John Gifford Bellet
Schriften von J.G. Bellet
Joh 1,14 - „Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns“Joh 1,14 - „Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns“
Aus der Geschichte von „Fleisch und Blut“, wie wir sie in der Heiligen Schrift aufgezeichnet finden, lernen wir, dass durch die Sünde der Tod kam. Für alle, deren Haupt oder Repräsentant Adam war, galt das Wort: „An dem Tag, da du davon isst, musst du sterben“ (1Mo 2,17). Was aber den verheißenen Samen der Frau betrifft, der nicht durch Adam repräsentiert wurde, war zu der Schlange gesagt worden: „Du wirst ihm die Ferse zermalmen“ (1Mo 3,15). Der Tod dieses Samens sollte also ebenso außergewöhnlich sein wie seine Geburt. In seiner Geburt sollte Er der Same der Frau sein; in seinem Tod sollte Ihm die Ferse zermalmt werden. Als die Fülle der Zeit gekommen war, wurde dieser Verheißene „geboren von einer Frau“ (Gal 4,4). Der Sohn Gottes, „der, der heiligt“ (Heb 2,11), nahm teil an Fleisch und Blut — Er wurde „das Heilige“ (Lk 1,35).
Hatte der Tod irgendeinen Anspruch an Ihn? Nein, nicht den geringsten. Wenn ich so sagen darf, besaß Er, der Gesegnete, die Fähigkeit, dem göttlichen Beschluss, dass seine Ferse zermalmt werden sollte, zu entsprechen. Dennoch war Er in keiner Weise dem Tod unterworfen.
In Übereinstimmung mit diesem Vorsatz hat Er sich nach seinem eigenen göttlichen Wohlgefallen mit den Worten hingegeben: „Siehe, ich komme“ (Ps 40,8). Um Gott zu verherrlichen und dem Sünder Frieden zu bringen, hat Er „Knechtsgestalt angenommen“. Dementsprechend ist Er zur bestimmten Zeit „in Gleichheit der Menschen geworden“, und während Er „in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden“ wurde, ist Er von Erniedrigung zu Erniedrigung geschritten, „bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,7.8)2.
Auf diesem Weg sehen wir den Herrn Jesus während seines ganzen Lebens. Er verbarg seine Herrlichkeit, „die Gestalt Gottes“ (Phil 2,6), unter dieser „Knechtsgestalt“ und suchte keine Ehre von Menschen. Er ehrte den Vater, der Ihn gesandt hatte, und nicht sich selbst. Er wollte sich nicht zu erkennen geben, sich nicht der Welt zeigen, wie das Wort uns mitteilt. Alles das gehörte zu der „Gestalt“, die Er angenommen hatte, und findet seine vollkommene Darstellung in den Berichten der Evangelien.
Unter der Gestalt eines steuerpflichtigen Untertanen verhüllte Er die Gestalt Dessen, der über die Fülle der Erde und des Meeres gebot. Man forderte Steuer von lhm; wenigstens wurde Petrus gefragt, ob sein Herr sie nicht zahle. Der Herr erklärt, dass Er frei davon sei. Doch um kein Ärgernis zu geben, bezahlt Er die Steuer für Petrus und sich. Und doch war Er während der ganzen Zeit kein Geringerer als der, von dem geschrieben stand: „Des Herrn ist die Erde und ihre Fülle“ (Ps 24,1). Denn Er gebietet einem Fisch im See, Ihm gerade das erforderliche Goldstück zu bringen, das Er dann den Steuereinnehmern überreichen lässt (Mt 17,27).
Welch ein Beispiel jenes kostbaren Geheimnisses, dass Er — der „in Gestalt Gottes war“ und „es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein“ (Phil 2,6), so dass Er über die Schätze der Tiefe verfügen und den Geschöpfen der Hand Gottes als seinen eigenen gebieten konnte —Knechtsgestalt annahm! Welch eine Herrlichkeit bricht bei diesem vorübergehenden, unscheinbaren Ereignis durch die Wolken! Alles ereignete sich zwischen dem Herrn und Petrus. Aber es war eine Offenbarung der „Gestalt Gottes“, die aus der Gestalt eines Knechtes oder eines der Obrigkeit Unterworfenen hervorstrahlte (Röm 13,1). Die Fülle der Erde war Ihm in demselben Augenblick tributpflichtig, als Er bereit war, anderen Tribut zu zahlen. Ähnlich war es bei einer anderen Gelegenheit, als Er als der unbeachtete Gast die Freude des Hochzeitsfestes erhöhte — nicht nur als wäre Er selbst der Bräutigam, sondern als der Schöpfer von allem, wodurch das Fest auf ein herrliches Niveau gehoben wurde. Auch dort offenbarte Er seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an Ihn (Joh 2).
Weiter lesen wir von Ihm: „Er wird nicht schreien und nicht rufen und seine Stimme nicht hören lassen auf der Straße. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen“ (Jes 42,2.3) , sondern sich lieber zurückziehen; und dies alles, weil Er „Knechtsgestalt“ angenommen hatte. Deshalb wird auch bei dieser Gelegenheit die Stelle angeführt: „Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe“ (Mt 12,18).
Die Forderung der Pharisäer, Er möge ihnen ein Zeichen aus dem Himmel geben, war eine weitere Versuchung für Ihn, sich selbst zu erhöhen (Mt 16,1). Die Pharisäer versuchten Ihn auf ähnliche Weise wie der Teufel es getan hatte, als er Ihn aufforderte, sich von der Zinne des Tempels hinabzustürzen, oder wie seine Brüder es taten, als sie sagten: „Zeige dich der Welt“ (Joh 7,4). Doch was erwiderte der vollkommene Knecht? Kein Zeichen würde ihnen gegeben werden, sagte Er, als nur das Zeichen Jonas — ein Zeichen der Erniedrigung, ein Zeichen, dass der Fürst dieser Welt für den Augenblick die Oberhand über Ihn haben sollte, anstatt eines Zeichens, das die Welt dahin gebracht hätte, sich Ihm in schweigender Ehrfurcht zu unterwerfen.
Wahrlich, wunderbar und herrlich sind diese Fußstapfen des vollkommenen Knechtes Gottes! David und Paulus, gleichsam zu beiden Seiten des Herrn stehend — wie Mose und Elia auf dem heiligen Berg — strahlen in etwa den Glanz dieses sich selbst verbergenden Knechtes zurück. David erschlug den Löwen und den Bären, und Paulus wurde in den dritten Himmel entrückt; aber keiner von ihnen sprach von diesen Dingen. Eine solche Handlungsweise war ein lieblicher Widerschein der Herrlichkeit des vollkommenen Knechtes. Und doch sind sie und alle ihnen ähnlichen Männer, die wir in der Heiligen Schrift oder unter Gläubigen finden, weiter von dem großen Vorbild entfernt, als wir es ermessen könnten. Er verbarg die „Gestalt Gottes“ unter der „Knechtsgestalt“. Jesus war Davids Kraft, als er den Löwen und den Bären erschlug, und Er war der Herr des Himmels, in den Paulus entzückt wurde; und doch ging Er umher in der Gestalt eines Menschen, der noch nicht einmal „hatte, wo er das Haupt hinlege“ (Lk 9,58).
Dasselbe sehen wir auf dem Gipfel und am Fuß des heiligen Berges. Auf dem Gipfel war Er angesichts seiner Auserwählten für einen kurzen Augenblick „der Herr der Herrlichkeit“. Am Fuß des Berges war Er „Jesus allein“, der ihnen gebot, niemandem von dem Gesicht zu sagen, bis der Sohn des Menschen aus den Toten auferstanden sein würde (Mt 17,9).
Betrachten wir Ihn nun, als Er während des Sturms im Schiff auf dem See war. Er lag dort als ein ermüdeter Arbeiter in sanftem Schlaf. Das war seine sichtbare Gestalt, doch darunter war die „Gestalt Gottes“ verborgen. Er erhob sich, und als der Herr, der „den Wind in seine Fäuste sammelt“ und die „Wasser in ein Tuch bindet“ (Spr 30,4), schalt Er den Wind und beruhigte den See (Mk 4,35-41).
Gelegentlich steht der Herr Jesus in der vollen und vielseitigen Herrlichkeit als der HERR Israels vor unseren Augen. In früheren Tagen hatte der Gott Israels den Geschöpfen der großen Tiefe geboten. Er bestellte einen großen Fisch, um Jona zu verschlingen und ihm für eine bestimmte Zeit als Grab zu dienen. Ebenso erwies der Herr Jesus sich zu seiner Zeit als der Herr der Fülle „dieses Meeres, groß und ausgedehnt nach allen Seiten hin“ (Ps 104,25), indem Er „eine große Menge Fische“ in das Netz des Petrus gehen ließ (Lk 3,6). Wir sehen also, dass sowohl die kleinen als auch die großen Tiere, die sich im Meer tummeln, in früheren wie in späteren Tagen den Worten des HERR-Jesus gehorchten.
Der Gott Israels benutzte einst als der Herr der Fülle der Erde und des Meeres einen stummen Esel, um die Torheit des Propheten zu bestrafen (4Mo 22,21-33). In noch charakteristischerer Weise gebot Er der Natur, als die Bundeslade aus dem Land der Philister zurückgeholt werden sollte, indem Er die Kühe, die den Wagen zogen, auf dem die Bundeslade stand, zwang, den richtigen und nächsten Weg nach Beth-Semes einzuschlagen, obwohl ihr natürlicher Trieb sich diesem Weg auf das heftigste widersetzte (1Sam 6).
In derselben Herrlichkeit und Macht des Gottes Israels handelte auch der Herr Jesus. Denn zu seiner Zeit musste auch Er — die wahre Bundeslade — heimwärts getragen werden. Gegen Ende seiner Laufbahn kam der Augenblick, wo Er Jerusalem in seiner Herrlichkeit besuchen sollte. Es war notwendig, dass Er als König von Zion in die königliche Stadt einzog. Dabei stand das Eselsfohlen zum Dienst für Ihn bereit. Er verfügte über es und hielt seinen Einzug in der ganzen Würde und in den Rechten des Herrn der Fülle der Erde. Die Besitzer des Fohlens hatten der Forderung der Jünger, „der Herr benötigt es“, zu gehorchen. Entgegen ihren natürlichen Ansprüchen gewährten sie es ihnen (Mk 11,1-6, Lk 19,29-34).
So erstrahlt der Herr hier wiederum in der charakteristischen Herrlichkeit des Gottes Israels. Es war der verachtete Jesus von Nazareth, der Zimmermann, der Sohn des Zimmermanns, der jene Forderung stellte (Mt 13,55; Mk 6,3). Aber wie dicht der verhüllende Schleier auch sein mochte, die darunter liegende Herrlichkeit war unendlich groß. Es war die volle Herrlichkeit des HERRN. Kein Strahl des ganzen göttlichen Glanzes weigerte sich, dieser Herrlichkeit Ausdruck zu geben. Er achtete „es nicht für einen Raub ... Gott gleich zu sein“, obwohl Er „sich selbst zu nichts machte“ (Phil 2,6.7). Der Glaube erkennt diese verschleierte Herrlichkeit, und die Liebe umgibt sie schirmend wie mit einer feurigen Mauer. „Wer ist hinaufgestiegen zum Himmel und herabgekommen? Wer hat den Wind in seine Fäuste gesammelt, wer die Wasser in ein Tuch gebunden? Wer hat alle Enden der Erde aufgerichtet? Was ist sein Name, und was der Name seines Sohnes, wenn du es weißt?“ (Spr 30,4).
Wir wollen uns nicht anmaßen, es auszusprechen; aber wie Mose, als der HERR an ihm vorüberging, wollen wir lernen, unser Haupt zur Erde zu neigen und anzubeten (2Mo 34,8).
Was für schöne Beispiele sind diese, an denen die Schrift uns lehrt, wie Jesus unter der „Knechtsgestalt“ die „Gestalt Gottes“ verhüllte! Ich glaube, dass auch jene Fälle, wo Er sich vor Gefahr zu schützen oder sein Leben in Sicherheit zu bringen scheint, von gleichem Charakter und gleicher Bedeutung sind. Es wäre sicherlich eine kostbare Aufgabe für jeden, so seine Schönheit und Herrlichkeit, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben, aufzudecken. Aber obwohl wir diese Herrlichkeit um keinen Preis antasten möchten, sind wir doch vielleicht oft nicht imstande, sie zu erfassen, und missverstehen ihre Art oder die Form, die sie annimmt.
Der Sohn Gottes kam in die Welt als das vollkommene Gegenteil von dem, der noch kommen wird und über den sich die ganze Welt verwundern wird. Wie Er selbst sagte: „Ich bin in dem Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen“ (Joh 5,43). Und im Einklang hiermit wirkte Er, als sein Leben bedroht wurde, nicht gleich ein Wunder in den Augen der Welt, sondern gerade das Gegenteil: Er machte „sich selbst zu nichts“. Er wollte ein Nichts und Niemand sein. Er schlug es ein für alle Mal aus, ein Wunder in den Augen der Menschen zu sein — in herrlichem und erhabenem Gegensatz zu dem Antichristen, der „sich erhöht über alles, was Gott heißt oder verehrungswürdig ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei“; der da „bewirkt, dass die Erde und die, die auf ihr wohnen, das erste Tier anbeten, dessen Todeswunde geheilt wurde“ und dass alle, „die Kleinen und die Großen, ... ein Malzeichen annehmen an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn; und dass niemand kaufen oder verkaufen kann als nur der, der das Malzeichen hat, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens“ (2Thes 2,4; Off 13,12.16.17).
Der Sohn Gottes steht in völligem Gegensatz zu all dem, was den Antichristen kennzeichnet. Der Herr kam in seines Vaters Namen und nicht in seinem eigenen. Er hatte Leben in sich selbst. Er war dem gleich, von dem geschrieben steht, dass er „allein Unsterblichkeit hat“ (1Tim 6,16), aber Er verbarg diesen Glanz der göttlichen Herrlichkeit unter der Gestalt eines Menschcn, der sein Leben mit den gewöhnlichsten Mitteln zu schützen suchte. Wie wunderbar ist das! O hätten wir nur Herzen, die mehr mit Anbetung erfüllt wären! Der andere, der „in seinem eigenen Namen“ kommen wird, mag Zeichen und Wunder tun, so dass er selbst Feuer vom Himmel herabkommen lässt vor den Menschen, ja, er mag zur Verwunderung aller die ganze Gewalt des ersten Tieres ausüben; aber der Sohn Gottes floh nach Ägypten (Mt 2,13-15)! Ist unser geistliches Verständnis so schwach, dass wir das nicht erkennen können? Muss die Betrachtung der so verhüllten Herrlichkeit uns geradezu aufgedrängt werden? Wenn es so ist, dann lässt der Herr sich in Gnaden auch dazu herab. Denn unter diesem Schleier lag eine Herrlichkeit verborgen, die, wenn es ihr gefallen hätte, die Feinde sofort, gleich den Flammen des chaldäischen Ofens, vernichtet hätte. Denn zuletzt, als die Stunde gekommen war und die Mächte der Finsternis „ihre Stunde“ haben sollten, wichen die Diener dieser Mächte angesichts jener Herrlichkeit zurück und fielen zu Boden. Das zeigt uns, dass der Herr Jesus ein durchaus freiwilliger Gefangener war, so wie Er später ein freiwilliges Opfer wurde3.
Werfen wir in Verbindung hiermit einen Blick auf Ihn bei der Gelegenheit in Matthäus 12, die ich bereits erwähnt habe. Fürchtete der Herr etwa in jenem Augenblick den Zorn der Pharisäer, und fühlte Er sich wie jemand, der für die Sicherheit seines eigenen Lebens Sorge tragen muss? Sicherlich nicht. Er verfolgte ohne Zögern seinen schönen und köstlichen Pfad als Diener, nicht, um sich in der Welt einen ehrenvollen Namen zu machen, sondern um durch seine Erniedrigung und seinen Tod einen Namen zu empfangen, dem die Heiden vertrauen und, an welchen glaubend, Sünder errettet werden können (Phil 2).
Betrachten wir Ihn bei einer anderen Gelegenheit, als das Schwert des Herodes Ihn ein zweites Mal bedrohte (Lk 13,31). Mit welch einer Würde nahm der Herr diese Drohung auf! Mochte der König noch so listig sein, mochte er die Macht eines Tyrannen mit der Schlauheit eines Fuchses vereinigen, Er selbst musste und wollte seinen vorgezeichneten Weg gehen — das Ihm übertragene Werk tun und dann „vollendet werden“ (Lk 13,32). Und diese Vollendung, von der Er hier spricht, sollte, wie wir wissen, nicht dadurch erreicht werden, dass Herodes oder die Juden die Oberhand über Ihn gewannen, sondern durch die Dahingabe seiner selbst, um als Urheber unserer Errettung durch Leiden vollkommen gemacht zu werden. Bei derselben Gelegenheit erklärte Er, dass, wenn Er auch als Prophet in Jerusalem sterben müsse, dies doch deshalb geschehe, damit Jerusalem das Maß seiner Sünden voll mache. War Er doch die ganze Zeit Jerusalems Gott, der die Stadt Jahrhunderte lang in geduldiger Liebe getragen und sich mit ihr beschäftigt hatte und sie nun bald dem Gericht der Verwüstung übergeben würde (Lk 13,31-35).
Ich wiederhole noch einmal: Welche Herrlichkeiten liegen hier unter der niedrigen Gestalt dessen verborgen, der mit dem Zorn eines Königs bedroht war und zugleich den Spott und die Feindschaft seines Volkes erfahren musste!
Ich möchte indessen noch bei einigen Fällen verweilen, die noch bemerkenswerter erscheinen. Betrachten wir den Herrn in der ersten Zeit seiner Wirksamkeit in seiner eigenen Stadt. Derselbe erhabene Grundsatz tritt uns hier vor Augen; denn meines Erachtens war der Berg, auf dem Nazareth erbaut war, kein dem Leben Jesu gefährlicher Ort, sondern bedeutete für Ihn genau dasselbe wie die Zinne des Tempels in Jerusalem (Lk 4,9.29). Der Teufel dachte gar nicht daran, dass der Herr, wenn Er sich von jener Zinne hinabstürzte, ster- ben würde; durchaus nicht. Er versuchte Ihn (wie er die Frau im Garten Eden versucht hatte), sich selbst zu verherrlichen und sich, wenn ich es so nennen darf, und wie der Teufel zu Eva gesagt hatte, Gott gleich zu machen. Er trachtete danach, die Quellen in Christus zu verderben, wie er sie in Adam verdorben hatte, und suchte den „Hochmut des Lebens“, als eine der Haupttriebfedern seines Handelns, in Ihn zu pflanzen. Aber Jesus bewahrte die „Knechtsgestalt“. Er wollte sich nicht hinabstürzen, sondern erinnerte sich im Gehorsam das Wort: „Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen“ (Lk 4,12).
Gerade so war es auf dem Berg von Nazareth. Der Berg war nicht höher als die Zinne des Tempels. Jesus war an dem einen Ort nicht mehr in Gefahr als an dem anderen. Er wäre am Fuß des Berges ebenso unverletzt angekommen wie am Fuß der Zinne des Tempels. Aber wie wäre dann die Schrift erfüllt worden, dass Er nicht gekommen sei, seine eigene Ehre zu suchen? Darum heißt es: „Er aber ging durch ihre Mitte hindurch und ging weg“ (Lk 4,30). Er zog sich unbeachtet und unerkannt zurück, blieb seiner Knechtsgestalt treu und offenbarte seine Gnade.
Es wäre sicher Vermessenheit, zu behaupten, dass Er dies getan habe, um sein Leben zu retten. Dieser Gedanke steht in unmittelbarem Widerspruch zu der Herrlichkeit seiner Person als Gott, „offenbart ... im Fleisch“ (1Tim 3,16). Jesus wurde in den Tagen seines Fleisches immer wieder erfreut, wenn der Glaube seine Herrlichkeit unter dem sich verhüllenden Schleier entdecken konnte. Wenn der Sohn Davids, der Sohn Gottes, der HERR Israels, der Schöpfer der Welt, in der niedrigen Gestalt des Jesus von Nazareth durch Glauben erkannt wurde, dann frohlockte Jesus im Geist. Und so dürfen auch wir heute sagen, dass es sein Herz erfreut, wo immer sich die Knechtsgestalt unseren Gedanken darstellt, wenn seine Geliebten seine hinter der Wolke verborgene Herrlichkeit entdecken.
Die Flucht nach Ägypten in den frühen Tagen des „Kindes“ von Bethlehem ist eine sehr beachtenswerte und schöne Begebenheit. Wir erinnern uns, dass Israel zur Zeit Moses in jenem Land einem in Flammen stehenden Dornbusch glich, dass aber infolge des Mitgefühls und der Gegenwart des Gottes ihrer Väter der Busch nicht verzehrt wurde. Der HERR stand über dem Pharao; und wenn der Pharao das Volk vernichten wollte, so erhielt doch der HERR es und ließ es sich sogar mehren, mitten in dem Land des Pharao. Dies geschah „nicht durch Macht und nicht durch Kraft“, denn Israel war damals nicht mehr als ein Dornbusch, der durch einen Funken hätte verzehrt werden können. Aber der Sohn Gottes war in dem Busch — das war das Geheimnis. Er war mit Israel in Ägypten, wie Er später mit Sadrach, Mesach und Abednego im Feuerofen war. Obwohl der Busch brannte und der Ofen siebenmal mehr als gewöhnlich geheizt wurde, kam doch der Geruch des Feuers nicht an sie (Dan 3).
Es war wirklich ein „großes Gesicht“, so dass Mose hinzutrat, um es anzusehen. Auch wir können heute in der Gesinnung Moses uns nahen und denselben Ort betreten. Wir können 2. Mose 1-15 lesen und dann einen Blick auf jenes wunderbare Gesicht zurückwerfen und uns fragen, warum der Busch brannte und doch nicht verzehrt wurde; ja, wir können uns überzeugen, dass der arme Dornbusch Israel inmitten des ägyptischen Feuerofens unversehrt blieb, weil der Sohn Gottes gegenwärtig war. Mag auch das Feuer heißer und heißer gemacht werden, es wird nie die Oberhand gewinnen.
In welcher Weise verließ Israel schließlich Ägypten? Ebenso, wie in späteren Tagen die drei Jünglinge den Feuerofen Nebukadnezars verließen: im Triumph. Nichts war verbrannt als nur die Fesseln, mit denen man sie gebunden hatte. Der Pharao kam mit dem ganzen Heer der Ägypter im Roten Meer um; aber Israel zog aus unter dem Banner des HERRN.
„Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“ (Hos 11,1). Dieser Vers ist wahr in Bezug auf Jesus sowie auf Israel. Sowohl Jesus als auch Israel waren zu ihrer Zeit brennende, aber nicht verzehrte Büsche — dem Anschein und dem menschlichen Urteil nach schwach, aber dennoch unantastbar. Beide erfuhren in dieser ägyptischen Welt Kummer und Schmerz, aber das Leben beider konnte nicht angetastet werden, und zwar deshalb nicht, weil Israel das Mitgefühl des Sohnes Gottes genoss, und weil Jesus die Person war, die Er war: Gott, offenbart im Fleisch 1Tim 3,16).
Geschah denn die Flucht nach Ägypten, um das Leben des Kindes zu retten? Verließ Israel Ägypten, um sein Leben zu retten? Gingen Sadrach und seine Genossen aus dem chaldäischen Ofen, um ihr Leben zu retten? Israels Leben war in Ägypten ebenso sicher wie außerhalb des Landes. Die jüdischen Jünglinge waren in dem Ofen ebenso wenig dem Verbrennen ausgesetzt wie draußen. Israel verließ Ägypten, um die Herrlichkeit des HERRN, ihres Erlösers, anzuschauen. Ebenso war es mit den drei israelitischen Jünglingen. Und in derselben Weise und zu dem gleichen Zweck wurde das „Kind“ dem Zorn des Königs Herodes entrissen und aus Judäa weggebracht. Der Sohn Gottes hatte Knechtsgestalt angenommen. Er war nicht in seinem eigenen Namen. sondern im Namen seines Vaters gekommen. Er hatte sich seiner Herrlichkeit entäußert und sich selbst zu nichts gemacht, und dann begann Er, in der Verwirklichung dieser Knechtsgestalt, seine Laufbahn, während Er noch ein Kind war. In allen Erniedrigungen war Er gehorsam. selbst bis zur Flucht nach Ägypten, die scheinbar unternommen wurde, um sein Leben vor der Rache des Königs in Sicherheit zu bringen, in Wirklichkeit aber zur Verherrlichung dessen, der Ihn gesandt hatte.
Wir müssen wirklich darüber wachen, dass wir diese Beispiele von seiner vollkommenen Knechtsgestalt nicht zur Herabsetzung seiner Person missbrauchen! Er war unantastbar, bevor seine Stunde gekommen und Er bereit war, sich am Kreuz von Golgatha hinzugeben, auch wenn Oberste mit ihren Fünfzig Ihn immer wieder zu greifen suchten diese Versuche waren umsonst. Er entging ihrer Hand und „erniedrigte sich selbst“, indem Er bei einer Gelegenheit nach Ägypten, bei einer anderen „auf die andere Seite des Jordan“ ging (Joh 10,40), Er, der verachtete, verworfene Sohn des Menschen. — Sollten wir dieses Geheimnis der Unterwürfigkeit, der freiwilligen Unterwürfigkeit des Sohnes Gottes, in leichtfertiger Weise behandeln, Geliebte? Dürfen wir den Schleier unehrerbietig lüften? Nein! Und doch, wenn die eben angeführten Beispiele nebst ähnlichen dazu benutzt werden, die Sterblichkeit des Fleisches und Blutes, das der Herr annahm, zu beweisen, dann ziehen wir den Schleier mit unehrerbietiger und rauer Hand fort. Ja, mehr noch, wir begehen ein doppeltes Unrecht an Ihm. Wir würdigen seine Person herab aufgrund von Tatsachen, die gerade seine schrankenlose Gnade und Liebe zu uns und seine hingebende Unterwerfung unter Gott offenbaren.
Man behauptet heute, die Natur oder irgendeine Gewalttätigkeit oder etwas anderes hätte den Sieg über Fleisch und Blut des Herrn davontragen können, um ebenso wie bei uns seinen Tod zu verursachen. Verbindet ein solcher Gedanke den Herrn Jesus Christus nicht mit der Sünde? Man mag dagegen einwenden, so sei es nicht gemeint. Vielleicht nicht, aber in Wirklichkeit ist es doch so. Denn nach der göttlich inspirierten Geschichte von Fleisch und Blut — und nur nach dieser können wir uns richten — kam der Tod nur infolge der Sünde in die Welt. Wenn das Fleisch und Blut in der Person unseres Herrn aus irgendeinem anderen Grund als der freiwilligen Hingabe seiner selbst den Tod unterworfen oder zufolge ihrer Natur und ihres Zustandes zu sterben fähig gewesen wären, dann hätten sie dadurch doch nur ihre Verbindung mit der Sünde kundgegeben. Und wenn das so wäre, könnte dann Christus in seiner ganzen Fülle vor der Seele stehen? Diese Behauptung behandelt Ihn so, als ob Er dem Tod ausagesetzt gewesen wäre. Demnach wäre Er in einer Weise dem Tod unterworfen gewesen, wie Er es nie hätte auf sich nehmen können, als Er die Gestalt eines Knechtes annahm. Aber Gott sei Dank Er war nichts anderem unterworfen, als nur dem, was Er, diesem Charakter gemäss freiwillig auf sich nahm.
Solche Behauptungen geben Anlass zu der Befürchtung, dass die „Pforten des Hades“ sich wieder gegen den „Felsen“ der Versammlung, den Sohn Gottes, erheben. Wenn solche Behauptungen unter dem Vorwand aufgestellt werden, dass sie nur dazu dienen sollen, die wahrhaftige Menschheit des Herrn deutlicher hervorzuheben, dann gibt gerade diese Behauptung Anlass zu noch stärkerem Verdacht. Denn ich frage: Ist es nur die Menschheit, die uns in der Person Christi entgegentritt‘? Gibt es hier nicht unermesslich viel mehr? Sehen wir nicht Gott selbst „offenbart m Fleisch“? Christus könnte für mich, einen Sünder, kein Heiland sein, wenn Er nicht der „Genosse“ des HERRN gewesenwäre (Sach 13,7). Jedes Geschöpf ist alles das, was es darzubringen vermag: schuldig. Nur der, der es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, konnte Knechtsgestalt annehmen, denn jeder andere ist schon Knecht, wie ich bereits gesagt habe. Kein Geschöpf kann mehr tun als es zu tun schuldig ist; denn jeder ist bereits für sich selbst Gehorsam schuldig. Niemand ist fähig, für den Menschen Bürge zu sein, außer Ihm, der ohne Anmaßung auf Gleichheit mit Gott Anspruch erheben kann und demzufolge unabhängig ist.
Die Menschheit als solche war fähig, zu sündigen. Adam hat es bewiesen, indem er sündigte. Wir können mit mehr Gewissheit sagen, dass er fähig war, zu sündigen, als dass er fähig war, zu sterben. Die Geschichte zeigt uns das Erstere, verbietet uns aber, das Zweite festzustellen, indem sie uns mitteilt, dass der Tod allein durch die Sünde in die Welt gekommen ist. Von Natur gab es eine Möglichkeit, zu sündigen; aber in Betreff der Möglichkeit des Sterbens wird uns nichts gesagt.
Wenn jemand unter dem Vorwand, die wahrhaftige Menschheit Christi deutlich machen zu wollen, behauptet, Jesus habe sündigen können, was würden wir einem solchen erwidern? Wir dürfen wohl jedem, der den Herrn Jesus kennt, die Antwort selber überlassen. Doch von einer Sache können wir überzeugt sein, nämlich, dass der Teufel sich hinter allen Bestrebungen verbirgt, die gegen den „Felsen der Versammlung“, gegen die Person des Sohnes Gottes, unternommen werden (Mt 16,18). Denn sein Werk, sein Zeugnis, sein Leiden, ja selbst sein Tod, würden uns durchaus nichts nützen, wenn Er nicht Gott wäre. Seine Person ist die Kraft seines Opfers; und in diesem Sinn ist seine Person unser Felsen. Gerade das Bekenntnis des Petrus bezüglich der Gottheit des Herrn — obwohl Petrus zu der Zeit weder sein Werk noch sein Opfer kannte — war es, was den Sohn Gottes veranlasste, von dem Felsen zu reden, auf den die Versammlung gebaut werden sollte. Er wollte auch die Wahrheit jenes Geheimnisses ans Licht stellen, gegen das die Pforten der Hölle, die Macht und List des Teufels, ihre äußersten Anstrengungen unternehmen werden.
Der Teufel trachtet immer danach, die Herrlichkeit des Sohnes Gottes zu verringern. Und über nichts wacht der Vater mit solcher Eifersucht, wie über die Ehre seines Sohnes. Er widersteht allem, was den Wert der Person desselben mindern könnte. Wenn wir in Johannes 5 die an die Juden gerichteten Worte des Herrn lesen, so entdecken wir das Geheimnis, dass, obwohl der Sohn sich selbst erniedrigt hat und, wie Er sagt, „nichts von sich selbst aus tun kann“ (Joh 5,19, der Vater dennoch darüber wacht, dass der Sohn dadurch nicht entehrt oder in irgendeiner Weise geringgeschätzt wird. Er wacht über die Rechte, ja die vollen göttlichen Rechte des Sohnes, indem wir den feierlichen Ausspruch hören: „Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat“ (Joh 5,23).
Sicher müssen wir bei unseren Unterweisungen mit den Unwissenden Geduld haben, denn das ist der göttliche Weg, der Weg des Geistes der Gnade. Welche Geduld und Sanftmut zeigte der Herr! „So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus“ (Joh 14,9)? Aber nie dürfen wir zulassen, dass die Person Christi — selbst in der unscheinbarsten Weise — geringgeschätzt wird; denn das ist gewiss nicht der Weg Gottes. Die Schriften des Johannes beweisen uns das. Sie bilden die am meisten ehrfurchtgebieten- den und zugleich die lieblichsten Teile der Heiligen Schrift, weil sie sich mit der Herrlichkeit der Person des Sohnes beschäftigen. In meinem Auge aber zeigen sie wenig oder gar keine Barmherzigkeit gegenüber denen, die seine Ehre zu besudeln trachten oder nicht treu darüber wachen.
Man lasse mich hier noch hinzufügen, dass andere in dem Leben unseres geliebten Herrn aufgezeichnete Erscheinungen wie z. B. Hunger, Durst, Müdigkeit usw. uns zu dem Gedanken an die Sterblichkeit seines Fleisches und Blutes durchaus keinen Anlass bieten. Jesus war hungrig und müde am Brunnen Samarias. Er schlief im Schiff nach einem Tag anstrengender Arbeit. Doch mochte Er auch die Dornen und Disteln, den Schmerz und den Schweiß kennen: Er nahm alles nur auf sich, um jene „Knechtsgestalt“ zu verwirklichen, die Er freiwillig in unaussprechlicher Gnade angenommen hatte. Mochte bei einer gewissen Gelegenheit der „Mann der Schmerzen“ als fast Fünfzigjähriger angeredet werden (Joh 8,57), so zeigt das nur, in welcher Weise Er zu unserem Segen und zur Ehre seines Vaters die Schmerzen und die Mühen des Dienstes ertrug. Aus diesen Zügen erkennen wir Ihn, dessen Aussehen mehr entstellt war als irgendeines Mannes (Jes 52,14), weil Er um unseretwillen litt und den Widerspruch der Sünder gegen sich erduldete, keineswegs aber, weil seine Kraft als natürliche Folge des Alters im Begriff stand, abzunehmen. Eine solche Abnahme seiner Kraft war bei Ihm völlig ausgeschlossen.
Die Juden werden immer wieder beschuldigt, seine Mörder gewesen zu sein, und zwar mit Recht (Apg 2,36; 3,15; 7,52). Wir alle befinden uns unter demselben Urteil. Das Verbrechen des Mordes liegt auch vor unserer Tür. Im vollen richterlichen Sinn waren sie seine „Verräter und Mörder“ (Apg 7,52). Es mag dem Verstand seltsam erscheinen;aber was wir in dieser Beziehung lesen, ist für den Glauben vollkommen wahr. Der Verstand erblickt nichts als Widersprüche in den Worten: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wieder nehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wieder zunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen“ (Joh 10,17.18). Der Herr war frei und stand dennoch unter einem Gebot. Das ist sicher höchst wunderlich für den Verstand und den Unglauben, aber völlig klar für das Urteil des Glaubens.
Der Sohn Gottes starb an dem Holz, an das die Hände gottloser Menschen Ihn genagelt hatten, und zwar in der Weise, wie Gott in seiner Gnade und seinem ewigen Ratschluss über Ihn verfügt hatte. Dort starb Er; und Er starb, weil Er sich dort befand. Das Lamm wurde geschlachtet. Wer möchte es wagen, diesen Worten zu widersprechen? Böse Menschen haben Ihn getötet und Gott bestimmte Ihn als sein Lamm für seinen Altar. Wer könnte und wollte ein solch notwendiges und kostbares Geheimnis antasten? Und dennoch ließ das Lamm freiwillig sein Leben. Sein Tod war nicht eine Folge der Erschöpfung und des Hinsiechens unter den furchtbaren Leiden des Kreuzes. Nein, Er gab sein Leben freiwillig hin! Zum Beweis, dass Er sich im Vollbesitz dessen befand, was Er übergab, „schrie Jesus auf mit lauter Stimme“ (Mt 27,46) und „übergab den Geist“ (Joh 19,30). Der Bericht über diesen Augenblick lässt keinen anderen Gedanken aufkommen, sondern nur die anbetende Liebe der Heiligen.
Pilatus verwunderte sich, dass der Herr Jesus bereits gestorben war. Er glaubte es nicht und musste davon überzeugt werden. Unmöglich konnte das Leben in solch kurzer Zeit am Kreuz zu Ende sein. Deshalb mussten die Beine der beiden Verbrecher gebrochen werden. Doch Jesus war bereits gestorben, weshalb Pilatus einen Zeugen herbeirief, bevor er dieser Sache Glauben schenkte. Die von uns hervorgehobene Wahrheit ist daher allein imstande, den tatsächlichen historischen Verlauf zu erklären. Und unsere Herzen, wenn sie durch die Gnade geleitet sind, werden Gott preisen für solch ein Gemälde seines Lammes, unseres sterbenden, gekreuzigten und getöteten Heilandes. Leugnen wir, dass Er das geschlachtete Lamm war, oder bringen wir das Lied im Himmel, das dieses Geheimnis feiert, zum Schweigen, wenn wir sagen, dass das geschlachtete Lamm sein Leben dahingab? Nein, denn der durch den Heiligen Geist aufgezeichnete Bericht von Golgatha predigt uns diese Wahrheit. Jesus war frei und dennoch unter einem Gebot. Der Glaube begreift das.
Als die Stunde gekommen war, so lesen wir in Übereinstimmung mit diesem Geheimnis, „neigte [er] das Haupt und übergab den Geist“ (Joh 19,30). Er erkannte das empfangene Gebot an, Er war gehorsam bis zum Tod, und deshalb gab Er sein Leben freiwillig dahin. Der Glaube erkennt, dass darin allein das wahrhaftige und vollkommene Geheimnis liegt. Jesus starb nach dem Ratschluss Gottes, dem Er sich freiwillig unterwarf, indem Er der „Genosse“ des Gottes der Heerscharen war (Sach 13,7).
Jedoch verbarg der Sohn Gottes, wie wir es bereits zur Ehre seines Namens anmerkten, auf Erden stets seine Majestät — die „Gestalt Gottes“ unter der „Knechtsgestalt“. Seine Herrlichkeit war in allen Gebieten der Herrschaft Gottes anerkannt worden. Die Dämonen erkannten sie an, die Leiber und die Seelen der Menschen taten es; Tod und Grab erkannten diese Macht an, und ebenso die Tiere des Feldes, die Fische im Meer, der Wind und die Wellen, das Korn und der Wein. Wir dürfen sagen, dass Jesus selbst der Einzige war, der seine Macht und Herrlichkeit nicht zu seinen Gunsten gebrauchte — denn es war seine Weise, sie zu verhüllen. Er war der „Herr der Ernte“; jedoch trat Er auf wie einer der Arbeiter. Er war der Gott des Tempels, der Herr des Sabbats; aber Er unterwarf sich den Forderungen und Ansprüchen einer ungläubigen Welt (Mt 9,12). Auf diese Weise verbarg Er immer wieder seine Majestät hinter dem Schleier oder hinter der Wolke und handelte dementsprechend, wie bereits bemerkt, in jenen Umständen, wenn sein Leben bedroht war. Ja, man kann sagen, dass Er seine Majestät beständig unter den unscheinbarsten Formen verbarg. Oft wurde Er durch die Gunst des gemeinen Volkes beschirmt (Mk 11,32; 12,12, Lk 20,19). Oft zog Er sich zurück, teils in gewöhnlicher, teils in wunderbarer Weise (Lk 4,30, Joh 8,59; 10,39). Oft wurde der Feind zurückgehalten, die Hand an Ihn zu legen, weil „seine Stunde noch nicht gekommen war“ (Joh 7,30; 8,20). Und bei einer besonderen, bereits erwähnten Gelegenheit, entzog eine Flucht nach Ägypten Ihn dem Zorn eines Königs, der nach seinem Leben trachtete.
In all diesem sehen wir die Tatsache, dass der Herr der Herrlichkeit sich wie jemand verbarg, der nicht in seinem eigenen, sondern in dem Namen eines anderen gekommen war. Und dennoch war Er der „Herr der Herrlichkeit“ und der „Fürst des Lebens“. Er war, wie bereits bemerkt, freiwillig ein Gefangener, und ebenso war Er auch schließlich ein freiwilliges Opfer. Er gab sein Leben „als Lösegeld für viele“ (Mt 20,28).
In früheren Zeiten war die Bundeslade des Herrn einmal in der Hand des Feindes. Sie war durch die Philister in der Schlacht bei Eben-Eser in Besitz genommen worden. „Und er gab in die Gefangenschaft seine Kraft, und seine Herrlichkeit in die Hand des Bedrängers“(Ps 78,61). Aber dennoch war sie unantastbar. Dem Anschein nach war sie ein schwaches, aus Gold und Holz gefertigtes Objekt. Aber ihre Gegenwart beunruhigte die Unbeschnittenen, ihre Götzen, ihre Leute und ihr Land. Sie befand sich unbeschirmt und allein in der Mitte der Feinde, die in der ersten Glut und dem Übermut ihres Sieges frohlockten. Warum zertrümmerte man sie nicht? Hätte man sie gegen einen Felsen geschmettert, so wäre sie in Stücke zersprungen. Sie schien gänzlich der Willkür der Feinde preisgegeben zu sein. Warum entledigten sich diese ihrer nicht? Einfach, weil sie dazu nicht in der Lage waren. Das ist die Antwort. Die Bundeslade, inmitten der Philister, war wie jener brennende Dornbusch, der nicht verzehrt wurde. Mochte sie dem Anschein nach von dem Willen der Unbeschnittenen abhängig sein, so durfte sie doch in Wirklichkeit nicht angerührt werden. Die Philister konnten sie von Asdod nach Gath und von Gath nach Ekron senden, aber keine Hand durfte sie anrühren, um sie zu zerstören (s. 1Sam 4-6).
Ebenso konnte die wahre Arche oder Bundeslade — der Sohn Gottes im Fleisch — für kurze Zeit den Unbeschnittenen scheinbar zum Spielball dienen. Annas mochte Ihn zu Kajaphas und Pilatus zu Herodes senden. Die Menge mochte Ihn dem Pilatus vorführen und Pilatus Ihn wieder der Menge überliefern; dennoch war sein Leben außerhalb ihres Bereiches. Er war der Sohn Gottes und, auch wenn im Fleisch offenbart, dennoch der Sohn von Ewigkeit her. Welche Leiden Er auch erduldete, welches Maß von Müdigkeit, Hunger und Durst Er auch ertragen hat — alles diente doch nur zur Darstellung der „Knechtsgestalt“, die Er angenommen hatte. Aber Er war und blieb der Sohn, der das „Leben in sich selbst“ hatte (Joh 5,26), die unantastbare Bundeslade, der Dornbusch, der selbst inmitten der wütenden Flammen des ganzen Hasses der Welt unverzehrt blieb. Hierin besteht ohne Zweifel das Geheimnis.
Doch während ich dieses niederschreibe, während ich diese Dinge mit innigem Herzen und, wie ich hoffe, mit einigem Nutzen erwäge, wünsche ich mit großem Verlangen, das zu fühlen, was ein wahrer Israelit an jenem Tag gefühlt haben mag, als die Bundeslade Gottes wieder aus dem Lande der Philister nach Hause gebracht wurde. Sicher wird er sich mit Anbetung gefreut haben. Aber auch wenn er in einiger Entfernung von dem Schauplatz lebte, so wird er sich doch mit Sorgfalt überzeugt haben, ob das große Ereignis auch wirklich stattgefunden hat. Als Israelit musste es ihm, welchem Stamm er auch immer angehörte, von größter Wichtigkeit sein, dass die Bundeslade in Sicherheit war, dass die Unbeschnittenen sie nicht mehr im Besitz hatten und sie nicht mehr hierhin und dorthin in ihren Städten umhersenden konnten. Doch wenn er in dieser Hinsicht befriedigt war, dann hatte er darüber zu wachen, dass er selbst die Bundeslade nicht unehrerbietig anrührte oder beschaute, und sich nicht gegen sie versündigte, wie jene Beth-Semiter, selbst nachdem die Lade von den Philistern zurückgekehrt war.
Ich bin davon überzeugt, dass wir recht tun, wenn wir keinen Gedanken der oben bezeichneten Art über den sterblichen Zustand des Leibes unseres Herrn Raum geben. Solche Vernunftschlüsse stehen auf gleichem Boden wie die Behandlung, die der Bundeslade unter den Unbeschnittenen oder Philistern zuteil wurde. Wir müssen sowohl den Irrtum solcher Gedanken als auch den darin kundgegebenen Mangel an Ehrfurcht erkennen. Spekulationen des menschlichen Verstandes entspringen nicht dem Heiligen Geist oder der Weisheit Gottes. Der Leib des Herrn war ein Tempel, und es steht geschrieben: „Mein Heiligtum sollt ihr fürchten. Ich bin der Herr“ (3Mo 19,30; 26,2)!
2 Wäre Jesus nicht Gott gleich gewesen, hätte Er dies nicht tun können; denn jedes Geschöpf, jeder, der geringer ist als Gott, ist schon ein Knecht seines Schöpfers. Ein Jude konnte freiwillig der Knecht eines anderen Juden werden, ein Knecht mit einem durchbohrten Ohr (2Mo 21). Aber kein Geschöpf könnte freiwillig ein Knecht Gottes werden, aus dem einfachen Grund, weil alle Geschöpfe schon durch ihr Verhältnis zum Schöpfer seine Knechte sind.↩︎
Wenn ich bedenke, wer Er war — der Same der Frau, der Sohn Gottes, offenbart im Fleisch -, wenn ich ferner bedenke, dass der Tod, in welcher Gestalt er auch an Ihn herantreten mochte, keinen Anspruch an Ihn hatte, so kann ich keinem anderen Gedanken Raum geben. Betrachtet in dem von Ihm angenommenen Fleisch und Blut, hatte der Tod kein Anrecht an Ihn, weil keine Sünde in Ihm war. Betrachtet in seiner vollen Person, konnte der Tod Ihn nicht antasten, es sei denn, dass der Herr Jesus sich ihm freiwillig unterwarf. Der Gläubige weist deshalb den Gedanken, dass Er in dem gewöhnlichen Sinn des Wortes sein Leben gerettet habe, entschieden zurück.↩︎