Schriften von John Gifford Bellett
Die moralische Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus als Mensch
Phil 4,12 - Er wußte „erniedrigt zu sein und Überfluß zu haben”Phil 4,12 - Er wußte „erniedrigt zu sein und Überfluß zu haben”
Die moralische Herrlichkeit, oder mit anderen Worten, der Charakter des Herrn Jesus als Mensch ist der Gegenstand der vorliegenden Betrachtung. Alles in Ihm stieg als ein Opfer lieblichen Wöhlgeruchs zu Gott empor. Jeder Ausdruck von dem, was Er war, wie unscheinbar er auch sein und an welchen Umstand er sich auch knüpfen mochte, erwies sich als ein duftender Weihrauch. In Ihm, aber auch nur in Ihm, wurde der Mensch mit Gott versöhnt. In Ihm fand Gott wieder Sein Wohlgefallen an dem Menschen, und zwar mit einem unaussprechlichen Gewinn; denn in Jesus ist der Mensch mehr für Gott, als er es in einer Ewigkeit adamitischer Unschuld gewesen wäre.
Obwohl ich völlig überzeugt bin, daß ich nur einen geringen Teil dieses bewundernswerten Gegenstandes ans Licht stellen kann, hoffe ich doch, durch dieses Zeilen bei dem einen oder anderen nützliche Gedanken wachzurufen, und das wird immerhin zum Segen sein.
Mit der Person des Herrn, als Gott und Mensch in einem Christus, möchte ich mich beschäftigen, wie auch mit Seinem Werk, mit jenem Dienst voller Leiden, mit der am Kreuz geschehenen Blutvergießung, durch die das Sühnungswerk vollendet wurde, das heute zur Freude aller Glaubenden verkündet wird.
Die Herrlichkeit des Herrn Jesus kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Seine persönliche Herrlichkeit verhüllte Er, außer wenn der Glaube sie zu entdecken wußte oder das Bedürfnis des Augenblicks ihre Offenbarung nötig machte. Die Herrlichkeit Seiner amtlichen Würde verhüllte Er ebenfalls; Er durchzog das Land weder als der aus dem Schoß des Vaters gekommene Sohn Gottes, noch als der mit Autorität bekleidete Sohn Davids. Diese beiden Seiten Seiner Herrlichkeit blieben meistens verdeckt, während Er inmitten der mannigfaltigen Umstände des täglichen Lebens Seinen Weg ging. Seine moralische Herrlichkeit aber konnte nicht verborgen bleiben: Er konnte in keiner Sache weniger als vollkommen sein, das war der Ihm eigene Charakter, das war mit einem Wort Er Selbst. Diese Herrlichkeit war in ihrer Vortrefflichkeit sogar zu blendend für das menschliche Auge, und der Mensch fühlte sich beständig durch sie bloßgestellt und verurteilt. Aber sie warf, mochte der Mensch sie ertragen können oder nicht, ihre Strahlen nach allen Seiten; und jetzt erleuchtet sie die Blätter der vier Evangelien, wie sie damals die Pfade erhellte, auf denen der Herr wandelte.
Es hat jemand von dem Herrn Jesus gesagt, daß Seine Entwicklung als Mensch ganz natürlich gewesen sei. Diese Bemerkung ist sehr schön und zutreffend. Der letzte Vers in Lukas 2 bestätigt das deutlich. Es gab in Jesus nichts von unnatürlichem Wachstum: Er nahm in allem zu in regelrechter Weise. Seine Weisheit hielt gleichen Schritt mit Seiner Statur und Seinem Alter; zuerst war Er ein Kind, dann ein Mann. Als der Mann (als der Mann Gottes in dieser Welt) zeugte Er von der Welt, daß ihre Werke böse seien, und Er wurde von ihr gehaßt; aber als Kind (ich möchte sagen, als ein Kind nach dem Herzen Gottes) ist Er Seinen Eltern untertan und befindet sich unter dem Gesetz, und zwar als jemand, der vollkommen ist; und unter solchen Umständen nahm Er zu an Gunst bei Gott und den Menschen.
Doch obwohl es bei Ihm ein Fortschreiten gab, zeigte sich doch niemals eine verdunkelnde Wolke, niemals etwas Verkehrtes, niemals ein Fehler; und das ist es, was Ihn von jedem anderen Menschen unterscheidet. Von Maria, Seiner Mutter, wird gesagt, daß sie alles, was Jesus betraf, in ihrem Herzen bewahrte; und doch legten sich Wolken, Unruhe und selbst Finsternis auf ihre Seele, so daß der Herr zu ihr sagen mußte: „Was ist es, daß ihr mich gesucht habt?” (Lk 2,49). Bei Jesus dagegen zeigte sich das Fortschreiten stets in ein und derselben Form von moraslischer Schönheit. Sein Wachstum war immer der Zeit gemäß, und ich darf hinzufügen, daß, so wie Seine Entwicklung als Mensch ganz und gar natürlich war, auch Sein Charakter in allen seinen Kundgebungen sich als durchaus menschlich erwies. Alles, was diesen Charakter offenbarte, war, wenn ich mich so ausdrücken darf, dem Menschen eigentümlich.
Er war der „Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt
zu seiner Zeit” (Ps 1,3). Alle Dinge sind nur schön zu ihrer Zeit. Die
moralische Herrlichkeit des „Kindes Jesus” erstrahlte zu ihrer Zeit und
an ihrem Platz; und als das Kind zum Mann geworden war, zeigte sich
dieselbe Herrlichkeit unter anderen, der Zeit gemäßen, Formen. Wenn
Seine Mutter ihre Ansprüche geltend machte, so wußte Er, wann Er ihnen
genügen mußte; Er wußte auch, wann Er ihnen entgegenzutreten, und wann
Er sie, selbst ungesucht, anzuerkennen hatte (Lk 2,51; 8,21;
Alles war vollkommen, sowohl im Blick auf seine Zusammenstellung und Verbindung, als auch auf die passende Zeit. Er weinte am Grab des Lazarus, obwohl Er wußte, daß Er das Leben für den Gestorbenen in sich trug. Und obwohl Er soeben erst gesagt hatte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben”, vergoß Er doch Tränen. Die göttliche Macht in Ihm hinderte die menschlichen Sympathien nicht, frei und ungehindert auszuströmen. Und gerade diese Verschmelzung oder Vereinigung von Tugenden macht Seine moralische Herrlichkeit aus. Jesus wußte, um den Ausdruck des Apostels zu gebrauchen, „erniedrigt zu sein und Überfluß zu haben”; Er wußte ebensowohl die Augenblicke des Wohlergehens, wenn man sie so nennen darf, wie die Zeiten des Druckes zu verwerten; denn während Er dieses Leben durchschritt, wurde Er mit beiden Zuständen bekanntgemacht.
So wurde Er auf dem Berg der Verklärung für einen Augenblick in Seine Herrlichkeit eingeführt; und das war in der Tat eine glorreiche Stunde. Er erschien dort in der Majestät und in den Würden, die Ihm gebührten. Wie die Sonne, die Quelle alles Lichts, so strahlte Sein Angesicht in überwältigendem Glanz; und ausgezeichnete Männer, wie Mose und Elias, standen Ihm zur Seite, indem sie Seine Herrlichkeit teilten und mit Ihm darin glänzten. Als Er aber von dem Berg herabstieg, befahl Er denen, die „Augenzeugen Seiner Majestät” gewesen waren, „niemandem zu erzählen, was sie gesehen hatten”. Und als Er am Fuß des Berges angekommen war und die erstaunte Volksmenge zu Seiner Begrüßung zusammenlief (Mk 9,15), und Sein Antlitz ohne Zweifel noch einen, wenn auch schwachen Nachglanz der Herrlichkeit, in der Er soeben gestrahlt hatte, zur Schau trug, verweilte Er doch keinen Augenblick, um die Huldigungen der Volksmenge entgegenzunehmen, sondern wandte sich sofort wieder Seinem gewöhnlichen Dienst zu; denn Er wußte „Überfluß zu haben”, und das, ohne daß es Ihn hochmütig machte. Er suchte nicht einen Platz unter den Menschen, sondern Er entäußerte Sich, machte Sich Selbst zu nichts und verhüllte eilig Seine Herrlichkeit, um der Diener zu sein, der gegürtet, aber nicht mit Herrlichkeit bekleidet ist.
Ebenso war es mit Ihm - wir finden das in Johannes 20 - bei einer anderen Gelegenheit, als Er aus den Toten auferstanden war. Wir sehen Ihn dort inmitten Seiner Jünger, bekleidet mit einer Herrlichkeit, wie sie dergleichen ein Mensch nie besessen noch angeschaut hatte. Er steht dort als der Überwinder des Todes, als der Zerstörer des Grabes; und obwohl Er im Besitz solcher Herrlichkeiten war, ist Er doch nicht gekommen, um die Glückwünsche Seines Volkes, wie wir zu sagen pflegen, entgegenzunehmen, wie es naturgemäß jeder andere tun würde, der nach ausgestandenen Mühsalen und Gefahren und nach einem glücklich errungenen Sieg in die Mitte seiner Freunde und seiner Familie zurückkehrt. Nicht etwa als ob der Herr Jesus gegen Mitgefühl gleichgültig gewesen wäre; nein, Er verlangte sehr danach zu seiner Zeit, und Er vermißte es tief, wenn Er es nicht fand. Aber jetzt, auferstanden aus den Toten, erscheint Er in der Mitte Seiner Jünger viel mehr wie einer, der sie für einen Tag besucht, als wie ein triumphierender Überwinder; und Er unterhält Sich mit ihnen weit mehr über das, was sie, als was Ihn direkt betraf in den großen Dingen, die sich soeben erfüllt hatten. Das hieß in der Tat von dem Sieg einen Gebrauch machen, wie Abraham es tat, nachdem er die verbündeten Könige geschlagen hatte; und so handeln zu können, ist, wie jemand mit Recht bemerkt hat, weit schwieriger, als den Sieg selbst zu erringen. Das hieß also wieder, zu wissen, „Überfluß zu haben”.
Aber der Herr Jesus wußte auch, „erniedrigt zu sein”. Betrachten wir Ihn z. B. bei den Bewohnern Samarias in Lukas 9,51 ff. Von vornherein versetzt Er Sich im Bewußtsein Seiner persönlichen Herrlichkeit in die Tage Seiner „Aufnahme”; und wie jemand, der als eine Person von hoher Würde sein Herannahen ankündigt, sendet Er Boten vor Seinem Angesicht her. Doch der Unglaube der Samariter verändert die Lage; sie weigern sich, Ihn aufzunehmen. Sie wollen dem Herrn der Herrlichkeit keine gerade Bahn bereiten, und zwingen Ihn, als der Verworfene den bestmöglichen Pfad für sich ausfindig zu machen. Und diese Stellung, den Platz eines Verworfenen, nimmt Er sofort ein, ohne daß Er irgendwie darüber gemurrt hätte. Indem Er Sich als der Bethlehemit verworfen sieht, wird er wieder der Nazarener (siehe Mt 2); und Er trägt diesen neuen Charakter jenseits des samaritischen Dorfes ebenso vollkommen, wie Er Sich diesseits in jenem anderen Charakter gezeigt hatte.
So also wußte der Herr Jesus, „erniedrigt zu sein”. Das gleiche finden wir in Matthäus 21. Er betritt Jerusalem als „der Sohn Davids”; alles, was Ihn in dieser glorreichen Würde kennzeichnen konnte, umringt und begleitet Ihn. Wie Er auf dem heiligen Berg in Seiner himmlischen Herrlichkeit erschienen war, so erscheint Er hier in Seiner irdischen Herrlichkeit, die Ihm von Rechts wegen gehörte; und wenn der Augenblick es erforderte, wußte Er sie in würdiger Weise zu tragen. Aber der Unglaube von Jerusalem, wie früher derjenige von Samaria, verändert die Szene; und Er, der als König Seinen Einzug in die Stadt gehalten hat, ist gezwungen, sie wiederum zu verlassen, um sich gleichsam ein Nachtlager zu suchen, wo Er es am besten finden kann. Und so befindet Er Sich, indem Er wußte, „erniedrigt zu sein”, wie einst außerhalb Samarias, so jetzt außerhalb Jerusalems.
Welch eine Vollkommenheit! Wenn die Finsternis das Licht der persönlichen und amtlichen Herrlichkeit Christi nicht erfaßt, so gibt das nur Seiner moralischen Herrlichkeit Gelegenheit, in um so hellerem Glanz hervorzustrahlen. Denn in sittlicher Hinsicht gibt es in einem menschlichen Charakter nichts Vortrefflicheres, als diese Verbindung einer freiwilligen Erniedrigung unter die Menschen mit dem Bewußtsein einer durchdringenden Herrlichkeit vor Gott. Wir finden schöne Beispiele von dieser Verbindung in dem Leben einiger Heiliger. Abraham war während seines ganzen Lebens freiwillig ein Fremdling unter den Kanaanitern, indem er weder einen Fußbreit Land besaß, noch nach einem solchen Besitz trachtete; aber wenn die Gelegenheit sich dazu darbot, verstand er es, in dem Bewußtsein seiner Würde vor Gott und nach dem Ratschluß Gottes über Könige Autorität auszuüben. Jakob spricht von seiner Fremdlingschaft, von seinen Tagen, die „kurz und böse” gewesen seien, indem er sich so in den Augen der Welt zu nichts macht; aber zu gleicher Zeit segnet er den Mann, der damals der Höchste auf Erden war; er war sich bewußt, daß er selbst in den Augen Gottes der „Vorzüglichere” war. David bittet um einen Laib Brot, und er tut es, ohne sich zu schämen; zu gleicher Zeit aber nimmt er die einem König gebührende Huldigung entgegen und empfängt gleichsam aus den Händen Abigails den Tribut seiner Untertanen. Paulus ist mit Ketten gebunden, ein Gefangener im Haus des Landpflegers, und er spricht von seinen Banden; aber zugleich läßt er den Hof und die ihn umringenden Großen der römischen Welt wissen, daß er sich unter ihnen allen als den gesegneten, den allein glücklichen Menschen erkennt.
Diese Verbindung einer freiwilligen Erniedrigung vor den Menschen mit dem Bewußtsein der Herrlichkeit und Würde vor Gott findet ihre erhabenste, glänzendste, ja (wenn wir daran denken, wer Er war), ihre unendliche Offenbarung in unserem Herrn. Es gibt in dieser Fähigkeit, zu wissen, „Überfluß zu haben” und „erniedrigt zu sein”, „satt zu sein” und „Mangel zu leiden”, noch eine andere Schönheit; denn sie sagt uns, daß das Herz dessen, der in diesen Dingen unterwiesen ist, sich viel mehr mit dem Endziel der Reise, als mit der Reise selbst beschäftigt. Wenn unser Herz an die Reise selbst denkt, werden wir ihre Mühseligkeiten und rauhen Wege sicher nicht gern haben; aber in dem Maß, wie wir das Ziel anschauen, werden wir über jene Dinge hinwegsehen können. Liegt darin nicht für uns alle eine lehrreiche Unterweisung?