Schriften von John Gifford Bellett
Die moralische Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus als Mensch
Kol 4,6 Heb 13,8 - Sein Wort „allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt”, „Derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit”Kol 4,6 Heb 13,8 - Sein Wort „allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt”, „Derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit”
Gehen wir nun bei der Betrachtung dieses herrlichen Themas einen Schritt weiter. Die Schrift sagt: „Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt, um zu wissen, wie ihr jedem einzelnen antworten sollt” (Kol 4,6). Unsere Worte sollten in der Tat „allezeit in Gnade” sein, so daß sie anderen zum Nutzen sind und „den Hörenden Gnade darreichen” (Eph 4,29). Oft werden unsere Worte aber den Charakter der Ermahnung oder der Zurechtweisung annehmen, zuweilen auch in entschiedenem und strengem Ton, oder gar in Eifer und heiligem Zorn gesprochen werden; und so werden sie, wie die Schrift sagt, mit „Salz gewürzt” sein. Und wenn sie diese schönen Eigenschaften besitzen, d. h. „in Gnade” und doch „mit Salz gewürzt” sind, so werden sie davon zeugen, daß wir wissen, wie wir jedem einzelnen antworten sollen.
Unter allen Zügen der moralischen Vollkommenheit des Herrn Jesus tritt dieser besonders deutlich hervor, daß Er einem jeden durch Worte zu begegnen wußte, die stets, mochte der Mensch sie nun hören oder das Ohr vor ihnen verschließen, nutzbringend für die Seele waren; durch Worte, die zu Zeiten mit Salz, ja, bisweilen sogar stark mit Salz gewürzt waren. So war es z. B., wenn Er Fragen beantwortete, weniger Sein Zweck, eine genügende Erwiderung zu geben, als vielmehr das Gewissen des Fragenden zu erreichen und auf seinen Zustand einzuwirken.
Bei Seinem Schweigen und bei Seiner Weigerung, irgendeine Antwort zu geben, als Er am Ende Seiner Laufbahn vor den Juden oder Heiden, vor den Hohenpriestern oder vor Herodes und Pilatus stand, zeigt sich Sein Verhalten ebenso geziemend, wie wenn Er redete oder die an Ihn gerichteten Fragen beantwortete. Er legte in dieser Weise vor Gott Zeugnis ab, daß unter den Menschensöhnen wenigstens einer war, der verstand, daß es eine Zeit gibt zu schweigen, und eine Zeit zu reden. Auch bemerkt man eine große Verschiedenheit des Tones und der Redeweise bei dem Herrn in den mannigfaltigen Umständen Seines Lebens; und diese Verschiedenheit, ob sie unscheinbar oder auffallend war, bildet einen Teil des duftenden Wohlgeruchs, der allezeit zu Gott emporstieg. Oft war das Wort Jesu sanft und lieblich, oft bestimmt und streng; bisweilen redete Er belehrend, manchmal tadelte Er mit aller Schärfe; und hier und da machte die ruhige Belehrung plötzlich einer schonungslosen Verurteilung Platz. Denn Er betrachtete und wog alle Dinge stets ab nach ihrer moralischen Bedeutung.
Matthäus 15 hat mich in ganz besonderer Weise getroffen; es läßt diese Vollkommenheit unter verschiedenen schönen und vortrefflichen Formen hervortreten. Der Herr sieht Sich dort veranlaßt, der Reihe nach den Pharisäern, der Volksmenge, der armen, betrübten kananäischen Frau und Seinen eigenen Jüngern, sei es nach ihrer Unwissenheit oder nach ihrer Selbstsucht, zu antworten; und wir können bei dieser Gelegenheit sehen, wie Er - je nach Bedürfnissen - tadelt oder überführt, ruhig und geduldig lehrt oder eine schwache Seele mit Weisheit und Gnade zu erziehen trachtet. Sein unterschiedliches Verhalten ist immer der jeweiligen Situation angepaßt.
Die gleiche Schönheit und das gleiche geziemende Verhalten finden wir in Lukas 2, wo Er weder unterweist noch unterwiesen wird, sondern wo Er nur zuhört und fragt. Es wäre für Ihn nicht passend gewesen zu unterweisen; denn Er war ein Kind unter lauter älteren Leuten. Sich unterweisen zu lassen, hätte nicht in völliger Übereinstimmung gestanden mit dem reinen und herrlichen Licht, das Er, wie Er wußte, in Sich trug; denn man kann von Ihm in Wahrheit sagen, daß „Er verständiger war als alle seine Lehrer, und daß er mehr Einsicht hatte als die Alten” (Ps 119,99.100). Ich rede hier nicht von dem, was Er als Gott, sondern was Er als Mensch war, „erfüllt mit Weisheit”, wie es in jenem Kapitel von Ihm heißt. Er wußte von dieser Fülle der Weisheit nach der Vollkommenheit der Gnade Gebrauch zu machen; darum zeigt der Evangelist Ihn unter allen diesen Lehrern im Tempel weder lehrend noch lernend, sondern sagt einfach, daß Er ihnen zuhörte und sie fragte. „Das Kindlein aber wuchs und erstarkte, erfüllt mit Weisheit, und Gottes Gnade war auf ihm”. So redet die Schrift von Seiner Jugend; und wenn Er als Mann mit den Menschen in der Welt verkehrt, so ist Sein Wort „allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt”, wie das Wort eines Mannes, der weiß, wie er jedem zu antworten hat. Welch eine Herrlichkeit und Vollkommenheit, und zwar in völliger Übereinstimmung mit den verschiedenen Zeitabschnitten der Jugend und des Mannesalters!
Der Herr Jesus wird uns noch unter verschiedenen anderen Gesichtspunkten vor Augen gestellt. Zuweilen steht Er vor uns als der Verachtete und Geschmähte, belauert und gehaßt von Seinen Feinden; wir sehen Ihn Sich zurückziehen, um gleichsam Sein Leben vor ihren Angriffen und Verfolgungen in Sicherheit zu bringen. Bei anderen Gelegenheiten erblicken wir Ihn in Schwachheit, nur gefolgt von den Ärmsten des Volkes; auch ist Er ermüdet, hungrig und durstig, sowie abhängig von der Bedienung einiger frommer Frauen, die fühlen, daß sie Ihm alles verdanken. Ein anderes Mal begegnen wir Seiner zärtlichen Güte, Seinem Wohlwollen und Mitgefühl gegenüber der Volksmenge; oder Er vereinigt Sich mit Seinen Jüngern bei ihren Mahlzeiten oder auf ihren Reisen, indem Er Sich mit ihnen unterhält, wie es ein Mensch mit seinen Freunden tun würde. Wieder ein anderes Mal zeigt Er Sich uns in Macht und Ehre, verrichtet Wunder und läßt einige Strahlen der Herrlichkeit hervorleuchten. Obwohl Er in Seiner Person und in Seiner Stellung nichts in der Welt war als der ungelehrte und unbedeutende Sohn eines Zimmermannes, so rief Er doch unter den Menschen und zu Zeiten selbst in den Gedanken der Regenten dieser Erde eine größere Bewegung hervor, als je ein Mensch dies vermocht hat.
So stellt uns Seine Kindheit wie Sein Mannesalter, ja Sein ganzes menschliches Leben in all seiner Mannigfaltigkeit Christus vor Augen: O wenn unser Herz Ihn nur festhalten könnte! In manchen der unscheinbarsten Einzelheiten zeigt sich eine Vollkommenheit, die laut bezeugt, daß eine göttliche Hand sie aufgezeichnet hat. Welcher Schreiber, wenn er nicht durch den Heiligen Geist geleitet und überwacht wäre, hätte dieses vollkommene Gemälde entwerfen und diese feinen, zarten Züge wiedergeben können!
Im Garten Gethsemane bat Er die Jünger, mit Ihm zu wachen; aber Er forderte sie nicht auf, für Ihn zu beten. Er verlangte nach ihrem Mitgefühl; Er schätzte es in der Stunde der Schwachheit und der Angst und wünschte, daß ihre Herzen in jenen Augenblicken mit Ihm verbunden sein möchten. Ein solcher Wunsch bildet einen Teil der moralischen Herrlichkeit, die Seine Vollkommenheit als Mensch ausmachte; aber obwohl Er diesen Wunsch fühlte und ihn den Jüngern zu erkennen gab, konnte Er sie dennoch nicht auffordern, zu Seinen Gunsten vor Gott hinzutreten. Er wollte, daß sie mit Ihm fühlen möchten; aber Er konnte unmöglich von ihnen fordern, sich bei Gott für Ihn zu verwenden. Darum, wie gesagt, bittet Er sie, mit Ihm zu wachen, aber Er bittet sie nicht, für Ihn zu beten. Wenn Er kurz nachher das Wachen und das Beten vereinigt, so spricht Er von ihnen und zu ihrem Wohl, es handelt sich durchaus nicht mehr um Ihn. Er sagt: „Wachet und betet, auf daß ihr nicht in Versuchung kommet”. - Paulus konnte an seine Mitgläubigen schreiben: „Indem auch ihr durch das Flehen für uns mitwirket” (2Kor 1,11); oder: „Betet für uns; denn wir halten dafür, daß wir ein gutes Gewissen haben” (Heb 13,18). Aber das war nicht die Sprache Jesu, und ich brauche wohl nicht zu sagen, daß sie es auch nicht sein konnte. Aber ich wiederhole: die Feder, die ein solches Leben für uns aufzeichnen und uns einen solchen Charakter vor Augen malen konnte, war geführt von dem Geist Gottes Selbst. Er allein konnte so schreiben.
Der Herr Jesus tat Gutes und lieh aus, ohne etwas zurückzuerwarten.
Er gab, und Seine linke Hand wußte nicht, was die Rechte tat. Niemals,
bei keiner Gelegenheit, soviel ich weiß, erhob Er Anspruch auf die
Person oder den Dienst derer, die Er befreit oder geheilt hatte. Niemals
leitete Er aus der durch Ihn bewirkten Befreiung von irgendeinem Übel
die Verpflichtung her, Ihm zu dienen. Er liebte und heilte und rettete,
ohne eine Vergeltung zu erwarten. Er wollte nicht, daß der Gardarener,
dessen unreiner Geist sich „Legion” genannt hatte, Ihm folgte. Den
Jungen, den Er am Fuß des Berges heilte, gab Er seinem Vater zurück (Mt 17). Die Tochter des Jairus ließ Er im Kreis ihrer Familie. Den Sohn der
Witwe zu Nain gab Er der weinenden Mutter wieder. Nicht einen von diesen
allen forderte Er für Sich. Und sollte Christus wohl etwas geben, um es
wieder zurückzuerlangen? Ist Er, der vollkommene Meister, nicht der
beste Vollstrecker Seiner Worte: „Tut Gutes und leihet, ohne etwas
wieder zu hoffen” (Lk 6,35)? Die Natur der Gnade ist, andere zu
beschenken, nicht aber sich selbst zu bereichern; und Jesus kam, damit
in Ihm und in allen Seinen Wegen die Gnade in ihrem unausforschlichen
Reichtum und in der ihr eigentümlichen Herrlichkeit hervorstrahlte. Er
fand Knechte in dieser Welt; aber Er begann nicht damit, sie zu heilen,
um dann Seine Ansprüche an sie geltend zu machen. Er berief sie und
teilte ihnen Gaben mit. Sie waren die Frucht der Energie Seines Geistes;
ihre Herzen waren durch Seine Liebe ergriffen. Und als Er sie aussandte,
rief Er ihnen zu: „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebet” (
Sicher, es gibt in den Zügen eines solchen Charakters etwas, das außerhalb des Bereiches menschlicher Begriffe liegt. Dieser Gedanke drängt sich uns immer wieder von selbst auf; aber es ist schön, hinzufügen zu können, daß die moralische Herrlichkeit des Herrn oft in den einfachsten Formen ans Licht tritt, in Formen, die für die Begriffe und Sympathien des Herzens sofort verständlich sind.
So wies der Herr Jesus niemals den schwächsten Glauben ab, obwohl Er andererseits mit Freuden dem kühnsten Glauben entgegenkam und seinem Verlangen willig entsprach. Der starke Glaube, der ohne Umschweife und ohne sich zu entschuldigen in voller Zuversicht Ihm nahte, fand bei Ihm stets eine willkommene Aufnahme, während die schüchterne Seele, die Ihm nur ängstlich und verschämt zu nahen wagte, ermuntert und gesegnet wurde. Das Wort, das von den Lippen des Herrn kam, befreite den armen Aussätzigen augenblicklich von der einen schrecklichen Sache, die wie eine dunkle Wolke über seinem Leben hing. „Herr!” sagte er, „wenn du willst, kannst du mich reinigen.” „Ich will, sei gereinigt!” antwortete der Herr Jesus. Kurz nachher kann Er die Freude zum Ausdruck bringen, die Er in Seinem Herzen empfand im Blick auf den zuversichtlichen, nicht zweifelnden Glauben des heidnischen Hauptmanns. Ähnliches finden wir, wenn der kühne, ernste Glaube einiger Männer in Israel das Dach des Hauses abdeckte, in dem der Herr Sich befindet, um ihren Kranken vor Seine Füße hinabzulassen.
Wenn ein schwacher Glaube sich an den Herrn wandte, so gewährte Er die Segnung, die der schwache Glaube suchte; aber Er tadelte den Menschen, der in dieser Weise zu Ihm kam. Doch ist selbst ein solcher Verweis stets voll von Ermutigung für uns; denn er scheint uns zu fragen: „Warum machst du keinen ausgedehnteren, freieren und glücklicheren Gebrauch von mir?” Schätzten wir nur den Geber so hoch wie die Gabe, das Herz Christi so hoch wie Seine Hand, so würde uns die Beanstandung des schwachen Glaubens so köstlich sein wie die Antwort, die er hervorlockt. Und wenn der schwache Glaube in dieser Weise durch Ihn getadelt wird, wie willkommen muß dem Herrn dann ein starker Glaube sein! Wir können daher einigermaßen begreifen, welch ein lieblicher Anblick es für den Herrn sein mußte, als in dem oben erwähnten Fall die vier Träger des Gichtbrüchigen das Dach abdeckten, um in Seine Nähe zu kommen. Ja, es muß ein herrliches Schauspiel für unseren hochgelobten und göttlichen Heiland gewesen sein. Der Glaube dieser Männer erquickte Sein Herz ebenso wie der Glaube des Hauptmannes zu Kapernaum. In der Tat, wir sehen in der Person unseres Herrn Höhen der Herrlichkeit und Tiefen der Erniedrigung; und wir haben beides nötig. Der, der einst am Brunnen zu Sichar saß, ist Derselbe, der jetzt in den höchsten Himmeln Platz genommen hat. „Der hinabgestiegen ist, ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel”. Hoheit und Niedrigkeit sind Sein. Er hat einen Platz zur Rechten Gottes und doch läßt Er Sich herab, die Füße Seiner Heiligen auf der Erde zu waschen. Welche Gegensätze vereinigen sich in Ihm! Er büßt nichts von Seiner Würde und Größe ein, wenn Er Sich in Seiner unendlichen Gnade unserer Armut anpaßt; nichts mangelt Ihm, was uns dienlich sein könnte, und doch ist Er herrlich, fleckenlos und vollkommen in Sich Selbst.
Selbstsucht wird durch fortgesetztes, unverschämtes Drängen müde gemacht; so lesen wir: „Ich sage euch, wenn er auch nicht aufstehen und ihm geben wird, weil er sein Freund ist, so wird er wenigstens um seiner Unverschämtheit willen aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf” (Lk 11,8). So steht es mit dem Menschen, oder mit der Selbstsucht; anders aber steht es mit Gott, oder mit der Liebe; denn Gott in Jesaja 7,10-16 bildet das Gegenteil von dem Menschen in Lukas 11,5-13.
Der Unglaube, der sich nicht an Gott wenden will und sich weigert, eine Segnung von Ihm zu erbitten, ist es, der Gott ermüdet; nicht aber unverschämtes Anhalten und Drängen. Und diese göttliche Herrlichkeit und Vortrefflichkeit, die wir in Jesaja 7 bei Jehova finden, strahlt bei dem Herrn Jesus von neuem hervor, und das in der verschiedenen Art und Weise, wie Er den schwachen und den starken Glauben behandelt. Alles zeugt von Seiner Vollkommenheit. Aber welch einen kleinen Teil dieser ganzen Herrlichkeit können wir nur ergründen!
Wir wissen, auf welch vielfältige Weise unsere Mitpilger uns auf die Probe stellen und in Versuchung bringen, und ohne Zweifel tun auch wir das ihnen gegenüber. Wir sehen oder wir glauben an ihnen irgendeine Verkehrtheit zu sehen, und es erscheint uns schwer, den Verkehr mit ihnen noch länger aufrechtzuerhalten. Und doch kann in allem oft die Schuld allein auf unserer Seite liegen, weil wir das, was nicht mit unserem Geschmack und unserem Urteil in Übereinstimmung ist, als etwas Tadelnswertes an ihnen betrachten.
Der Herr konnte Sich nie so täuschen; und doch ließ Er Sich nie „durch das Böse überwinden”, sondern „überwand das Böse mit dem Guten”, d. h. das Böse in dem Menschen mit dem Guten, das in Ihm war. Eitelkeit, böse Laune, Gleichgültigkeit gegen andere, Eigenliebe, Unwissenheit trotz aller Mühe, die Er Sich gab, um sie zu belehren, - das alles hatte der Herr Jesus beständig von seiten Seiner Umgebung zu erdulden. Sein Leben war in einem gewissen Sinn ein Tag der „Erbitterung”, wie es die vierzig Jahre in der Wüste gewesen waren. Israel versuchte sozusagen von neuem den Herrn und erfuhr von neuem, wer Er war. Es ist in der Tat ein lieblicher Gedanke: sie reizten den Herrn, aber sie stellten dadurch nur ans Licht, wer Er war. Er litt, aber Er ertrug es mit Geduld, und nie gab Er sie auf. Er warnte und belehrte, er tadelte und verurteilte sie, aber nie wandte Er Sich von ihnen ab. Im Gegenteil, am Ende ihrer gemeinschaftlichen Wanderung ist Er ihnen näher als sie.
Wie vollkommen und vortrefflich ist das alles, und wie ermunternd für uns! In den Bemühungen, unser Gewissen zu erreichen, wird das Herz unseres Herrn nie erkalten. Wir büßen nichts ein, wenn Er uns tadelt. Und Er, der Sein Herz nicht von uns abwendet, wenn Er Sich mit unserem Gewissen beschäftigt, ist bereit, unsere Seelen wiederherzustellen, damit das Gewissen, wenn ich mich so ausdrücken darf, bald imstande ist, Seine Schule zu verlassen und wir die glückselige Freiheit in Seiner Gegenwart wiederfinden.
Weiter möchte ich bemerken, daß wir in den Eigenschaften, die der Herr, wenn auch nur gelegentlich und vorübergehend, während Seines Dienstes berufen war zu offenbaren, stets dieselbe Vollkommenheit und dieselbe moralische Herrlichkeit erblicken, wie auf dem Pfad, den Er täglich ging; so z. B. wenn Er in Matthäus 23 als Richter, oder in Matthäus 22 als Sachwalter erscheint. Doch ich kann dieses reichhaltige Thema hier nur andeuten. In jedem Schritt Jesu, in jedem Wort, in jeder Handlung zeigte sich ein Strahl Seiner Herrlichkeit; und das Auge Gottes fand in dem Leben Jesu eine größere Befriedigung als es in einer Ewigkeit von adamitischer Unschuld hätte finden können. Jesus wandelte inmitten des sittlichen Verfalls der Menschheit; und aus diesem Bereich des Elends ließ Er zum Thron Gottes ein reicheres Opfer duftenden Wohlgeruchs emporsteigen, als jemals Eden und der Adam Edens, auch wenn sie rein geblieben wären, hätten darbringen können. Die Zeit brachte keinen Wechsel bei dem Herrn hervor. Dieselben Offenbarungen Seiner Gnade und Seines Charakters vor und nach Seiner Auferstehung bestätigen diese für uns so wichtige Wahrheit. Das, was Er einst war, sagt uns, was Er in diesem Augenblick ist und was Er ewig sein wird, sowohl in Seinem Charakter als auch in Seiner Natur, sowohl im Blick auf uns als auch im Blick auf Ihn Selbst. „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit” (Heb 13,8). Die bloße Erwähnung dieser Wahrheit ist schon kostbar für uns. Bisweilen können Veränderungen uns betrüben; zu anderen Zeiten wünschen wir sie herbei. Auf verschiedenen Wegen lernen wir alle die unbeständige, unsichere Natur dessen erkennen, was das menschliche Leben ausmacht. Nicht nur die Umstände, sondern auch die gesellschaftlichen Beziehungen und Verbindungen, die Freundschaften, die Zuneigungen und Charaktere sind beständigen Veränderungen unterworfen, die uns überraschen oder betrüben. Wir eilen von einer Station des Lebens zur anderen; aber nie erkaltete Zuneigungen und makellose Grundsätze begleiten uns selten, mag es sich um uns selbst oder um unsere Reisegefährten handeln. Unser Herr und Heiland aber war nach Seiner Auferstehung derselbe, der Er vorher war, obwohl die dazwischenliegenden Ereignisse eine größere Entfernung zwischen Ihm und Seinen Jüngern hervorgerufen hatten, als das unter „Reisegefährten” je der Fall sein kann. Die Jünger hatten ihre untreuen Herzen verraten; sie verließen ihren Herrn und ergriffen in der Stunde Seiner Schwachheit und Angst die Flucht; Er aber war für sie durch den Tod gegangen, und zwar durch einen Tod, dem sich kein anderes Geschöpf hätte unterwerfen können, ohne vernichtet zu werden. Sie waren immer noch nichts anderes als arme, schwache Galiläer; Er aber war verherrlicht und mit der ganzen Macht im Himmel und auf Erden bekleidet.
Dennoch führte das alles bei dem Herrn keinen Wechsel herbei. „Weder Höhe noch Tiefe, noch irgend ein anderes Geschöpf”, um mit dem Apostel zu reden, konnte Ihn verändern. Die Liebe widerstand allem, und der Herr kehrt zu den Seinigen als Derselbe Jesus zurück, den sie von jeher gekannt hatten. Er nimmt teil an ihrer Arbeit nach Seiner Auferstehung, ja, selbst nach Seiner Himmelfahrt, wie Er es während der Tage Seines Dienstes und Seines Pilgerns mit ihnen getan hatte. Wir sehen das aus dem letzten Vers des Markusevangeliums. In der Zeit von Matthäus 14 glaubten die Jünger auf dem See ein Gespenst zu sehen und schrien vor Furcht; aber der Herr ließ sie erkennen, daß Er Selbst es war, in Gnade, und doch zugleich in Macht und Oberhoheit über die Natur. Ebenso nimmt Er in Lukas 24, nach Seiner Auferstehung, ein Stück gebratenen Fisch und von einer Honigscheibe und ißt vor ihren Augen, damit sie mit derselben Gewißheit und Herzensruhe wie früher erkennen können, daß Er es war. Auch fordert Er sie auf, Ihn zu betasten und anzusehen, und sagt ihnen, daß ein Geist nicht Fleisch und Bein habe, wie das bei Ihm der Fall war; davon konnten sie sich überzeugen.
In Johannes 3 führt Er einen Rabbi trägen Herzens ins Licht und auf den Weg der Wahrheit, und erträgt ihn mit der ganzen Geduld der Gnade. In gleicher Weise handelt Er nach Seiner Auferstehung mit den beiden Jüngern „unverständigen und trägen Herzens” auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24). In Markus 4 bringt Er die Furcht der Seinigen zum Schweigen, ehe Er sie wegen ihres Unglaubens tadelt; Er bedroht den Wind und spricht zu dem See: „Schweig, verstumme!” bevor Er zu den Jüngern sagt: „Was seid ihr so furchtsam? Wie, habt ihr keinen Glauben?” Gerade so macht Er es in Johannes 21nach Seiner Auferstehung; Er setzt Sich mit Petrus, als sei nichts vorgefallen, in voller, ungehinderter Gemeinschaft zum Essen nieder, und dann erst zieht Er den Jünger zur Rechenschaft und wirkt auf sein Gewissen ein durch die Worte: „Simon, Sohn Jonas’, hast du mich lieb?”
Bei der Begegnung des auferstandenen Herrn mit Maria Magdalena betont der Evangelist, daß Er Derselbe Jesus war, der sieben Dämonen von ihr ausgetrieben hatte; und Maria erkennt die Stimme Dessen, der sie bei ihrem Namen rief, sofort wieder. Welch eine Ähnlichkeit zwischen dem Christus in Niedrigkeit und dem Christus in Herrlichkeit, zwischen dem Heiland der Sünder und dem Herrn der zukünftigen Welt! Wie laut verkündet uns das alles, daß Er, der einst herniederstieg, sowohl hinsichtlich des Charakters als auch der persönlichen, göttlichen Herrlichkeit „derselbe ist, der auch hinaufgestiegen ist”. Auch wird Johannes, nachdem sein Herr auferstanden ist, uns als der Jünger vorgestellt, der während des Abendmahls an der Brust seines Meisters gelegen hatte. „Ich bin Jesus!” lautete ferner die Antwort des Herrn von dem erhabensten Platz des Himmels, von der Rechten des Thrones der Majestät her, als Saulus von Tarsus die Frage stellte: „Wer bist du, Herr?” (Apg 9).
Alles das sollten wir auch auf uns persönlich anwenden; wir sind dabei unmittelbar betroffen. Petrus erkannte, daß sein Meister vor und nach Seiner Auferstehung für ihn derselbe war. In Matthäus 16 tadelt ihn der Herr; aber wenige Tage nachher führt Er ihn, und zwar in völliger Harmonie, als ob nichts vorgefallen wäre, mit Sich auf den heiligen Berg. In Johannes 21 wird Petrus von neuem getadelt. Nach seiner Gewohnheit hatte er sich auf Dinge eingelassen, die seine Begriffe weit überstiegen und, auf Johannes zeigend, die Frage erhoben: „Herr, was soll aber dieser?” Und sein Meister war gezwungen, ihn mit den Worten: „Was geht es dich an”? in seine Schranken zu verweisen. Doch trotz dieser scharfen Zurechtweisung läßt der Herr ihn mit Johannes Sich nachfolgen, darf Petrus Ihn begleiten auf Seinem Weg zum Himmel. Ein zurechtgewiesener Petrus war einst mit dem Herrn auf den heiligen Berg gestiegen; und derselbe zurechtgewiesene Petrus begleitet jetzt den zum Himmel auffahrenden Herrn, indem er auf diese Weise gleichsam zum zweiten Mal den Berg der Herrlichkeit, den Berg der Verklärung, besteigt.
Welch ein mächtiger Trost liegt in diesem allen für uns! So ist Jesus, unser Herr, „derselbe gestern und heute und in Ewigkeit”, Derselbe während der Tage Seines Dienstes auf der Erde und nach Seiner Auferstehung, Derselbe jetzt im Himmel, in den Er hinaufgestiegen ist, und Derselbe in alle Ewigkeit. Und so wie Er nach wie vor Seiner Auferstehung stets denselben Charakter zeigte und Sich in derselben Gnade offenbarte, so erfüllt Er auch alle Verheißungen, die Er Seinen Jüngern hinterlassen hat.