenpriester redete, der über ihn zu Gericht saß. In diesen beiden Fällen war sein Betragen verwerflich. Ich rede nur von Fällen, die, ohne gerade moralisch verkehrt zu sein, dennoch unter der vollkommenen persönlichen Würde stehen, die den Pfad Christi kennzeichnete. Die sogenannte Flucht nach Ägypten bildet keine Ausnahme bezüglich des Charakters des Herrn; denn diese Reise wurde zur Erfüllung der Prophezeiung und auf die Autorität eines göttlichen Ausspruchs hin unternommen.
Das alles ist in der Tat nicht nur moralische Herrlichkeit, nein, es ist ein moralisches Wunder; und es ist undenkbar, daß eine von Menschenhand geführte Feder solche Schönheiten hätte aufzeichnen können. Wir können dieses Wunder nur durch die Tatsache erklären, daß die sittliche Herrlichkeit Christi eine Wahrheit, eine lebendige Wirklichkeit ist. Zu diesem gesegneten Schluß sind wir gezwungen. Eine andere Erklärung gibt es nicht.