Kapitel 5,1-10 und dann die folgenden Verse bis zum Schluß des 6. Kapitels bilden zwei gesonderte Abschnitte. In dem letzten dieser beiden Abschnitte verläßt der Apostel seinen Gegenstand und schaltet eine Warnung ein. Er tut das gern; und auch uns sind in unserem Verkehr untereinander solche kleinen Unterbrechungen ganz willkommen.
In den zehn ersten Versen von Kapitel 5 wird uns eine sehr wichtige Sache vor Augen gestellt. Der erste Vers gibt uns einen allgemeinen Begriff von dem Wesen des Priestertums. Es ist das, was die Beziehungen der Menschen zu Gott vermittelt und unterhält. Dann wird uns der Charakter des Dienstes vorgestellt: „Auf daß er sowohl Gaben als Schlachtopfer für Sünden darbringe”, d.h., daß Er sowohl Dankopfer vor Gott bringt, als auch den Dienst des Sünd- und Sühnopfers Gott gegenüber versieht. Ein Priester steht da, um die menschlichen Interessen Gott gegenüber in jeder Weise zu vertreten. Er ist „aus Menschen genommen”, weil Er dann Nachsicht mit den Unwissenden und Irrenden haben kann. Er ist nicht aus Engeln genommen. Deshalb lesen wir auch im 1. Timotheusbrief im Blick auf unseren Priester: „der Mensch Christus Jesus”. Indem Gott einen Priester für uns bestellte, hat Er einen erwählt, der Mitleid mit uns zu haben ver-mag. Am Schluß von Kapitel 7 finden wir, daß der Herr Jesus von jeglicher Unvollkommenheit abgesondert war, während der Priester, von dem hier die Rede ist, gerade wegen seiner Unvollkommenheit Mitleid haben konnte. Wie vermag nun der Vollkommene Mitleid zu haben mit uns, den Schwachen und Unvollkommenen? Er lernte an dem, was Er litt, den Gehorsam (Vers 8), und Er lernte mitzufühlen.
Im Alten Testament wurden zwei Personen in das Priestertum eingeführt: Aaron in 3. Mose 8 und 9, und Pinehas in 4. Mose 25. Der Unterschied zwischen ihnen war dieser: Aaron wurde zum Priestertum einfach berufen, während Pinehas sich ein Anrecht darauf erwarb. In dem Herrn Jesus finden wir beide, Aaron und Pinehas, dargestellt. Er wurde „von Gott berufen, gleichwie auch Aaron”; Aaron war nur ein berufener Priester. Das Priestertum in 4. Mose 25 steht daher im Gegensatz zu demjenigen Aarons; denn Pinehas wurde, wie gesagt, nicht berufen, wie Aaron, sondern er erwarb sein Anrecht. Und in welcher Weise geschah dies? Indem er Sühnung für Israel tat an dem Tag der großen Plage, als sie dem Baal-Peor nachhurten, und indem er auf diese Weise Jehova in den Stand setzte, wieder mit Wohlgefallen auf Sein irrendes Volk herabzuschauen. Pinehas trat ins Mittel, um die Ansprüche der Gerechtigkeit Gottes zu befriedigen und für die Sünde des Volkes Sühnung zu tun. „Und Jehova redete zu Mose und sprach: Pinehas ... hat meinen Grimm abgewendet von den Kindern Israel . . . Darum sprich: Siehe, ich gebe ihm meinen Bund des Friedens, und er wird ihm und seinem Samen nach ihm ein Bund ewigen Priestertums sein, darum, daß er für seinen Gott geeifert und für die Kinder Israel Sühnung getan hat”. Nichts könnte schöner sein als das. In einem herrlicheren Licht könnten wir den Christus Gottes gar nicht erblicken als in dieser Tat des Pinehas. Aaron empfing niemals in dieser Weise ein Anrecht auf einen Bund des Friedens.
So wird uns also in diesen beiden alttestamentlichen Bildern das Priestertum des Herrn Jesus vor Augen gestellt (Das Priestertum Melchisedeks in Hebräer 7 kommt als drittes hinzu.). Er war der wahre Aaron und der wahre Pinehas. Beide Charaktere treten hier ans Licht. Unser hochgelobter Herr wurde zum Dienst berufen, gleichwie Aaron; doch Er war auch deshalb in dem Dienst, weil Er die Versöhnung zustande gebracht hat. Diese Erde entsprach dem Vorhof des Tempels, wo der eherne Altar stand. Der Herr Jesus thront jetzt im Heiligtum droben, in der wahrhaftigen Hütte, die der Herr errichtet hat, nicht der Mensch, nachdem Er zuvor dem ehernen Altar hienieden begegnet ist und seinen Anforderungen Genüge getan hat. Nichts könnte einfacher und doch auch wieder nichts wunderbarer und erhabener sein. Auf welche Weise hat Gott bezeugt, daß den Forderungen des ehernen Altars Genüge geschehen ist? Dadurch, daß Er den Vorhang zerriß. Jetzt ist es eine leichte Sache, ins Heiligtum einzutreten. Wenn Gott den Vorhang zerrissen hat, sollte ich ihn dann vergebens zerrissen sein lassen? Nein, wenn der Vorhang zerrissen ist, so habe ich jetzt ebenso sicher und gewiß ein Recht einzutreten, wie die Israeliten damals verpflichtet waren, draußen zu bleiben. Indem Christus die Forderungen des Altars erfüllte, ging Er durch den zerrissenen Vorhang in das Heiligtum des Himmels ein.
Christus hat Sich nicht Selbst verherrlicht, um Hoherpriester zu werden. Wie? — wird man vielleicht einwenden - liegt denn ein Ruhm, ein Ehre für Christus darin, zum Hohenpriester gemacht zu werden? Es kann doch unmöglich etwas geben, was die Würde des Sohnes Gottes noch erhöhen kann! Ich stimme dem völlig zu; aber laß mich fragen: Unterscheiden wir Menschen nicht auch zwischen erworbenen und ererbten Ehren? Gesetzt den Fall, der Sohn eines Adligen zöge in den Krieg; könnte er dann nicht zu seinen ererbten Würden noch Ehren hinzu erwerben? Und welche von beiden würde er wohl am meisten schätzen? Nicht die, die er sich erworben hat? - Und warum das? Weil er durch diese in weit höherem Maß geehrt wird, als durch alle seine ererbten Würden. Die letzteren gehören ihm ohne irgendwelches Zutun von seiner Seite; die anderen aber hat er sich persönlich erworben, sie sind sein in einer ganz besonderen Weise.
Nun, göttliche Dinge finden häufig durch irdische Bilder ihre Erklärung. Wer könnte der Würde Dessen etwas hinzufügen, der „Gott über alles ist, gepriesen in Ewigkeit”? Aber der Sohn Gottes hat einen Kampf gekämpft und Sich dabei Ehren erworben, die nie Sein geworden wären, wenn Er Sich nicht der Sache des Sünders angenommen hätte. Und diese Ehren sind Ihm wirklich wertvoll und kostbar! Gott „begrüßte” Ihn, als Er Ihn in das Heiligtum einführte, so wie Er Ihn begrüßt hat, als Er Ihn den Thron einnehmen hieß mit den Worten: „Setze dich zu meiner Rechten”. Der Brief an die Hebräer zeigt uns in den geöffneten Himmeln sowohl einen Thron als auch ein Heiligtum. Christus ist der wahre Melchisedek: König und Priester.
In den Versen 7, 8 und 9 finden wir einige sehr wichtige Wahrheiten, die auf uns Bezug haben. „Der in den Tagen seines Fleisches, (beachten wir diese Worte mit heiliger Ehrfurcht), da er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tode zu erretten vermochte, mit starkem Geschrei und Tränen dargebracht hat ...” Der Schauplatz dieses Kampfes tritt uns in besonderer Weise in Gethsemane vor Augen. Was war es, das sich dort zutrug? Christus erbebte vor dem Eintritt in das Gericht Gottes über die Sünde. „Und um seiner Frömmigkeit willen erhört worden ist.” Er wurde erhört, weil der Tod, der Lohn der Sünde, keinerlei Anrechte an Ihn hatte. Sein Gebet um Errettung wurde erhört. Statt daß das Gericht von Gott gesandt wurde, um Sein Fleisch verdorren zu lassen, wurde ein Engel gesandt, um Ihn zu stärken.
Doch Er erduldete den Tod. Er hätte für Sich ein Recht auf Befreiung vom Tod gehabt, aber Er ging durch den Tod. Er lernte Gehorsam in Bezug auf den Auftrag, der Ihm von Gott geworden war, indem Er von Gethsemane nach Golgatha ging; und jetzt stellt Er Sich dem Auge eines jeden Sünders auf Erden als der Urheber ewigen Heils dar. Wir sehen den Herrn in Gethsemane gleichsam Sein Recht dem Tod gegenüber geltend machen. Dieses Recht wird anerkannt; aber obgleich der Tod an Ihn persönlich keine Ansprüche hatte, sagt Er dennoch: „Dein Wille geschehe!” Er hätte von Gethsemane aus in den Himmel gehen können; aber statt dessen ging Er von Gethsemane nach Golgatha und wurde so der Urheber ewigen Heils für alle, die Ihn annehmen. Dann, nachdem dem Altar Genüge geschehen war, nahm Ihn das Heiligtum auf, und dort weilt Er jetzt.
Bei der Schöpfung versetzte Gott einen Menschen in Unschuld in den Garten Eden; bei der Erlösung versetzte Gott einen Menschen in den Himmel, in Herrlichkeit. Und diese in der Erlösung geoffenbarte Herrlichkeit überstrahlt alles, sie läßt die Herrlichkeit, die einst in der Schöpfung ans Licht trat, wie nichts erscheinen.
Wir kommen jetzt zu Vers 10. Beachten wir, daß die Sprache von Vers 10 in Kapitel 6,20 fast unverändert wiederkehrt, ohne daß der Schreiber dieses Briefes in seiner Beweisführung einen Schritt weiter gegangen ist. Ähnliches finden wir in anderen Briefen. Wenn wir z. B. die ersten drei Kapitel des ersten Korintherbriefes betrachten, so finden wir den Apostel auch dort in Seiner Belehrung gehindert. „Ihr seid fleischlich”, sagt er, und deshalb kann ich euch nicht über die reichen Schätze belehren, die mir für die Versammlung anvertraut sind. - Gerade so ist es hier, nur daß das hindernde Übel dort in dem sittlichen Zustand der Korinther lag, während es hier um Lehrfragen geht. Es war für einen Hebräer sehr schwer, die Dinge fahren zu lassen, in denen er auferzogen war. Er war „unerfahren im Wort der Gerechtigkeit”. Der gesetzliche Sinn hat stets die Neigung, die Gerechtigkeit im Sinn Moses aufzufassen, d. h. als etwas, was von uns gefordert wird, während Gott sie als etwas darstellt, was Er uns schenken will. Da nun der Apostel dieses Hindernis bei den Hebräern wahrnimmt, ruft er ihnen in Kapitel 6 eine Warnung zu, geradeso wie er ihnen im Anfang von Kapitel 2 eine Ermahnung zugerufen hatte. Ein fleischlicher Sinn und ein gesetzlicher Sinn sind zwei Erzbösewichte, die beiden schlimmsten Feinde des Gläubigen. Sie gehören zu den kleinen Füchsen, die den Weinberg Gottes verderben.
Der Apostel heißt die Gläubigen daher diese Dinge zu lassen; er möchte sie zu einem anderen Gegenstand, und zwar zur Vollkommenheit, „zum vollen Wüchse”, hinführen. „Deshalb, das Wort von dem Anfang des Christus lassend, laßt uns fortfahren zum vollen Wüchse!” - „Denn es ist unmöglich, diejenigen, welche einmal erleuchtet waren . . . wiederum zur Buße zu erneuern.” Ernste Worte, die wohl geeignet waren, in den Herzen der Hebräer ein tiefes Gefühl iher Verantwortlichkeit wachzurufen, obgleich der Apostel nachher bezeugt, daß er in Bezug auf sie von anderen, mit der Seligkeit verbundenen Dingen überzeugt sei; denn es hatten sich bei ihnen Beweise des vorhandenen Lebens gezeigt. Das Land hatte nicht nur „Dornen und Disteln” hervorgebracht, sondern „nützliches Kraut”. Aber der Apostel mußte so ernst reden der vorhandenen Gefahr wegen. Es ist schrecklich zu gesetzlichen Anordnungen und Bräuchen zurückzukehren, nachdem man Christus erkannt hatte.