Schriften von John Gifford Bellett
Die moralische Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus als Mensch
Distanz und vertrauliche Nähe, Heiligkeit und GnadeDistanz und vertrauliche Nähe, Heiligkeit und Gnade
Nun gibt es aber in dem Charakter des Herrn noch andere Seiten, die unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken. Gewiß war keiner unter den Menschen so gnädig, so herablassend, so zugänglich wie Er. Man bemerkt in Seinem ganzen Wesen eine Zartheit und eine Freundlichkeit, die man vergeblich bei anderen Menschen suchen würde; und dennoch fühlt man immer, daß Er hier „ein Fremdling” war. Ja, ein Fremdling überall dort, wo der Gott widerstrebende Mensch den Schauplatz beherrschte; aber sobald sich irgendein Elend oder ein Bedürfnis nach Ihm auftat, zeigte Er Sich in vertraulicher Nähe. Die Distanz, in der Er Sich hielt, und die Vertraulichkeit, mit der Er nahte, beides war vollkommen. Er betrachtete nicht nur das Ihn umringende Elend, sondern Er nahm Anteil daran, und das mit einem Mitgefühl, das nur in Ihm Selbst seine Quelle hatte. Er verwarf nicht nur die Ihn umringende Unreinigkeit, sondern Er hielt auch den Abstand der Heiligkeit von jeder Berührung mit dem Bösen und jeglicher Befleckung aufrecht.
Betrachten wir Ihn in dieser Distanz und in dieser Nähe, so wie uns das 6. Kapitel in Markus Ihn darstellt. Es ist eine rührende Szene. Die Jünger kehren nach ermüdendem Tagewerk zu dem Herrn Jesus zurück. Er ist besorgt für sie, nimmt Anteil an ihrer Müdigkeit, und sagt ihnen: „Kommet ihr selbst her an einen wüsten Ort besonders und ruhet ein wenig aus”. Doch da die Volksmenge Ihm bereits vorausgeeilt ist, wendet Er Sich mit derselben Liebe auch diesen Menschen zu, nimmt Kenntnis von ihrer Lage, und setzt Sich dann nieder, um sie zu unterweisen, da sie in Seinen Augen wie Schafe waren, die keinen Hirten hatten. In diesem allen sehen wir, wie der Herr Jesus den mannigfaltigen Bedürfnissen, die sich vor Ihm auftaten, entgegenkam; mochte es sich um die Müdigkeit der Jünger oder um die Unwissenheit und den Hunger der Menge handeln. Er trug Sorge für das eine wie für das andere. Doch die Jünger, unzufrieden über die Fürsorge, die Er der Menge widmet, fordern Ihn auf, sie zu entlassen. Das aber entspricht nicht den Gedanken des Herrn; und so kommt es zwischen Ihm und Seinen Jüngern zu einer Entfremdung, die sich kurz danach darin kundgibt, daß Er sie in ein Schiff steigen läßt, damit sie vor Ihm an das jenseitige Ufer fahren, während Er die Volksmenge entlassen will. Diese Trennung hat für die Jünger eine neue Not im Gefolge. Der Wind und die Wellen sind ihnen auf dem See entgegen; aber als die Gefahr aufs höchste gestiegen ist, erscheint der Herr Jesus wieder in ihrer Nähe, um ihnen zu helfen und ihnen Mut einzuflößen.
Welch eine Harmonie sehen wir in dieser Verschmelzung von Heiligkeit und Gnade! Der Herr Jesus ist uns nahe, wenn wir müde sind, wenn wir Hunger leiden oder uns in Gefahr befinden; aber Er ist fern von den Regungen unseres natürlichen Charakters, fern von unserer Selbstsucht. Seine Heiligkeit machte Ihn zu einem völligen Fremdling in einer unreinen Welt; Seine Gnade erhielt Ihn stets tätig in einer Welt voller Leiden und Bedürfnisse. Und gerade hierin zeigt sich die moralische Herrlichkeit des Lebens unseres Heilands in ganz besonderem Licht: obwohl Er durch den Charakter dessen, was Ihn umgab, notwendigerweise zu einem einsamen Mann wurde, veranlaßten Ihn doch das Elend und die Leiden um Ihn her, ununterbrochen tätig zu sein. Und da diese Tätigkeit sich allen Arten von Menschen gegenüber offenbarte, mußte sie sich auch in die verschiedensten Formen kleiden. Christus hatte mit Widersachern, mit einer Volksmenge, mit Seinen zwölf Jüngern und mit einzelnen Personen zu tun; und diese hielten Ihn nicht nur ununterbrochen, sondern auch auf mannigfaltige Art in Tätigkeit; und Er mußte wissen (und wußte es sicher in vollkommener Weise), welche Antwort Er einem jeden zu geben hatte.
Bei gewissen Gelegenheiten sehen wir den Herrn an dem Tisch anderer sitzen; aber das dient wiederum nur dazu, neue Züge Seiner Vollkommenheit vor unseren Blicken zu enthüllen. Am Tisch der Pharisäer, wo wir Ihm zuweilen begegnen, betritt Er nicht den traulichen Boden einer Familie, sondern eingeladen in dem Charakter, den Er Sich bereits in der Öffentlichkeit erworben und dort dargestellt hat, handelt Er diesem Charakter gemäß. Er ist nicht einfach ein Gast, dem die Zuvorkommenheit und Gastfreundschaft des Hausherrn zuteil wird, sondern Er ist in Seinem eigenen Charakter gekommen, und deshalb kann Er lehren und zurechtweisen. Er ist immer das Licht und handelt als das Licht; und so macht Er, wie Er es draußen getan hat, auch im Innern des Hauses die Finsternis offenbar (siehe Lk 7,40 usw.; 11, 37 usw.).
Während Er aber so wieder und wieder das Haus von Pharisäern als Lehrer betrat und als solcher den moralischen Zustand, wie er sich dort vorfand, verurteilte, erblicken wir Ihn in der Wohnung von Zöllnern als Heiland. Levi bereitete Ihm ein Mahl in seinem Hause und führte Zöllner und Sünder in Seine Gesellschaft ein. Und als das, wie es ganz natürlich war, den Ärger der Schriftgelehrten, der religiösen Leiter des Volkes, erregte, offenbarte Sich der Herr als Heiland, indem Er zu ihnen sagte: „Die Starken bedürfen nicht eines Arztes, sondern die Kranken. Gehet aber hin und lernet, was es ist: Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer; denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder” (Mt 9,12.13). Wie einfach sind diese Worte, aber zugleich wie treffend und bedeutungsvoll! Simon, der Pharisäer, war unwillig darüber, daß eine Sünderin in sein Haus kam und sich Jesus nahte, während Levi, der Zöllner, gerade Sünder einlud, um die Mitgäste des Herrn Jesus zu sein; und infolgedessen handelt der Herr im Haus des einen wie ein Tadler, während Er Sich im Haus des anderen in den Gnadenreichtümern des Erlösers zeigt.
Doch wir finden den Herrn Jesus noch bei anderen Personen zu Tische. Folgen wir Ihm nach Jericho und nach Emmaus (Lk 19 und 24). Es war ein Herzensbedürfnis, das Ihn bei jeder dieser Gelegenheiten einlud, wenn es auch unter verschiedenen Einflüssen erwacht war. Zachäus war bis zu jener Stunde nur ein Sünder, ein Mensch in seinem natürlichen Zustand, der, wie wir wissen, in seinen Beweggründen und in seinen Kundgebungen verderbt ist. Aber er wurde in jenem Augenblick von dem Vater zum Sohne gezogen, und Jesus wurde der Gegenstand seiner Seele. Er wollte Ihn unbedingt sehen, und von diesem brennenden Verlangen getrieben, hatte er sich einen Weg durch die Menge gebahnt und war auf einen Maulbeer-Feigenbaum gestiegen, um so, wenn möglich, den vorübergehenden Herrn zu sehen. Der Herr blickte zu ihm auf und lud Sich augenblicklich bei ihm ein. Das ist sehr beachtenswert; Jesus ist in dem Haus des Zöllners zu Jericho ein ungenötigter Gast, der Sich Selbst eingeladen hat.
Die ersten Regungen des geistlichen Lebens in dem Herzen eines armen Sünders, die durch das Wirken und Ziehen des Vaters geweckten Bedürfnisse, waren in diesem Hause zur Bewillkommnung des Herrn Jesus vorhanden; aber der Herr kommt in einer höchst lieblichen und bedeutungsvollen Weise dieser Bewillkommnung zuvor und tritt in das Haus ein in einem Charakter, der den Bedürfnissen des Augenblicks entsprach, um so das neugeweckte Leben anzufachen und zu befestigen, bis es sich in einer seiner kostbaren Tugenden offenbart und einige seiner guten Früchte entfaltet. „Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich von jemandem etwas durch falsche Anklage genommen habe, so erstatte ich es vierfältig” (Lk 19,8).
In Emmaus begegnen wir einer anderen Szene. Hier finden wir nicht das Verlangen einer neuergriffenen Seele, sondern das Begehren wiederhergestellter Heiliger. Die beiden Jünger hatten dem Unglauben Raum gegeben. Sie gingen heimwärts unter dem traurigen Eindruck, daß Jesus sie in ihren Erwartungen getäuscht habe. Der Herr Jesus tadelt sie, gleich nachdem Er Sich auf den Weg zu ihnen gesellt hat; doch ist die Art Seiner Unterhaltung so anziehend, daß ihre Herzen zu brennen beginnen (Lk 24,32), und sie Ihn, als sie die Tür ihrer Wohnung erreicht haben und Er Sich zum Weitergehen anschickte, dringend nötigen, bei ihnen einzukehren. Hier ladet Er Sich nicht Selbst ein, wie Er es in Jericho getan hatte. Die beiden Jünger waren nicht in dem gleichen Zustande, in dem sich Zachäus befand. Aber sobald sie Ihn einladen, kehrt der Herr ein, und zwar um das Verlangen, das jene bewogen hatte, Ihn einzuladen, weiter zu fördern, ja, völlig zu befriedigen. Und so geschah es denn auch: die Freude ihrer Herzen war so groß, daß sie, wie weit auch die Nacht schon vorgerückt sein mochte, noch zu derselben Stunde nach Jerusalem zurückkehrten, um ihren Brüdern diese Dinge zu berichten.
Wie voll der mannigfaltigsten Schönheiten sind alle diese Ereignisse! Der Gast des Pharisäers, der Gast des Zöllners, der Gast der Jünger, der geladene und ungeladene Gast sitzt in der Person Jesu stets auf Seinem Platz in aller Vollkommenheit und Schönheit. - Es gibt noch andere Fälle, in denen der Herr Jesus als Tischgenosse vor unsere Augen tritt; aber ich beschränke mich darauf, nur noch einen einzigen anzuführen. In Bethanien sehen wir Ihn auf dem traulichen Boden der Familie, wie wir es oben nannten. Würde Er die Form einer christlichen Familie mißbilligt haben, so hätte Er nicht in Bethanien sein können. Aber wir sehen Ihn dort, und zwar wieder, um einen neuen Zug Seiner moralischen Herrlichkeit bei Ihm zu entdecken. Er ist in Bethanien als ein Freund der Familie, indem Er in ihrem Kreis das findet, was wir noch heute so hoch schätzen - eine Heimat, ein Zuhause. Die Worte: „Jesus aber liebte die Martha und ihre Schwester und den Lazarus”, bestätigen das zur Genüge. Die Liebe des Herrn zu dieser Familie war nicht die Liebe eines Erlösers oder eines Hirten, obwohl wir wissen, daß Er beides für sie war; es war die Liebe eines Familienfreundes. Aber obwohl Er ein Freund, und zwar ein vertrauter Freund war, Der, so oft es Ihm beliebte, unter diesem gastfreundlichen Dach herzliche Anteilnahme finden konnte, mischte Er Sich doch nie in die Einrichtungen und Anordnungen des Hauses. Martha war die Hausherrin, die am meisten beschäftigte Person der Familie, nützlich und wichtig an ihrem Platz; und Jesus läßt sie da, wo Er sie findet. Es war nicht Seine Sache, solche Dinge zu ändern oder zu ordnen. Lazarus konnte zur Seite seiner Gäste an der Familientafel Platz nehmen; Maria konnte sich zurückziehen und sich gleichsam in ihr eigenes Reich bzw. in das Reich Gottes vertiefen; und Martha konnte beschäftigt sein und ihren häuslichen Pflichten nachgehen, Jesus läßt alles so, wie Er es findet. Er, der nicht ungeladen in das Haus eines anderen eintreten mochte, will, wenn Er bei diesen beiden Schwestern und ihrem Bruder eingekehrt ist, sich nicht in die häusliche Ordnung mischen. Welch ein taktvolles Verhalten! Aber wenn eines der Glieder der Familie, anstatt den ihm angewiesenen Platz im Familienkreis zu bewahren, sich in der Gegenwart des Herrn Jesus belehrende Bemerkungen erlaubt, dann muß und wird Er Seinen höheren Charakter annehmen, um in göttlicher Weise häusliche Dinge zu ordnen, die Er normalerweise nicht berühren und in die Er Sich nicht einmischen mochte (Lk 10).