John Gifford Bellet
Schriften von J.G. Bellet
Die moralische Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus als Mensch
Pred 3,6 - „Aufbewahren hat seine Zeit und Fortwerfen hat seine Zeit”Pred 3,6 - „Aufbewahren hat seine Zeit und Fortwerfen hat seine Zeit”
„Aufbewahren hat seine Zeit, und Fortwerfen hat seine Zeit”, sagt der Prediger Salomo (Kap. 3, 6). Der Herr Jesus wußte zur passenden Zeit aufzubewahren und zur passenden Zeit fortzuwerfen.
Wie freigebig das Herz und die Hand im Dienst Gottes auch sein mögen, es wird in diesem Dienst doch nie eine Vergeudung oder Verschwendung geben. „Von dir kommt alles”, sagt David zum Herrn, „und aus deiner Hand haben wir dir gegeben” (1Chr 29,14).
Das Vieh auf tausend Bergen ist Sein, der Erdkreis und seine Fülle ist Sein (Ps 50). Der Pharao aber bezeichnete das Verlangen der Kinder Israel, ihrem Gott zu opfern, als Trägheit; und die Jünger betrachteten die dreihundert Denare, die zur Salbung des Leibes des Herrn Jesus verwendet wurden, als Verschwendung (Mt 26,6-13; Joh 12,1-8). Aber dem Herrn das Seinige zu geben: die Ehre und das Opfer, die Liebe des Herzens, die Arbeit der Hände, oder die Güter des Hauses, das ist weder Trägheit noch Verschwendung. Die Erstattung dieser Dinge an Gott ist unsere erste Pflicht. Hierbei möchte ich noch einen Augenblick verweilen.
Aus Ägypten auszugehen, ist nicht Trägheit, und ein Fläschchen kostbarer Salbe auf das Haupt des Herrn Jesus ausschütten, ist nicht Verschwendung. Und doch sehen wir, daß eine gewisse Art, zu rechnen, die sich unter den Kindern dieser Welt, und leider nur zu oft auch unter den Kindern Gottes findet, solche Ausdrücke benutzt. Wenn jemand irdische Vorteile ausschlägt und günstige Gelegenheiten für sein Fortkommen in dieser Welt versäumt, weil er verstanden hat, in Gemeinschaft mit einem verworfenen Heiland seinen Weg zu gehen, dann ist die Zahl derer nicht gering, die das als „Trägheit” und „Verschwendung” betrachten. Man hätte, meinen sie, die Vorteile, die man besaß, festhalten, und die günstigen Gelegenheiten ergreifen und ausnutzen sollen, um sie dann für den Herrn zu verwerten. Doch alle, die eine solche Sprache führen, befinden sich in einem groben Irrtum. Nach ihrer Meinung sollte die äußere Stellung, sowie der damit verbundene Einfluß als ein Vorrecht betrachtet, ja, sogar als eine „Gabe zum Nutzen, zur Erbauung und zum Segen” für andere verwendet werden (vgl. 1Kor 12,7 ff.; 14, 1-3. 12 ff.). Aber ein von den Menschen verworfener Christus wird, wenn die Seele Ihn in geistlicher Weise erkannt hat, uns eine ganz andere Belehrung geben. Die Stellung in dieser Welt, die weltlichen Vorrechte und die so sehr empfohlenen günstigen Gelegenheiten bilden jenes Ägypten, das Moses verließ. „Er weigerte sich, ein Sohn der Tochter Pharaos zu heißen”. Die Schätze Ägyptens waren nach seinem Urteil kein Reichtum; er konnte im Dienst des Herrn keinen Gebrauch von ihnen machen. Und so verließ er sie, und der Herr begegnete ihm und bediente Sich seiner hernach, und zwar nicht um Ägypten mit seinen Schätzen in Kredit zu bringen, sondern um Sein Volk aus dem Diensthause Ägyptens zu befreien. Dieser Verzicht auf alles, von dem Moses uns ein so schönes Beispiel liefert, muß jedoch in der Erkenntnis eines verworfenen Heilandes und im Glauben an Ihn wurzeln; denn sonst würde ihm sein besonderer Charakter, Seine wahre Schönheit fehlen. Wenn man auf einen bloßen religiösen Grundsatz hin handelt, um sich eine Gerechtigkeit zu erwirken oder ein Verdienst zu schaffen, so kann man mit Recht behaupten, daß das schlechter ist als Trägheit und Verschwendung. In diesem Fall hat Satan viel eher einen Vorteil über uns erlangt, als daß wir einen Sieg über die Welt davongetragen hätten. Aber wenn jene Verzichtleistung im Glauben und aus Liebe zu dem verworfenen Herrn geschieht, in dem Bewußtsein und der Erkenntnis des Verhältnisses des Herrn zu dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf, dann ist es ein angenehmes Opfer für Gott, ein wahrer Gottesdienst.
Den Menschen auf Kosten der Wahrheit des Wortes Gottes zu dienen, ist kein Christentum, wenn auch diejenigen, die so handeln, „Wohltäter” genannt werden mögen. Wahres Christentum hat ebensowohl die Ehre Gottes wie das Glück der Menschen im Auge; und in dem Maße wie wir das aus dem Auge verlieren, werden wir bemüht sein, viele Dinge, die wirklich der Ausdruck eines heiligen, geweihten und verständigen Dienstes für Christus sind, als Trägheit und Verschwendung zu betrachten. Daß das so ist, zeigt uns die Rechtfertigung, die der Herr der Frau, die ihre kostbare Salbe auf Sein Haupt ausschüttete, zuteil werden ließ (Mt 26). Wir haben in all unserem Tun auf die Ehre Gottes Rücksicht zu nehmen, mögen auch die Menschen ihre Anerkennung allem versagen, was nicht gerade der guten Ordnung in der Welt dienlich und dem Wohl des Nächsten förderlich ist. Der Herr entsprach in jeder Beziehung den Rechten Gottes in dieser selbstsüchtigen Welt, obwohl Er, wie wir wissen, die Ansprüche des Nächsten an Seine Person völlig anerkannte. Er wußte zur passenden Zeit „fortzuwerfen” und zur passenden Zeit „aufzubewahren”. „Was machet ihr dem Weibe Mühe? denn sie hat ein gutes Werk an mir getan”, sagte Er, als die Frau von den Jüngern getadelt wurde, weil sie das Fläschchen kostbarer Salbe über Ihn ausgeschüttet hatte; aber nach der Speisung von Tausenden rief Er denselben Jüngern zu: „Sammelt die übriggebliebenen Brocken, auf daß nichts umkomme” (Joh 6,12).
Das war in der Tat eine Beobachtung der göttlichen Regel: „Aufbewahren hat seine Zeit, und Fortwerfen hat seine Zeit”. Wenn einerseits der freigebige Dienst des Herzens oder der Hand, der zur Ehre Gottes geschieht, keine Verschwendung ist, so sind andererseits die Krümchen der Speise des Menschen geheiligt und dürfen nicht weggeworfen werden. Derselbe Herr, der bei der einen Gelegenheit den Aufwand von dreihundert Denaren rechtfertigte, erlaubte in dem anderen Fall nicht, daß die Brocken von fünf Gerstenbroten am Boden liegen blieben. In Seinen Augen waren diese Stücke heilig. Sie waren die Lebensspeise, das Kraut des Feldes, das Gott dem Menschen zu seinem Unterhalt gegeben hatte; und das Leben ist eine geheiligte Sache. Gott ist der Gott der Lebendigen. Er hatte einst zu dem Menschen gesagt: „Ich habe euch gegeben alles samenbringende Kraut . . . und jeden Baum, an welchem samenbringende Baumfrucht ist: es soll euch zur Speise sein” (1Mo 1,29); und darum wollte der Herr Jesus es geheiligt wissen. Ferner wurde denen, die unter Gesetz waren, das Gebot gegeben: „Wenn du eine Stadt viele Tage belagern wirst, indem du Krieg wider sie führst, um sie einzunehmen, so sollst du ihre Bäume nicht verderben, indem du die Axt gegen sie schwingst (denn du kannst davon essen), und sollst sie nicht abhauen; denn ist der Baum des Feldes ein Mensch, daß er vor dir in Belagerung kommen sollte? Nur die Bäume, von denen du weißt, daß sie keine Bäume sind, von denen man ißt, die darfst du verderben und abhauen” (5Mo 20,19.20). Es würde Verschwendung und Entweihung gewesen sein, wenn mit dem, was Gott zum Lebensunterhalt gegeben hatte, Mißbrauch getrieben worden wäre; darum wollte der Herr Jesus in Reinheit, ja, in der vollkommenen Ausführung der Anordnung Gottes, nicht ein einziges Krümchen am Boden liegen lassen. „Sammelt die übriggebliebenen Brocken, auf daß nichts umkomme.”
Das sind nur geringfügige Dinge, könnte man einwenden; aber wir sehen daraus, daß alle Umstände des menschlichen Lebens, in denen der Herr Jesus Sich befunden hat, wie flüchtig und unscheinbar sie auch scheinen mögen, durch einen Strahl jener moralischen Herrlichkeit verziert wurden, die stets den Pfad erleuchtete, den Seine heiligen Füße betraten. Das menschliche Auge war unfähig, Seinen Spuren zu folgen; aber alles stieg zu Gott empor als ein duftender Wohlgeruch, als ein angenehmes Schlachtopfer, ein Friedensopfer, das Speisopfer des Heiligtums.
Es muß noch bemerkt werden, daß der Herr andere Personen nicht, wie das bei uns leider oft der Fall ist, mit Rücksicht auf Sich Selbst beurteilte. Wir sind von Natur geneigt, andere nach der Art und Weise zu beurteilen, wie sie uns begegnen, indem wir ihr Interesse für uns zu dem Maßstabe ihres Charakters und ihres Werkes machen. Doch der Herr handelte nicht in dieser Weise. Gott ist ein Gott der Erkenntnis; Er wägt alle Handlungen richtig ab, denn Er beurteilt sie alle vollkommen und versteht sie in ihrer sittlichen Bedeutung. Und Jesus Christus, das Ebenbild des Gottes des Wissens, handelte ebenso während der Tage Seines Dienstes hier auf der Erde. Lukas 11 liefert uns ein Beispiel dafür. Bei dem Pharisäer, der den Herrn zu Tische lud, zeigte sich ein Schein von Freundlichkeit und gutem Willen; aber der Herr Jesus war der „Gott des Wissens”, und als solcher beurteilte Er diese Handlung nach ihrem wahren Charakter und ihrer sittlichen Bedeutung.
Der Honig der Höflichkeit, der geschätzte Bestandteil im gesellschaftlichen Leben dieser Welt, konnte den Geschmack und das Urteil Christi nicht verderben. Er erkannte alles an, was vortrefflich war. Die Höflichkeit, die Ihn einlud, beeinflußte das Urteil Dessen nicht, der die Waagschalen und Gewichte des Heiligtums Gottes in Seiner Hand hielt. Es war der Gott des Wissens, dem die Höflichkeit der Welt bei jener Gelegenheit begegnen mußte; und sie konnte nicht vor Ihm bestehen. Eine beherzigenswerte Lehre für uns!
Die Einladung barg einen wohlüberlegten Plan in sich. Kaum ist der Herr in das Haus eingetreten, so sehen wir den Hausherrn eher in der Rolle des Pharisäers als des Gastgebers. Er drückt sein Befremden darüber aus, daß der Herr nicht vor dem Mahl Seine Hände gewaschen habe; und die Haltung, die er so zu Anfang annimmt, zeigt sich am Ende in ihrer vollen Stärke. Der Herr begegnet diesem Benehmen in durchaus angemessener Weise; denn Er wägt, wie gesagt, alles ab als der Gott des Wissens. Man mag vielleicht denken, die Ihm erwiesene Höflichkeit hätte Ihm Schweigen auferlegen müssen; aber der Herr Jesus konnte den Pharisäer nicht nur mit Rücksicht auf Sich Selbst betrachten. Schmeichelei konnte Sein Urteil nicht beeinflussen. Er deckt auf und bestraft, und das Ende der ganzen Szene rechtfertigt Ihn. „Als Er aber dies zu ihnen sagte, fingen die Schriftgelehrten und die Pharisäer an, hart auf Ihn einzudringen und Ihn über vieles auszufragen; und sie lauerten auf Ihn, etwas aus Seinem Munde zu erjagen” (Lk 11,53.54). Ganz anders ist das Verhalten des Herrn im Hause eines anderen Pharisäers, der Ihn ebenfalls zu Tisch geladen hatte (siehe Lk 7); denn Simon verfolgte keine Nebenabsichten mit seiner Einladung. Freilich zeigte auch er sich als Pharisäer, indem er die arme Sünderin aus der Stadt bei sich selbst verurteilte und seinen Gast tadelte, weil dieser deren Annäherung duldete; aber der bloße Schein kann einem gerechten Urteil niemals als Grundlage dienen. Oft haben die gleichen Worte, je nach den Lippen, die sie aussprechen, einen ganz verschiedenen Sinn. Obwohl deshalb der Herr, der alles vollkommen Gott gemäß abwägt, Simon tadelt und vor Sich Selbst bloßstellt, nennt Er ihn doch bei seinem Namen und verläßt sein Haus, wie ein Gast es verlassen sollte. Er macht einen Unterschied zwischen dem Pharisäer in Lukas 7 und dem in Lukas 11, obwohl Er bei beiden zu Tische saß.
Ebenso zeigt Sich der Herr Seinem Jünger Petrus gegenüber. In Matthäus 16 gibt Petrus seiner zärtlichen Liebe zum Herrn Ausdruck, indem er sagt: „[Gott] behüte dich, Herr! dies wird dir nicht widerfahren!” Aber der Herr Jesus beurteilt die Worte des Petrus nur nach ihrem moralischen Wert. Uns erscheint es schwer, so zu handeln, wenn man sich bemüht, freundlich zu uns zu sein. Eine bloß liebenswürdige Natur würde nicht das ernste: „Gehe hinter mich, Satan”! als Antwort auf diese Worte des Petrus gegeben haben. Aber ich wiederhole, der Herr betrachtete diese Worte Seines Jüngers nicht einfach als den Ausdruck eines guten Willens und einer persönlichen Zuneigung zu Seiner Person, sondern Er richtete sie, wog sie ab in der Gegenwart Gottes und fand sofort, daß sie vom Feind herrührten; denn er, der sich in einen „Engel des Lichts” verwandeln kann, verbirgt sich oft hinter höflichen und freundlichen Worten.
In derselben Weise handelte der Herr mit Thomas in Johannes 20. Thomas hatte Ihm mit dem Ausruf „Mein Herr und mein Gott!” gehuldigt. Doch der Herr Jesus war Selbst durch eine solche Huldigung nicht von der sittlichen Höhe herabzubringen, auf der Er stand, und von der aus Er alles hörte und betrachtete. Ohne Zweifel waren die Worte des Jüngers aufrichtig gemeint und kamen aus einem Herzen, das von Gott erleuchtet war und Reue gegenüber dem auferstandenen Heiland fühlte, und anstatt noch länger zu zweifeln, seine Zweifel fahren ließ und anbetete. Aber Thomas hatte sich so lange wie möglich ferngehalten; er hatte das Maß überschritten. Zwar waren alle Jünger bezüglich der Auferstehung ungläubig gewesen; aber Thomas hatte erklärt, so lange im Unglauben verharren zu wollen, bis er durch sein Gefühl und seine Augen vom Gegenteil überzeugt werden würde. Das war sein moralischer Zustand gewesen. Der Herr Jesus verurteilt das und stellt Thomas, wie einst den Petrus, an seinen wahren Platz, indem Er zu ihm sagt: „Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig sind, die nicht gesehen und geglaubt haben!” - Hätten wir uns in einem ähnlichen Fall nicht sehr gewundert? Gewiß hätten wir dem guten Eindruck, den der gute Wille des Petrus und die Huldigung des Thomas auf uns gemacht hätten, nicht widerstehen können. Aber unser vollkommener Lehrer stand nicht für Sich Selbst da, sondern für Gott und für Seine Wahrheit. So mochten die Israeliten zur Zeit Elis der Bundeslade alle Ehre erweisen und sie auf das Schlachtfeld hinausbringen (1Sam 4) und dadurch gleichsam ausdrücken, daß in ihrer Gegenwart nun alles gut gehen müsse; aber das genügte dem Gott Israels nicht. Er hatte ganz andere Gedanken. Denn obwohl die Lade in der Mitte Israels war, wurde das Volk doch von den Philistern geschlagen. Ebenso wurden Petrus und Thomas getadelt, obwohl der Herr Jesus, der immer noch der Gott Israels war, durch sie geehrt wurde.