Wir wollen nun mit Kapitel 3 beginnen und bis Kapitel 4, 16 lesen. Wenn wir über einen Teil des Wortes Gottes wie den Epheserbrief nachsinnen, so sollten wir achtgeben, daß das Wissen nicht überbewertet wird; es muß seinen angemessenen Platz haben. Als Nikodemus zum Herrn kam, um Ihn über himmlische Geheimnisse zu befragen, wies Er ihn als bloßen Fragesteller zurück und kam auf ihn selbst zu sprechen. So weigerte sich auch Paulus, den Korinthern das Geheimnis kundzutun, und zwar wegen ihres niedrigen sittlichen Zustandes. Wir sollten deshalb an die im Epheserbrief geoffenbarte Wahrheit in der gebührenden Ehrfurcht herangehen, indem wir unsere eigene moralische Verfassung im Auge behalten. Es fordert eine gewisse geistliche Zurüstung, die Atmosphäre des Epheserbriefes zu atmen; wir könnten in solchen Höhen leicht schwindelig werden. Wir müssen behutsam verfahren, jedoch nicht so zaghaft, als ob wir diese Höhen nicht unser Eigentum nennen dürften. Die tiefsten Geheimnisse des Herzens Gottes gehören uns; aber unsere Herzen bedürfen der sittlichen Zubereitung, um sie aufzunehmen.
Im ersten Kapitel haben wir zwischen der himmlischen Berufung und der Berufung der Versammlung unterschieden. Im zweiten Kapitel haben wir unsere Todes- und unsere Lebensstellung betrachtet und unseren Zustand der Gottesferne und der Gottesnähe. Mit Beginn des dritten Kapitels nehmen wir das Geheimnis wieder auf. Haben wir die moralische Schönheit schon bemerkt, die darin liegt, daß dieses Kapitel eigentlich in Klammern steht? Es hat auf mich einen großen Eindruck gemacht, daß das Geheimnis hier den Charakter einer Einschaltung hat.
Die Versammlung wird uns hier ausführlicher geoffenbart. Paulus wurde zum Verwalter dieses Geheimnisses, und er hatte es durch Offenbarung erhalten. Im Grunde genommen hatte er ja alles durch Offenbarung empfangen, wie er uns im Galaterbrief mitteilt. Von wem hatte Paulus sein Apostelamt empfangen? Von Christus im Fleische? Nein, von Christus in der Herrlichkeit. Wie war es bei den anderen Aposteln? Sie erhielten ihr Amt von Christus im Fleische - als der Herr noch hier auf Erden war. Paulus aber hat Christus nie dem Fleische nach gekannt. Wie seine Berufung, so war auch die ihm anvertraute Wahrheit von ganz besonderer Art. So war ihm denn durch Offenbarung das Geheimnis kundgetan worden.
Warum sagt Paulus „in kurzem“? Nun, selbst wenn er Kapitel darüber geschrieben hätte, so wäre es doch nur „in kurzem“ gewesen. Johannes schreibt voller Bewunderung, daß von den vielen anderen Dingen, die Jesus getan hat, „selbst die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen“ könne. Und so ist es; das Geheimnis war so herrlich, daß selbst Kapitel darüber es nur „in kurzem“ zum Ausdruck bringen könnten. Du und ich, wir möchten selbst Worte der Bewunderung finden, wie sie unserem Verständnis angemessen sind. „Er hat mir das Geheimnis kundgetan ... welches in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden, ... daß die aus den Nationen Miterben seien“ - nicht nur mit dem Israeliten, sondern mit Christus. Dem Leib Christi werden auch Israeliten angehören; kennzeichnend aber ist für ihn doch, daß ihm vorwiegend Gläubige aus den Nationen angehören. Paulus verliert hier die Israeliten aus dem Blickfeld und sagt den Heiden, daß sie Miterben mit Christus sind.
Hier haben wir eine neue Art von Erbe - die Nationen gehören demselben Leibe an und sind Miterben mit dem Sohn Seiner Liebe; die Nationen sind nicht einem Leib von Israeliten aufgepfropft. „Mir, dem allergeringsten von allen Heiligen“. Das ist charakteristisch. Die Israeliten wurden angenommen, weil sie das geringste unter allen Völkern waren. Du wurdest angenommen, weil du ein armer, unbeschnittener, abseits stehender Heide warst - ohne Hoffnung und ohne Gott; und Paulus wurde angenommen, weil er weniger als der geringste von allen Heiligen war. Gott nimmt den ärmsten Bettler aus dem größten Schmutz. Das sind Gottes Wege.
Was bewirkte denn nun das Geheimnis? „ ... auf daß jetzt den Fürstentümern und Gewalten in den himmlischen Örtern durch die Versammlung kundgetan werde die gar mannigfaltige Weisheit Gottes“. Das erinnert uns an Kolosser 1,25. Der Dienst des Paulus sollte „das Wort Gottes vollenden“ (oder voll machen, auf sein Vollmaß bringen). Man mag einwenden: Willst du denn das, was Paulus tat, über den Dienst Christi stellen? Ja, wirklich, das möchte ich, und zwar in bezug auf die verschiedenen Haushaltungen. Die Wege Gottes strahlen heller und immer heller bis zu jenem vollkommenen Tag. In was für einem Licht stehen wir! Wir sind im Licht, wie Gott im Licht ist. Die „gar mannigfaltige Weisheit Gottes“ tritt nun in all ihrer Schönheit zutage. Ich empfange jetzt eine hohe Berufung als Miterbe - ein Leib mit dem Herrn der Herrlichkeit. Ich bin zum Haupt selbst gelangt und setze mich nieder und schaue der Krönung Christi und Seiner Erwählten zu. Ich habe die „mannigfaltige Weisheit Gottes“ erreicht. Dann betritt Paulus eine etwas tiefere Ebene: „ ... in welchem wir die Freimütigkeit haben und den Zugang in Zuversicht durch den Glauben an ihn“. Wie gern möchte er uns auf jene Grundlage stellen! Wenn wir uns in dem Licht befinden, wo Gott wohnt, so sind wir in der Burg der Kraft, die Gott errichtet hat. Es würde nicht genügen, in dem Licht zu sein, wenn uns nicht die Zitadelle umschlösse.
Der Apostel wird nun zu einem Beter, wie schon vorher im 1. Kapitel. Nachdem er wieder von dem Geheimnis gesprochen hat, tut er in Vers 14 Fürbitte für uns. In Kapitel 1 betet er zu dem „Gott unseres Herrn Jesus Christus“, und er bittet, daß du die Herrlichkeit erkennen möchtest, die dich erwartet, und die Kraft, die dich dorthin führt. Und, wie gesagt, er betet zu dem Gott unseres Herrn Jesus Christus.
Hier ist sein Gebet, daß du die Liebe erkennen möchtest, die dir dort einen Platz bestimmt hat; und er betet zu dem Vater unseres Herrn Jesus Christus. Ganz instinktiv wendet sich sein Herz zum Herzen des Vaters, das die Quelle aller unserer ewigen Segnungen ist: „Nach deinem Herzen hast du all dieses Große getan“, wie David sagt. Läßt dich dein Herz nicht instinktiv diese Unterscheidung machen, wenn du im Gebet bist mit Gott in der Herrlichkeit, dem Vater in Liebe und Christus in der Erlösung? Wenn ich an Herrlichkeit und Macht denke, habe ich es mit dem Gott des Herrn Jesus zu tun. Wenn ich an Liebe denke, wende ich mich an den Vater des Herrn Jesus. Diese Dinge empfehlen sich wie von selbst unserem Gewissen. Die einzelnen Stellen der Heiligen Schrift beleuchten einander auf großartige Weise; die Bibel ist gleichsam eine einzige riesige Lichtquelle. Dann spricht Paulus sein Gebet. Über den Ausdruck „ ... von welchem jede Familie in den Himmeln und auf Erden benannt wird .. (Vers 15). müssen wir etwas nachdenken.
Ich glaube, daß es im Himmel wie auch auf Erden verschiedene Haushalte (Zeitverwaltungen) geben wird. Wenn ich mit Einsicht einen Blick auf die Himmel im Tausendjährigen Reich werfe, so glaube ich, verschiedene Familien zu sehen - ebenso wie auf der Erde im Tausendjährigen Reich. Ich sehe Fürstentümer, Throne, Gewalten. Und ich sehe die Versammlung als den Leib Christi emporgetragen und über alles gesetzt. Da mag, wie schon vorher angeführt, „die edle Schar der Märtyrer“ sein, der „stattliche Kreis der Propheten“. Es mag in der zukünftigen Welt einen Haushalt der Patriarchen geben ebenso wie einen der Propheten. Aber die Versammlung des lebendigen Gottes wird dort in Verbindung mit ihrem Haupt über allem stehen.
Eine solche Astronomie und Geographie zu betreiben ist etwas ausnehmend Schönes.
Bald wird es einen Himmel geben voller Söhne Gottes - voll von Morgensternen! - und unter ihnen wird weder Eifersucht noch Neid aufkommen.
Wir wünschen uns Weite in den Gedanken. Dabei braucht die Genauigkeit keineswegs zurückzustehen.
Nachdem wir nun dieses eingeschobene Kapitel mit seiner besonderen Absicht abgeschlossen haben, kommen wir zu Kapitel 4. Paulus nimmt wieder auf, was er schon in Kapitel 3, 1 gesagt hatte: „Ich, ... der Gefangene im Herrn“. Es ist wiederum charakteristisch, daß die Versammlung aus einem Gefängnis in Rom über ihre hohe Berufung unterrichtet werden sollte. Normales Leben und normales Sterben sollte für uns Christen so aussehen, daß wir auch bereit sind, aus Gefängnissen und Scheiterhaufen zu Christus in die Herrlichkeit zu gehen. Der Christ sollte ein Zeugnis gegenüber der Welt sein, dem nicht widerstanden werden kann. Die Welt faßt die Trennung von ihr als eine Beleidigung auf; und diese Beleidigung wird sich in Rache äußern. So enthüllt Paulus das Geheimnis aus dem düsteren Kerker in Rom. Die Kirche auf Erden ist eine Märtyrerkirche.
Nun bittet Paulus uns, „die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens“. Wir sollten jene Gemütsverfassung pflegen, die uns dahin bringt, daß wir einer dem anderen in Ehrerbietung vorangehen. Was für ein kostbares Gefäß, in dem solch ein Schatz aufbewahrt wird! „Mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut“. In der moralischen Geschichte der Christenheit hat der Stolz jenes Gefäß zerbrochen. Dann zeigt Paulus, worin die Einheit des Geistes besteht, die wir nicht zerstören können. Wir mögen das Gefäß zerbrechen und den Schatz ungeschützt preisgeben - aber wir können ihn nicht zerstören. Kommen wir vom Norden, Süden, Osten oder Westen, sind wir Israeliten oder Heiden? Wenn wir uns zusammensetzen, so geschieht es in einem Herrn, einem Glauben, einer Taufe.
Bei den folgenden Versen müssen wir ein wenig verweilen. Angenommen, ich sage, wir müßten zurückgehen und 1. Mose 3 aufschlagen. Da magst du antworten, daß das Schriftstellen sind, die weit voneinander entfernt liegen, auch dem Thema nach. Aber es besteht eine wunderbare Verbindung zwischen ihnen. In 1. Mose 3 sehen wir den Sieg der Schlange und den Ruin des Menschen. In Epheser 4 dagegen haben wir den Sieg Christi und die Erlösung des Menschen. Der Schaden von 1. Mose 3 wird sozusagen geheilt. Satan machte den Menschen zu einem Sklaven auf Erden und zu einem Gefangenen seiner Lüste. Der Herr kommt und führt den Teufel und seine Heerscharen in Gefangenschaft. Darin liegt ein herrlicher sittlicher Gegensatz. Und was hat Gott mit dem alten Gefangenen getan? Er versetzt ihn in eine Stellung, die weit wunderbarer ist als die, aus der Satan ihn herausholte. Als der Herr kommt und in das Haus des Starken eindringt, um ihn seines Hausrates zu berauben, da zeigt Er Satan und seinen Heerscharen, was Er mit dem tun kann, der einst ihr Gefangener war. Er hat uns von allem unabhängig gemacht. Wir sind nicht nur gegen den Betrüger gefeit, sondern wir wachsen durch Hilfsquellen in uns selbst. Die Versammlung wächst heran durch Energien, die in ihr selbst niedergelegt sind. Auf der einen Seite führt der Herr die Gefangenschaft gefangen, auf der anderen Seite zeigt Er, was Er mit jenen armen Kreaturen tut, die die Schlange einst ruinierte. Das Blatt hat sich gewendet. Wir haben zunächst die Gefangenschaft des Menschen und dann seine Verherrlichung. Hier endet der lehrmäßige Teil des Epheserbriefes.
Was sollen unsere Herzen nun damit anfangen? Sind wir in der rechten Haltung, solche herrlichen Offenbarungen Gottes aufzunehmen? Sind sie zu gewaltig für uns? Ich habe es oft so empfunden. Umgang mit Menschen, die weniger hohe Wahrheiten ergreifen, erscheint angenehmer; aber das rührt daher, daß wir Dinge miteinander vermischen, die wir besser auseinanderhalten sollten. So betet Paulus, daß wir mit Kraft gestärkt werden möchten „durch seinen Geist an dem inneren Menschen“. Der menschliche Geist ist nicht imstande, diese Dinge voll zu würdigen. Wenn mein Herz für die rechte Wertschätzung des Herrn Jesus offenstünde, dann sollte ich sagen: „Näher, mein Gott, zu Dir; näher zu Dir!“
Die niedrigeren geistlichen Wahrheiten mögen sehr erfreulich sein, aber mein Herzensverlangen sollte sein: „Näher zu Dir!“ Möchte doch Christus in meinem Herzen wohnen und nicht die Welt um mich herum; möchte ich Seine Liebe verstehen lernen, die alle Erkenntnis übersteigt.