Ich habe schon gesagt, daß der lehrhafte Teil des Briefes bei Kapitel 4 Vers 16 endet. Wir wollen nun bis zum Ende des Kapitels lesen. Zuvor laßt uns aber die Lehre des Briefes kurz wiederholen. Das erste große Charakteristikum, das wir über die Berufung der Versammlung hören, ist, daß es eine Berufung in Christo ist. So finden wir, daß in Kapitel 1 das Wort „in“ sehr häufig vorkommt. „Gesegnet mit jeder geistlichen Segnung ... in Christo“, „begnadigt in dem Geliebten“ usw. Es handelt sich dabei nicht nur um gegenwärtige Besitztümer, die wir in Christus haben, sondern unser Anteil an Ihm bestand schon vor Grundlegung der Welt (Vers 4) und wird weiterbestehen, wenn die Welt vergangen ist (Vers 11). Man mag einwenden, daß all die Erlösten alles der Unum-schränktheit Gottes verdanken, und so ist es auch - sogar bei den Engeln, die ihren ersten Zustand bewahrt haben. Aber der Charakter der Erwählung der Versammlung ist nicht eine rein abstrakte Sache, sondern eine Erwählung „in Ihm“; wir sind für immer mit Ihm verbunden.
Die Versammlung befindet sich nach Gottes Gedanken in der innigsten Verbindung mit Christus schon vor den Uranfängen der Erde, und das wird so bleiben, auch wenn diese Welt nicht mehr besteht. Dies ist die erste Wahrheit im Blick auf die Versammlung. So etwas wird nicht von Israel gesagt. Es ist die besondere Berufung der Versammlung, mit Christus verbunden und vereinigt zu sein. Diese Versammlung war „verborgen in Gott“. Sie war sozusagen Sein Herzensgeheimnis, das Geheimnis, das Seinem Herzen am nächsten lag, tief verborgen in Seinen Ratschlüssen. Wir finden nicht, daß von den edelsten Persönlichkeiten des alten Bundes in solch geheimnisvoller Schönheit und Vertrautheit von Erwählung gesprochen wird. Dieses Geheimnis war bis zu dem Dienst des Apostels Paulus von Ewigkeit her und alle Zeitalter hindurch verborgen in Gott.
Der Brief an die Epheser ist beispielhaft für eine ganz besondere Anhäufung von Ausdrücken. Die Sprache paßt sich den Gedanken des Heiligen Geistes an und wächst gleichsam an ihnen empor. Du wirst sicher zugeben, daß du einen alles beherrschenden Gedanken, der dich förmlich übersprudeln läßt, fort und fort weitersagen wirst, daß du immer mehr Worte darüber machst und dabei richtig beredt wirst. Denn das Herz, nicht der Kopf, ist der Ursprung der Beredtsamkeit. Das ist die Sprachform des Heiligen Geistes, wenn Er in diesem Brief das Geheimnis hervorbringt. Wir hören von dem „Preis seiner Herrlichkeit“, den „Reichtümern seiner Herrlichkeit“, dem „Preis der Herrlichkeit seiner Gnade“ und dem „überschwenglichen Reichtum seiner Gnade“. So finden wir es in Kapitel 2, wenn Gott die Gegenstände Seiner Berufung näher beschreibt. Wenn Er ihren Todeszustand aufzeigt, folgt ein treffender Ausdruck dem andern. Und wenn dir gezeigt wird, wie nahe du zu Gott gebracht worden bist, dann ergeht Sich der Geist in mehrfachen Beschreibungen dessen, was du jetzt durch Gnade bist.
Die Vollendung der Offenbarung wartete auf Paulus’ Dienst, auf den Heidenapostel. Als er das Geheimnis offenbarte, war es das letzte in den Offenbarungen Gottes, und es war die Krönung aller himmlischen Ratschlüsse. Stellen wir einen kleinen Vergleich an. Wie war es damals mit der Reihenfolge in der Schöpfung? Eins nach dem andern wurde in seiner Schönheit erschaffen, und zuletzt kam der Mensch. Er wurde in den Garten versetzt, und was war dort seine Stellung? Er war dort zu Hause. Als die Tiere zu ihm gebracht wurden, damit er ihnen Namen gäbe, war er nicht nur an dem ihm eigenen Platz, sondern er erhält die Herrschaft über alles, was sich vor ihm befindet. Er war in seinem Herrschaftsbereich. Aber war das alles? Es verblieb noch eines, und das war das Wichtigste: Er erhielt sein Weib. Es war das Letzte, was ihm geoffenbart wurde, und zugleich der Höhepunkt seines Glücks. Es öffnete ihm die Lippen. „Aus der Fülle des Herzens redet der Mund.“ Schon vorher war Adam glücklich, aber sein Glück war nicht überfließend. Als ihm die Frau gegeben wurde, war das der Höhepunkt seiner Freude. So sollten wir darauf vorbereitet sein, daß die Versammlung auf den Dienst des Apostels Paulus wartete. Ich sollte damit rechnen, daß der letzte Dienst das Höchste in den Ratschlüssen Gottes hervorbringt.
Dasselbe Prinzip zeigt sich in der Geschichte Jerusalems. Als Israel nach Kanaan kam, eroberte Josua das verheißene Land durch das Schwert. So ging es weiter in den Tagen der Richter. Zur Zeit des Königs Saul waren sie noch im Besitz des Landes. Während dieser ganzen Zeit aber war Jerusalem eine Stadt der Jebusiter. Diese begünstigte Stadt, diese Hauptstadt innerhalb des Landes - diese Königin, dazu bestimmt, den Blick Gottes auf sich zu ziehen - sie war in dem Besitz der Heiden. Erst in den Tagen Davids, des Königs nach Gottes Willen, wurde es der Hauptanziehungspunkt für das ganze Land, das Heiligtum, der Thron, der Ort, wohin die Stämme zogen. Es war die Hauptsache, und es kam zuletzt. Erhalten wir da nicht ein Bild von der Wahrheit des Epheserbriefes? Gott liebt Analogien. Was sind Gleichnisse anderes als göttliche Analogien? So erscheint am Ende der Bibel das Weib wieder, das „Weib des Lammes“ in Gestalt des „neuen Jerusalem“, als die letzte und höchste der göttlichen Offenbarungen. Die Siege sind dann errungen, das Königtum in Würde eingesetzt. Das Allerletzte in der Bibel ist die Versammlung, wie sie vom Himmel herabkommt, um sich in all ihrer Schönheit zu zeigen (Off 21). So kann ich Paulus zuhören, ohne ihn der Arroganz zu verdächtigen, wenn er sagt, daß er das Wort Gottes zu vollenden hatte.
Die Offenbarung der Versammlung ist die reichste Entfaltung Gottes in Gnade, Herrlichkeit und Weisheit. Die Berufung Israels war schon eine reiche Entfaltung von Ihm. Gott kann nicht Seine Hand an irgend etwas legen, ohne daß Er Sich auf diese Weise offenbart. Wenn wir aber dann dem Geheimnis der Versammlung lauschen dürfen, die der Leib und die Braut Christi ist, da lernen wir, daß Gnade in ihrer Herrlichkeit, in ihren Reichtümern, in ihren über-schwenglichen Reichtümern offenbart worden ist, und zwar vor der ganzen Schöpfung. Die Fürstentümer und Gewalten in den himmlischen Örtern haben das gehört und gesehen. All dies ist von großer Schlichtheit gekennzeichnet. Ist es nicht so, daß Herrlichkeit und Schlichtheit sich gegenseitig bedingen? Es wäre nicht in seiner Schlichtheit göttlich, wenn es nicht unaussprechlich herrlich wäre. Wenn es als Tiefstes im Herzen Gottes schlummerte, so kommt darin der Höhepunkt an Gnade, Herrlichkeit und Weisheit zum Ausdruck. Fürstentümer und Gewalten halten den Atem an, wenn sie von der Berufung der Versammlung hören.
Was sind denn nun ihre Namen? Sie wird der Leib und die Braut Christi genannt; und was bedeuten diese Bezeichnungen? Der Leib bringt zum Ausdruck, daß die Versammlung auf den Platz höchster Würde versetzt ist. Als die Braut ist sie Seinem Herzen am nächsten. Als Leib Christi ist sie mit der höchsten Würde bekleidet. Alles, was wir jetzt auf Erden sehen und was einst sein wird, wird ihr unterstellt sein. Der Herr wird über allem thronen; und die Versammlung, Sein Leib, ist „die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“. Als Braut wird sie in Seinen Zuneigungen den ersten Platz einnehmen. Dem Menschen, den du liebst, kannst du nicht nahe genug sein. Als die Braut Christi ist sie Seinem Herzen nahegebracht. Die Versammlung soll dem Herzen Christi das sein, was Eva für Adam war. Kapitel 5 ist gleichsam eine Äußerung des „zweiten Adam“ über seine Braut. „Denn wir sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleische und von seinen Gebeinen“ ist ein Echo des Entzückens des ersten Mannes über die erste Frau.
Wenn wir einen Menschen lieben, möchten wir ihn gern in Würde und Herrlichkeit sehen. Wir befinden uns auf dem Platz höchster Würde, und als die Braut in allernächster Nähe Seiner Liebe. Wir mögen überrascht sein, wenn ich sage, daß der Herr Jesus nicht die Offenbarung Gottes vollendete. Wenn wir die vier Evangelien lesen, erscheinen sie uns dann als das vollständige Bild der erlösenden Gnade? Der Dienst des Herrn schuf eine Übergangszeit. Bis zu Seinem Tode hatte Er noch nicht die Möglichkeit, das volle Evangelium der Gnade zu offenbaren. Auch fehlte Ihm das Mittel, die Versammlung zu bilden. Wie kann man etwas ohne das entsprechende Mittel hervorbringen? Der Heilige Geist war noch nicht da, und das Haupt (Christus) war noch nicht verherrlicht. Der Anfang der Bibel, des Buches Gottes, bereitet mich auf das Geheimnis vor, und das Ende des Buches macht das Bild bei mir vollständig und versiegelt es in meinem Verständnis.
Im Brief an die Epheser geht es aber nicht nur um die Versammlung als Ganzes, sondern auch um die Heiligen persönlich (Kapitel 5 und 6). Wir verlieren nicht unsere Persönlichkeit. Das will uns Kapitel 4, 11 sagen. Das ist eine individuelle Sache. Die Gaben gehen dich persönlich an. „Und er hat die einen gegeben als Apostel und andere als Propheten und andere als Evangelisten und andere als Hirten und Lehrer, zur Vollendung der Heiligen.“ Es besteht zwischen Christus und mir eine tiefe Vertrautheit in persönlicher Beziehung, die niemand jemals anzutasten vermag. So betrifft die erste Aufgabe der Gaben jeden einzelnen persönlich: „zur Vollendung der Heiligen“. Die vollendeten Heiligen sollen sich dann an das Werk des Dienstes und an die Auferbauung des Leibes Christi begeben. Als Paulus im Korintherbrief das Geheimnis vorzustellen hatte, sagt er daher: „Wir reden Weisheit unter den Vollkommenen.“ Wenn wir an praktische Einzelheiten in unserem Kapitel kommen, werden wir persönlich angesprochen: „... daß ihr forthin nicht wandelt wie auch die (übrigen) Nationen“ (Vers 17) und so weiter ... da sie alle Empfindung verloren haben“ (Vers 19), ein Ausdruck, der ein gebrandmarktes und gegenüber der eigenen Lüsternheit verhärtetes Gewissen anzeigt. „Ihr aber habt den Christus nicht also gelernt, wenn ihr anders ihn gehört habt und in ihm gelehrt worden seid, wie die Wahrheit in dem Jesus ist.“
Daß hier das Wort „Jesus“ eingeführt wird, deutet auf persönliche Beziehung. Liebst du nicht eine persönliche Unterweisung? Erfüllt es dich nicht mit Wonne, daran zu denken, daß zwischen dir und Christus eine Gemeinsamkeit besteht, in die niemand sich einmischen kann? Betrachte das Johannes-Evangelium als ein wunderschönes Bild von dem Sünder zusammen mit Christus. Dort finden wir den Herrn nicht in Gesellschaft vieler Menschen; Er wirkt hier auch nicht mit Aposteln zusammen. Er beschäftigt sich nur mit dem Sünder. Es ist sehr schön zu sehen, wie der Heilige Geist sich weigert, den Einzelnen aus dem Auge zu verlieren. „Und angezogen habt den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in Gerechtigkeit“. Dies ist eine viel reichere Schöpfung als die erste. Adam war der einzige in der ersten Schöpfung, der mit Verständnis begabt war. Aber man hätte nicht sagen können, er sei „nach Gott in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit“ geschaffen gewesen.
Wir werden ermahnt, die Lüge abzulegen, da wir Glieder voneinander sind. „Zürnet, und sündiget nicht.“ Zorn kann ein ebenso heiliges Gefühl sein wie irgendein anderes; aber halte ihn nicht so fest, daß er in ein fleischliches Gefühl entartet. „Gebet nicht Raum dem Teufel“ und „Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr, sondern arbeite vielmehr, ... auf daß er dem Dürftigen mitzuteilen habe.“ Das ist sehr schön. Der Betreffende soll nicht nur aufhören zu stehlen, sondern zu einem Arbeiter für andere werden. „Kein faules Wort gehe aus eurem Munde ... Und betrübet nicht den Heiligen Geist Gottes“. Unsere Werke werden betrachtet und unsere Worte, und jetzt unser Charakter und unser Temperament.
Bist du nicht dankbar dafür, daß das Christentum dir für jede einzelne Kleinigkeit eine Verhaltensanweisung gibt? Aber was für eine Würde! Du kannst mit deinen Lippen den Hörern Gnade darreichen, und deine Gedanken können den Heiligen Geist Gottes entweder erfreuen oder betrüben.
„ … einander vergebend, gleichwie auch Gott in Christo euch vergeben hat“. Dies ist eine Umkehrung gegenüber dem sogenannten „Vaterunser“. Dort werden wir gelehrt, daß Gott sich nach uns richten will: „ ... vergib ... wie auch wir vergeben“. Hier ist es genau umgekehrt. Ich soll mich nach Gottes Maßstab ausrichten: „vergebend, wie auch Gott in Christo euch vergeben hat“. Das zeigt, wie wir schon vorher bemerkt haben, daß der Dienst des Herrn einer Übergangszeit angehörte; er war noch nicht zur vollen Herrlichkeit der Erlösung gekommen. Nun gibt es einen Dienst für die Vervollkommnung jedes einzelnen von uns zu unserer Auferbauung als Leib Christi.