Schriften von John Gifford Bellett
Die moralische Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus als Mensch
Unverstanden, abervoller AnziehungskraftUnverstanden, abervoller Anziehungskraft
Es ist nicht gut, immer verstanden zu werden. Unsere Gewohnheiten und Handlungen sollten die eines Fremdlings, eines Bürgers aus einem anderen Land sein, dessen Sprache, dessen Gesetze und Gebräuche nur unvollkommen begriffen werden. Fleisch und Blut vermögen sie nicht zu schätzen; und darum befinden sich die Heiligen in keinem guten Zustand, wenn die Welt sie versteht. Selbst die nächsten Verwandten Jesu erkannten Ihn nicht. Oder kannte Ihn Seine Mutter, als sie auf der Hochzeit zu Kana in Ihn drang, Seine Macht zu entfalten und Wein für das Fest herbeizuschaffen (Joh 2)? Oder kannten Ihn Seine Brüder, als sie zu Ihm sagten: „Wenn du diese Dinge tust, so zeige dich der Welt” (Joh 7,4)? Welch ein Gedanke! Sie suchten den Herrn zu veranlassen, Sich zu dem zu machen, was wir einen „Mann der Welt” nennen. Darf man irgendeine wahre Erkenntnis Jesu voraussetzen, wenn solche Gedanken im Herzen Raum finden? Gewiß nicht; darum fügt auch der Evangelist sogleich hinzu: „denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn”. Sie kannten die Macht des Herrn, aber nicht Seine Grundsätze; und nach Menschenweise verbanden sie den Besitz von Macht und Talenten mit der Verfolgung der Interessen des Menschen in dieser Welt. Es wird nicht nötig sein zu bemerken, daß der Herr Jesus das unmittelbare Gegenteil von diesem allen war; und Seine vom Geist dieser Welt geleiteten Verwandten nach dem Fleische konnten Ihn daher nicht erkennen. Die Grundsätze, die Seine Handlungen bestimmten, waren der Welt gänzlich fremd; man verachtete sie, wie einst die Tochter Sauls den König David verachtete, als er vor der Bundeslade des Herrn tanzte (2Sam 6,16).
Aber welch eine Anziehungskraft übte die Gegenwart des Herrn Jesus auf jedes Herz und Auge aus, das durch den Heiligen Geist geöffnet war! Die Apostel bezeugen es uns. Sie kannten der Lehre nach nur wenig von ihrem Meister, und ihr Bleiben bei Ihm brachte ihnen keinen weltlichen Gewinn. Ihre äußere Lage wurde durch ihren Wandel mit Jesus durchaus nicht verbessert. Auch kann man nicht sagen, daß sie sich Seine Wundermacht zunutze machten; im Gegenteil zweifelten sie weit eher an Seiner Macht, als daß sie sich ihrer bedient hätten, und doch hingen sie an Ihm. Sie gesellten sich nicht zu dem Herrn Jesus, weil sie in Ihm die unversiegbare und stets fließende Quelle erkannten, die alle ihre Bedürfnisse zu stillen vermochte; ich glaube, wir können sagen, daß sie von Seiner Macht nie zu ihren Gunsten Gebrauch machten. Dennoch blieben sie stets bei Ihm und waren in Verlegenheit, als Er von Seinem Weggehen sprach. Ich wiederhole: Welch eine Anziehungskraft mußte die Gegenwart Jesu auf alle ausüben, deren Herzen und Augen durch den Geist erleuchtet, oder die „durch den Vater gezogen” worden waren (Joh 6,44)!
Mit welcher Gewalt drang aber auch bisweilen ein einziger Blick, ein einziges Wort Jesu in das Herz! Wir sehen das bei Matthäus. Das eine Wort von den Lippen des Herrn: „Folge mir nach” war völlig hinreichend für ihn, um alles zu verlassen. Und diese Autorität, diese Anziehungskraft wurde von Menschen mit ganz entgegengesetztem Charakter und sehr unterschiedlicher Gemütsart gefühlt. Der nachdenkliche, glaubensträge Thomas und der feurige, unbedachtsame Petrus, beide wurden von diesem wunderbaren Mittelpunkt angezogen und festgehalten. Ja, Thomas, für einen Augenblick beseelt von dem Geist des eifrigen Petrus, konnte unter dem Eindruck dieser Anziehungskraft ausrufen: „Laßt auch uns gehen, auf daß wir mit ihm sterben” (Joh 11,16)! Was wird es sein, wenn auch wir das alles bald in Vollkommenheit sehen und empfinden werden! Was wird es sein, wenn jene unzählbare Schar aus der ganzen Menschheit, aus aller Herren Länder, von allen Farben und Rassen, versammelt sein wird, und alle Geschlechter und Sprachen und Völker und Nationen bei dem Herrn sein und Ihn in einer Welt, die Seiner würdig ist, umgeben werden! Es ist wirklich der Mühe wert, solche Beispiele zu betrachten, da sie uns zeigen, welch eine Kostbarkeit der Herr Jesus für Herzen haben kann, die den unsrigen gleich waren, und da wir sie zugleich als Unterpfand dessen betrachten dürfen, was uns im Glauben schon jetzt gehört.
Das Licht Gottes strahlt vor uns auf, damit wir nach der uns verliehenen Kraft es erkennen und benutzen, uns seiner erfreuen und ihm folgen. Nicht daß es uns anklagt oder Forderungen an uns stellt, sondern es strahlt vor uns auf, damit wir es, soweit wir Gnade empfangen haben, zurückstrahlen lassen. In dieser Weise sehen wir es in der ersten Gemeinde zu Jerusalem wirken. Das dort scheinende Licht Gottes forderte nichts. Es strahlte in Klarheit und Macht; das war alles. Petrus redete die Sprache dieses Lichtes, als er zu Ananias sagte: „Blieb es nicht dein, wenn es so blieb, und war es nicht, nachdem es verkauft war, in deiner Gewalt” (Apg 5,4)? Das Licht hatte keine Forderungen an Ananias gestellt; es leuchtete einfach vor und neben ihm in seiner Schönheit; er sollte nach seinem Maße darin wandeln. In dieser Weise glänzt größtenteils die moralische Herrlichkeit des Herrn Jesus; und diesem Licht gegenüber ist es unsere Pflicht, zu lernen, was Christus ist. Wir haben nicht damit zu beginnen, daß wir uns mit Angst und Furcht an seinem Schein messen, sondern wir sind berufen, mit Ruhe, Freude und Danksagung Christus in der sittlichen Vollkommenheit Seines Menschseins kennenzulernen. Freilich hat uns diese Herrlichkeit verlassen; ihr lebendiges Bild existiert auf der Erde nicht mehr. Die Evangelien liefern uns eine Beschreibung von ihr; aber nirgends erblicken wir jetzt hienieden ihren mächtigen Schein. Er, dessen Herrlichkeit in dieser Welt geoffenbart worden ist, ist zum Vater zurückgekehrt; aber obwohl Er dem Leibe nach nicht mehr hier weilt, ist Er dennoch geblieben, was Er war, und wir kennen Ihn, so wie Er uns auf den Blättern des göttlich inspirierten Wortes vor Augen gemalt ist.
Die Jünger kannten den Herrn in hervorragendem Sinne persönlich. Es war Seine Person, Seine Gegenwart, Sein Ich, das sie anzog; und das ist es gerade, was auch wir in einem höheren Maß nötig haben. Wir mögen uns bemühen, Wahrheiten bezüglich der Person des Herrn Jesus kennenzulernen, und mögen auf diesem Weg bedeutende Fortschritte machen; und doch stellen uns die Jünger, bei all unserer Erkenntnis und trotz all ihrer Unwissenheit, weit in den Schatten, wenn es sich um die Kraft einer alles beherrschenden Liebe zu Ihm handelt. Gewiß ist es gut, wenn die Zuneigungen unserer Herzen zu Ihm das Maß der Erkenntnis überschreiten, die wir uns in bezug auf Seine Person erworben haben; denn nur dann beweisen wir, daß wir Ihn wirklich verstanden haben. Glücklicherweise gibt es noch einfältige Seelen, bei denen sich diese das Maß ihrer Erkenntnis übersteigende Anhänglichkeit an die Person Christi offenbart, aber leider ist es im allgemeinen nicht so. In unseren Tagen ist meist das Gegenteil der Fall. Das Licht und die Erkenntnis überschreiten gewöhnlich das Maß dessen, was unsere Herzen für den Herrn fühlen; und diese Entdeckung ist für jeden, der noch irgendwie aufrichtige Empfindungen hat, sehr schmerzlich.
„Das Vorrecht unseres christlichen Glaubens”, schreibt ein Bruder, „und das Geheimnis seiner Kraft besteht darin, daß alles, was er besitzt, und alles, was er darbietet, in einer Person enthalten ist. Während so vieles andere sich als schwach erwiesen hat, zeigt der Glaube darin seine Kraft, daß er Christus zum Mittelpunkt besitzt, und daß er keinen Kreis ohne einen Mittelpunkt, keine Erlösung ohne einen Erlöser, keine Seligkeit ohne einen Seligmacher hat. Das ist es, was den christlichen Glauben für pilgernde und reisende Menschen passend macht, was ihn zu einem Licht macht, das heller glänzt als die Sonne. Alles andere erscheint im Vergleich dazu nur wie das Licht des Mondes, das zwar glänzt, aber kalt und unwirksam ist, während hier Licht und Leben eins sind”. - „Wie groß ist der Unterschied”, fährt jener Bruder dann fort, „ob man sich einer Sammlung von Vorschriften unterwirft oder sich zu einem liebenden Herzen flüchtet, ob man ein System annimmt oder sich fest an eine Person klammert! Mögen wir es nie aus den Augen verlieren, daß unsere Schätze in einer Person aufgespeichert sind, die nicht für ein einzelnes Geschlecht ein lebender und gegenwärtiger Lehrer und Herr war und hernach aufhörte, das zu sein, sondern die für alle Geschlechter zu allen Zeiten lebendig und gegenwärtig bleiben wird.” Das sind meines Erachtens gute und beachtenswerte Worte.