Schriften von John Gifford Bellett
Die Welt vor der Flut und die Patriarchen
1. Mose 28-37 - Jakob1. Mose 28-37 - Jakob
„Durch Glauben segnete Jakob sterbend einen jeden der Söhne Josephs und betete an über der
Spitze seines Stabes" (Heb 11,21).
Das Leben Jakobs ist voll mannigfaltiger Tätigkeit. Es hat einen ganz anderen Charakter als dasjenige seines Vaters Isaak. Die Weisheit Gottes gibt hierfür leicht die Erklärung, da ja der Zusammenstellung dieser Geschichten eine göttliche Absicht zugrunde liegt, ebenso wie ihrer Erzählung göttliche Wahrhaftigkeit innewohnt. Wir werden mit tatsächlichen Ereignissen und Umständen bekanntgemacht und zugleich in göttlichen Geheimnissen unterwiesen.
Die Auserwählung und Berufung Gottes in der unumschränkten Ausübung Seiner Gnade fand in Abraham ihre Darstellung. Die Sohnschaft, zu der uns die Auserwählung führt
(denn wir sind zuvorbestimmt zur Sohnschaft), trat dann in Isaak hervor. Und nun wird uns zur rechten Zeit und am rechten Platze die Zucht oder Erziehung eines Sohnes (denn wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt)? in Jakob vorgestellt.
Jakob war so gut ein Sohn wie Isaak, aber er befand sich in der Schule und unter der Zucht, nicht wie Isaak unter der häuslichen Obhut und Erziehung seines Vaters. Er steht nicht so sehr vor uns als einer, dem die Kenntnis und der Genuß der Vorrechte und Würden eines Sohnes und Erben gegeben werden, sondern vielmehr als ein Mann, der die Liebe, die tätige Liebe, die züchtigt und bessert, kennenlernen sollte. Doch wir dürfen nicht vergessen, daß wir niemals wirklicher Kinder sind, als wenn wir uns unter einer solchen Zucht befinden. Die Zucht setzt die Kindschaft voraus. Die Ermahnung oder Züchtigung spricht zu uns als zu Söhnen. Die Züchtigung mag im Vordergründe stehen, aber hinter ihr verbirgt sich die väterliche Liebe.
Ich schicke indes diese Bemerkung über Jakob, als Sohn unter der Zucht, nur als ein allgemeines Kennzeichen seiner Geschichte voraus. Was ihre mannigfaltigen und ergreifenden
Einzelheiten betrifft, so können wir sie in vier Zeitabschnitte einteilen:
-
Seine Geburt und sein Leben in seines Vaters Haus im
Lande Kanaan. -
Seine Reise nach Paddan-Aram und sein zwanzigjähriger
Aufenthalt dort im Hause Labans, des Syrers. -
Seine Rückreise von Paddan-Aram und sein zweiter Aufenthalt in Kanaan.
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Seine Reise von Kanaan nach Ägypten und sein Aufenthalt und Tod daselbst.
Der Leser wolle dies gleichsam als ein einfaches und sich von selbst ergebendes Inhaltsverzeichnis ansehen, dem ich in diesen Betrachtungen folgen werde.
Der erste Teil der Geschichte Jakobs, seine Geburt und sein Leben im Hause seines Vaters im Lande Kanaan, bis er ungefähr 70 Jahre alt war,12 ist in der Betrachtung über „Isaak" bereits behandelt worden. Dies war notwendig, weil dieser Teil in jenen Kapiteln des 1. Buches Mose enthalten ist, in denen Isaak die Hauptperson bildet.
Mit Kapitel 28 beginnt der zweite Teil der Geschichte Jakobs, und von da an sehen wir ihn unter der Zucht.
Auf seiner Reise nach Paddan, aber noch bevor er die Grenzen Kanaans verließ, begegnet ihm der Herr in Lus. Das war nicht seines Vaters Schlafgemach, in welchem er gesündigt hatte, sondern ein einsamer, schrecklicher und entlegener Ort, wohin die Sünde ihn vertrieb und wo die Zucht seines himmlischen Vaters sich mit ihm beschäftigte. An einem solchen Ort kann Gott uns begegnen. Er kann uns nicht auf dem Schauplatz unserer Vergehungen erscheinen, wohl aber an dem Ort Seiner Züchtigung. Und das war Lus für Jakob. Es war ein trostloser Ort. Die Steine des Ortes bildeten sein Kopfkissen, und der Himmel über ihm seine Decke. Er hatte keinen Freund, der ihn begleitete und tröstete. Er besaß nichts als seinen Stab. Doch der Gott seiner Väter kommt dort zu ihm. Er verändert nicht die Umstände Jakobs, noch hebt er die Züchtigung auf. Vielmehr läßt Er ihn seinen freundlosen Weg fortsetzen, um an dessen Ende zwanzig Jahre harten Dienstes unter der Hand eines Fremden, verbunden mit mancher Ungerechtigkeit und Kränkung, zu finden. Aber Er gibt ihm himmlische Versicherungen, daß Heere aus der Höhe ihn behüten und über ihm wachen sollten.
Jehova hatte dem Abraham, wie wir wissen, große Verheißungen geschenkt. Diese wurden dem Isaak wiederholt, und jetzt werden sie in Bethel dem Jakob gegeben. Aber hier wird diesen gemeinsamen Verheißungen noch etwas Besonderes hinzugefügt: „Und siehe, ich bin mit dir, und ich will dich behüten überall, wohin du gehst, und dich zurückbringen in dieses Land; denn ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan was ich zu dir geredet habe". Das war eine neue Verheißung, eine hinzugefügte Gnade, und zwar gerade weil Jakob sie bedurfte, was bei Abraham und Isaak nicht der Fall gewesen war. Jakob war der einzige von den dreien, der es nötig hatte, daß der Herr mit ihm war, wo er hinging, und ihn wieder nach Hause brachte. Jakob hatte durch seine eigene Schuld diese vermehrte Barmherzigkeit für sich notwendig gemacht und der Herr schenkt sie ihm in Seiner überströmenden Gnade. Das Gesicht von der Leiter ist die Bürgschaft für die Erfüllung der göttlichen Verheißung. Die Verheißungen an Abraham und Isaak hatten diese himmlische Behütung durch die Engel nicht enthalten. Die beiden waren im Lande geblieben. Jakob dagegen hatte sich selbst eine Verbannung bereitet, welche die Obhut und die Bewahrung durch eine besondere Beaufsichtigung vom Himmel notwendig machte, und er bekommt sie. Und ich glaube, daß Jakob hierauf anspielt, wenn er zu Joseph sagt: „Die Segnungen deines Vaters überragen die Segnungen meiner Voreltern" (1Mo 49,26). Diese Obhut seitens der Engel, die auf unmittelbaren Befehl vom Himmel über ihn wachten in den Tagen seiner Verbannung und Knechtschaft, — einer Knechtschaft, die seine eigene Verirrung herbeigeführt hatte, — zeichnete ihn aus als einen Gegenstand der Gnade und gab ihm Segnungen, die die Segnungen seiner Voreltern überragten. Und in diesem Sinne erreichte er „die Grenze der ewigen Hügel". Er war ein Erbe des Reiches durch jene überströmende Gnade, die ihm half und ihn inmitten der bitteren Früchte seiner eigenen Verkehrtheit aufrecht erhielt, ähnlich wie David zu seiner Zeit in „dem ewigen Bunde" triumphierte, obwohl für die Gegenwart sein Haus durch seine eigene Sünde in Verfall war (2Sam 23).
So sind die Wege Gottes mit den Seinen. Sie sind wunderbar und vollkommen in ihrer Vereinigung von Gnade und Heiligkeit. Laßt uns zugleich beachten, daß es in allen Umständen zwei Dinge gibt, von denen die Natur das eine, der Glaube das andere betrachtet. So finden wir bei der göttlichen Zucht, wie Jakob sie jetzt erfahren mußte, zunächst die Rute, und dann die Hand, welche die Rute gebrauchte. Die Natur sieht die erste, der Glaube erkennt die zweite. Hiob brach unter der Rute zusammen, weil er sich nur mit ihr beschäftigte. Hätte er seinen Blick auf die Absicht Gottes, auf das Herz oder die Hand, welche die Rute anwandte, gerichtet (wozu wir in Mich 6,9 ermahnt werden), so würde er standgehalten haben. Aber die Natur hatte die Oberhand in ihm. Er richtete seinen Blick auf die Rute, und diese war zu schwer für ihn.
Und wie bei den Schwierigkeiten, so verhält es sich auch bei den Fehltritten. Es gibt da zweierlei Dinge. Das Gewissen beschäftigt sich mit der einen, der Glaube mit der anderen Sache.
Aber dem Gewissen sollte nicht gestattet werden, den Glauben seiner Schätze zu berauben, der Schätze der wiederherstellenden, vergebenden Gnade nämlich, welche die Liebe Gottes stets für ihn bereit hält.
Darin liegt ein großer Trost. Die Natur soll nicht zuviel mit den Umständen und das Gewissen nicht zuviel mit den Fehtritten beschäftigt sein. Wohl muß die Natur fühlen, daß keine
Züchtigung für die Gegenwart Freude ist, und das Gewissen oder das Herz muß gebrochen sein, aber in beiden Fällen sollte der Glaube auf seinem Posten sein und seine Pflicht tun; und der Heilige Geist ist in den Briefen vielfach in Gnade bemüht, den Glauben hierzu zu ermuntern. Die Apostel erfuhren die gleichen Gefahren und Versuchungen, denen wir von Natur unterworfen sind, und während wiederholt darauf gedrungen wird, daß das Gewissen lebendig und wachsam sei, wird doch verlangt, daß der Glaube gerade ihm gegenüber sich behaupten solle.
Gott in Gnade zu kennen, dient zu Seinem Lob und zu unserer Freude. Nach den Gedanken einer verderbten Natur stellen wir uns Ihn vor als einen Gott, der Gehorsam verlangt und Dienst erwartet. Aber der Glaube kennt Ihn als einen Gott, Der mitteilt, der von Vorrechten und von Freiheit zu uns redet und von unseren gesegneten Beziehungen zu Ihm spricht.
Aber Jakobs Seele befand sich nicht auf der Höhe dieser Gnade. Er fand den Ort, an dem er die Leiter und die Engel gesehen hatte, und wo der Gott seiner Väter mit ihm geredet hatte, „furchtbar". In gewisser Beziehung war das, was er sah und erfuhr, zuviel für ihn, so wie es lange nachher bei Petrus auf dem heiligen Berge der Fall war. Doch wenn Jakob auch sagt: „wie furchtbar ist dieser Ort!" und wenn Petrus und seine Gefährten sich auch fürchten, so reicht dennoch die Leiter bis an den Himmel, und die Engel steigen an ihr auf und nieder angesichts des Patriarchen, und die Herrlichkeit auf dem Berge strahlt dennoch in im vermindertem Glanz. Denn die Gnade Gottes ist weit größer, als die Vorstellungen, die sich die Seele von ihr macht. Gott strahlt in Seinem eigenen Glanz weit über unsere Vorstellungen und Erfahrungen hinaus. Und so müssen wir Ihn kennen, und nicht nach den Eindrücken unserer Erfahrung.
Doch in gewissem Sinne fand Jakob, wie Petrus auf dem Berge, es gut, in Lus zu sein, und er nannte den Ort Bethel. Es war für ihn das Haus Gottes, denn Gott war dort bei ihm gewesen und hatte mit ihm geredet. Es war in seinen Augen die Pforte des Himmels, denn er hatte dort die Engel gesehen, wie sie von ihrem Platz in der Höhe herabstiegen. „Dies ist nichts anderes als Gottes Haus", sagt er, „und dies die Pforte des Himmels".
Gott offenbart Seinen Namen und Er verherrlicht ihn auch. Zuerst offenbart Er ihn, und der Glaube nimmt ihn an. Dann bestätigt Er zu seiner Zeit die Offenbarung oder das Zeugnis, indem Er das Verheißene erfüllt, und verherrlicht so Seinen Namen. Und wo irgend es Ihm gefällt, Seinen Namen zu offenbaren, da ist Sein Haus. Omans Tenne erhielt später die gleiche Würde, wie hier Lus, und zwar aus dem gleichen Grunde. „Dieses hier soll das Haus Jehovas Gottes sein, und dies der Altar zum Brandopfer für Israel", sagt David von jenem Orte der Jebusiter (1Chr 22,1). Denn wie das Bethel unseres Patriarchen, so war die Tenne Omans der Platz, wo die Barmherzigkeit über das Gericht triumphierte, und wo Gott
Sich in Seiner überströmenden Gnade offenbarte, und da entdeckt der Glaube das Haus Gottes. Jakob und David waren, ein jeder zu seiner Zeit, Heilige unter der Zucht, aber der Herr begegnete ihnen in Seiner vorsorgenden Liebe, indem Er Sich Selbst ihnen offenbarte und Seinen Namen kundtat. Und das war für sie Sein Haus.
Doch es ist leichter, das Haus einzuweihen, als die Aufgabe zu lernen, die dort gelehrt wird. Unter der Macht der Eindrücke, die das Gesicht notwendigerweise hervorrufen mußte, schüttet Jakob sogleich sein Herz aus, aber es ist in seinem Geiste noch etwas von dem alten Jakob zurückgeblieben. Die schlechte Gesinnung seines Herzens ist noch in Tätigkeit, und er scheint zu berechnen, einen Handel abzuschließen und Bedingungen zu stellen, obwohl der Herr in der Sprache der Verheißung, in freier, unumschränkter, überströmender Güte mit ihm geredet hatte. Die Natur regt sich immer wieder trotz so mancher Stöße und so mancher Niederlagen. Ja, sie überlebt selbst das, was ihr für einen Augenblick den Todesstoß gegeben zu haben schien. Jakob läßt seine Natur ebensowenig in Bethel zurück, wie er sie vorher im Zelt seiner Mutter zurückgelassen hatte. Jakob setzt seine Reise fort, und die Gnade begleitet den gezüchtigten Heiligen, bis er „nach dem Lande der Kinder des Ostens" kommt, bis er Paddan-Aram erreicht, wohin der Rat seiner Mutter ihn gewiesen und wohin ohne Zweifel die Hand Gottes ihn jetzt geleitet hatte.
Er fand Rahel bei dem Brunnen und bei der Herde, so wie Elieser Rebekka gefunden hatte, und Elieser war Isaaks Stellvertreter. Aber Jakob war ein armer Mann, Isaak ein wohlhabender. Isaak konnte Rebekka mit goldenen Ringen und Armspangen, den Beweisen seiner guten Verhältnisse, beschenken. Jakob hat nur seine Arbeit und den Schweiß seines Angesichts. Der eine erschien als der Sohn und Erbe, der andere als ein Mann, der sich selbst an den Bettelstab gebracht hatte, und der sich mit Gottes Hilfe so gut wie möglich durchzuschlagen suchen mußte. „Jakob entfloh nach dem Gefilde von Aram, und Israel diente um ein Weib und hütete um ein Weib" (Hos 12,13). Er fand einen harten Dienst, aber er trat ihn ohne weiteres an und hielt zwanzig Jahre lang darin aus (1Mo 29-31).
Wir betreten jetzt mit ihm das Haus Labans, des Bruders seiner Mutter, und begegnen dort bald den verschiedensten Zuständen und Handlungen. Wir finden da nicht nur Jakob und
Laban, sondern auch die beiden Weiber, Lea und Rahel, mit ihren beiden Mägden, Silpa und Bilha.
Jakob befand sich erst kurze Zeit unter den Versuchungen und Leiden seines Aufenthalts bei Laban, als er genau nach dem Muster seines eigenen Vergehens heimgesucht wurde. Er hatte seinen Vater betreffs seines Bruders und des Segens betrogen, und jetzt betrügt Laban ihn betreffs Rahels und der Heirat. Indes sehen wir in seinem Verhalten während der zwanzig Jahre, die er bei Laban zubrachte, auch manches Schöne. Die Kraft und der Einfluß des Bewußtseins, unter der züchtigenden Hand Gottes zu stehen, wird notwendigerweise von einem Herzen gefühlt, das in irgendwelcher Verbindung mit Gott ist. Allerdings wird die Natur unter einem solchen Druck weder verändert noch gebrochen, aber sie muß doch mehr oder weniger im Zaum gehalten werden. Als David getadelt, gestraft und gedemütigt wurde, verhielt er sich wirklich schön. Seine Worte an Ittai, Zadok und Husai, sein Zorn über die Tat der Söhne der Zeruja, seine Demütigung, seine Klage über Absalom, sowie die Benutzung des Sieges als wenn es eine Niederlage gewesen wäre — alles das und vieles andere der Art zeigt uns ein gesegnetes Werk des Geistes in seiner Seele. Bei Jakob in Paddan-Aram finden wir allerdings nichts, was dem eben Genannten gleichkäme, aber doch irren wir wohl nicht, wenn wir in ihm einen Heiligen unter der Zucht erblicken, der sich dieser Zucht bewußt ist und seine augenblickliche Lage unter der Hand Gottes versteht, der ferner fühlt, daß der Tadel des Herrn ein gerechter Tadel ist und der demütig und vorsichtig wandelt. Er unterwirft sich schweigend dem Unrecht, das Laban ihm zufügt. Er dient geduldig und leidet, ohne zu klagen. Sein Lohn wird zehnmal verändert, und er spricht nicht dagegen, ln diesem allem zeigt er sich gedemütigt unter die mächtige Hand Gottes, als einer, der sich gern seiner eigenen Vergangenheit erinnert. Und am Ende von zwanzig Jahren, voll harter Arbeit und schlechter Behandlung, ist er imstande, seine Treue feierlich zu bezeugen, und Gott Selbst scheint dieses Zeugnis zu besiegeln. Durch die Fürsorge Seiner Hand, durch Offenbarungen Seines Geistes, sowie durch eine unmittelbare Dazwischenkunft bei Laban schützt, segnet und rechtfertigt Gott Seinen Knecht.
Darin liegt viel Schönes. Ich sage nicht, daß die Natur getötet, daß die Wurzel der Bitterkeit gerichtet war. Ich weiß wohl, daß wir Jakob nachher als den alten Jakob wiederfinden werden, der sich auf traurige Weise durch den Sauerteig verleiten läßt, der von Anfang an in ihm wirksam war. Aber während seines Aufenthalts im Hause des Aramäers verhielt er sich wirklich wie einer, der weiß, daß er unter der mächtigen und züchtigenden Hand Gottes steht. Er rechtfertigte sich nicht gegenüber Vorwürfen, noch bestand er auf seinem Recht gegenüber Beleidigungen und Ungerechtigkeiten.
Was Laban betrifft, so war er ein durchaus weltlicher Mann, als Jakob sein Haus betrat, und als Jakob wieder heimwärts zog, war er noch derselbe. In allen seinen Handlungen von
Anfang bis zu Ende hatte er nur seinen eigenen Vorteil im Auge. Er sah sich gezwungen anzuerkennen, daß die Hand Gottes mit Jakob war, aber er hätte gern durch Jakob jene
Hand sich selbst dienstbar gemacht und Jakobs Anrecht an Gott zu seinem eigenen Vorteil verwendet. Zwanzig Jahre lang hatte er das Zeugnis der Hand Gottes und die Wirkungen
Seiner Gnade und Macht in seinem Hause vor Augen, und das jeden Tag, aber dennoch blieb er ein Weltmensch. Gott trat ihm in den Handlungen Seiner Allmacht nahe, wie Er es später bei Chorazin und Bethsaida tat, aber da war keine Buße. Und zuletzt glich Jakobs Abreise aus dem Hause Labans einer Flucht aus der Hand des Feindes, einem Entrinnen aus dem Garn des Vogelstellers. Jakob zog mit seiner Familie in ähnlicher Weise aus, wie später das ganze Volk aus Ägypten. Laban war für unseren Patriarchen wie der Pharao, und Paddan-Aram wie Ägypten. Laban wollte Jakob gerne noch länger als seinen niedrigen Knecht behalten, oder ihn allenfalls als Bettler ziehen lassen, doch der Herr trat bei ihm für Jakob ein, wie Er es später bei dem Pharao für Israel tat. Laban und der Pharao haben, ein jeder zu seiner Zeit, die Wirksamkeit Gottes bezeugt, aber keiner von beiden wurde ein Gegenstand von ihr.
Laban war durch und durch ein Freund der Welt und wurde nie etwas anderes. Er war ein listiger Mann und dabei ein Heuchler, was man ja häufig vereinigt findet. Zuletzt, als alle seine Anschläge zunichte gemacht sind, und keine Zauberei wider Jakob gelingen will, (wir finden das später auch in Bezug auf Israel), tut er, der erbärmlichen Art und Weise eines listigen Herzens entsprechend, alles mögliche, um den fehlgeschlagenen Plan zu verdecken und sich noch einen schönen Schein zu geben. Er stellt sich, als ob Jakob nur aus Sehnsucht nach seiner Heimat ihn verlassen habe, während sein Gewissen ihm doch mancherlei andere Gründe genannt haben muß. Er stellt sich betrübt und entrüstet, daß er keine Gelegenheit gehabt habe, seine Töchter und Enkel zu küssen und sie mit Ehren zu entlassen, während sein Gewissen ihn daran erinnert haben muß, wie schnöde er sie verkauft hatte. Er scheint betrübt darüber zru sein, daß sie jetzt in der Hand Jakobs sind, als ob seine Hand jemals die eines Vaters für sie gewesen wäre. Er gibt vor, daß er Jakob aus religiöser Furcht vor dem Worte Gottes verschone, während er doch gefühlt haben muß, daß er (so wie Bileam in späteren Tagen) durch Gott vollständig im Zaume gehalten wurde, mochte er wollen oder nicht, mochte er gottesfürchtig oder gottlos sein. Und er macht eine ernste Miene zu dem letzten Handel zwischen ihm und Jakob, indem er den Namen des Gottes Abrahams anruft, obgleich er gerade damit beschäftigt gewesen war, nach seinen Götzen zu suchen, und sich anschickte, in jenes Land zurückzukehren, aus dem Gott den Abraham gerufen hatte, und dort weiter zu leben als ein herzloser Weltmensch und als ein Verehrer seiner eigenen hölzernen und steinernen Götter. Welch ein erbärmlicher Mann! Und welch eine ernste Lehre gibt er uns!
Wir müssen indes noch einen Blick auf die Weiber und Kinder in Paddan-Aram werfen. Die Weiber und Kinder im ersten Buch Mose stellen stets Geheimnisse oder Vorbilder dar. Wir sehen das in Eva und ihren drei Kindern, sowie in den drei Frauen Abrahams, Sara, Hagar und Ketura, und in den Kindern einer jeden von ihnen. Demselben vorbildlichen Charakter begegneten wir in unserer früheren Betrachtung über Isaak auch bei Rebekka und ihren Kindern, Esau und Jakob. Alle stellen Teile und Bruchstücke der Vorsätze Gottes in Bildern dar. Und das gleiche finden wir jetzt in den Frauen, die mit Jakob in Paddan-Aram in Verbindung traten, sowie in den Kindern dieser Frauen.
In den Kindern Israels, d. h. in dem Volke, dem Samen Abrahams, begegnen wir drei verschiedenen Klassen: 1. dem früheren Israel nach dem Fleische, das auf Grund seiner fleischlichen Verbindung mit Abraham in das Land gebracht wurde; 2. dem jetzigen Israel, dem Volk in Knechtschaft, welches das Joch der Nationen kennenlernen muß, und 3. dem zukünftigen Israel, das unter die Gnade gebracht, erlöst und in die zu den Vätern geschehenen Verheißungen wieder eingesetzt wird. Das sind gleichsam drei verschiedene Generationen des Volkes Israel: die eine, wie das Volk war, die andere, wie es jetzt ist, und die dritte, wie es dereinst sein wird. Und die Schatten davon erblicken wir, wie ich glaube, in den Familien Jakobs in PaddanAram, d. h. in den Kindern Leas, die dem Fleische nach Ansprüche hatte, dann in den Kindern der Mägde und endlich in den Kindern Rahels, der Geliebten, die von Natur keine Kraft besaß, deren Same aber nach Verheißung oder von Gott war. So offenbaren sich hier die Wege der Weisheit Gottes in den Frauen und Kindern (1Mo 29-31), wie es auch bei den früheren Familienszenen in diesem wunderbaren Buch der Fall war. Sobald Joseph, das Kind der Verheißung, der Sohn Rahels, der Geliebten, ihm gegeben ist, spricht Jakob davon, Paddan-Aram, den Ort der Verbannung und Knechtschaft, zu verlassen (siehe 1Mo 30,25.26). So einfach und unbedeutend dieser Umstand auch scheinen mag, so ist er doch gewiß nicht ohne Bedeutung. Die Stellung eines Fremden und eines Dieners paßte nicht mehr für Jakob, sobald er den Samen empfangen hatte, der ihm die Macht Gottes zu seinen Gunsten bezeugte. Er mag instinktmäßig etwas davon gefühlt haben, daß es jetzt für ihn an der Zeit sei, seine Freiheit zu verlangen und an seine Heimat und an sein Erbe zu denken. Ich will nicht sagen, daß Jakob dies wirklich verstanden hat, noch entscheiden, ob es eine Art von Inspiration war, was er aussprach und was in seiner vollen Bedeutung sein Verständnis überstieg, aber tatsächlich sagte er unmittelbar nach der Geburt Josephs zu Laban: „Entlaß mich, daß ich an meinen Ort und in mein Land ziehe".
Bei Abraham fanden wir ja auch manches, was große Ähnlichkeit hiermit hat. Sobald Isaak entwöhnt war, veränderte sich sogleich der Schauplatz um Abraham her. Der Sohn der Magd mußte das Haus verlassen, und Abraham bekam den Vorrang vor den Heiden. (Siehe 1Mo 21). Die Entwöhnung Isaaks war der Wendepunkt in Abrahams Stellung. Im Geiste trat er für einen Augenblick in das Königtum ein; indem er einen neuen Altar baute, einen Altar dem „ewigen Gott" und eine Tamariske pflanzte. Die Schönheit und Bedeutung dieser Handlung habe ich in der früheren Betrachtung über Abraham hervorgehoben. Ähnliches finden wir jetzt bei Jakob. Sobald Joseph, das Kind der Verheißung, das die Gnade und Macht Gottes bezeugte, ihm gegeben war, dachte er sogleich an Freiheit und Heimat.
Wahrlich, ein schöner und treffender Beweis von dem Verständnis, das der neue Sinn in Jakob besaß! Und bei dieser Gelegenheit zeigt sich auch der Glaube in Rahel, denn sie nennt ihren Sohn „Joseph", d. h.: „Er füge hinzu", in der Überzeugung, daß der Herr, der Seine Barmherzigkeit gegen sie zu erweisen begonnen hatte, sie auch fortsetzen und vollenden werde. So redet auch heute der Glaube in unseren Herzen in demselben Geiste: „Er, der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?" Infolge der Gabe Gottes hielt sich Rahel nicht nur für berechtigt, um mehr zu bitten, sondern in noch kühnerem, glücklicherem Glauben vertraut sie auch auf Gott, daß Er noch mehr tun werde.
Doch obschon dies alles so war, wurde doch die Verbindung zwischen Laban und Jakob auch nach der Geburt Josephs noch eine Zeitlang unterhalten, bis die Trennung unter dem Druck ganz anderer Umstände stattfand, indem Laban wie eine Art Salzsäule oder wie ein feierliches Zeichen von dem, wozu unsere armen Herzen fähig sind, zurückblieb.
2
Mit Kapitel 31 endigt die Zeit der Knechtschaft Jakobs. Wir finden ihn dann auf der Rückkehr von Paddan-Aram nach Kanaan, wobei namentlich zwei Szenen unsere besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen: die eine auf dem Gebirge Gilead gleich nach seinem Auszug, die andere in Machanaim, nahe bei der Furt des Jabbok, kurz vor seinem Eintritt in das Land.
Auf dem Gebirge Gilead fand die Trennung zwischen Jakob und Laban statt, denn bis dahin hatte Laban ihn verfolgt. Indes machten die beiden Männer, bevor sie schieden, einen
Bund miteinander, indem sie Schlachtopfer opferten und dann gleichsam über dem Opfer zusammen aßen.
Eine solche Szene zeigt uns in einem Bilde unsere Segnung. Denn wir erfreuen uns eines Friedensbundes, der durch ein Opfer sichergestellt und durch ein Fest bezeugt wird. So finden wir auch in der Nacht der Errettung Israels aus Ägypten den Altar und den Tisch, oder das Opfer und das Fest. Das Blut war an den Türpfosten, und die durch das Blut erlöste und geborgene Haushaltung befand sich innerhalb und nährte sich von dem Lamme, dessen Blut sie schützte und befreite.
Beachten wir bei dieser Gelegenheit auch, daß Jakob es ist, der das Opfer darbringt. Dies ist sehr bemerkenswert und charakteristisch. Es zeigt uns, daß Jakob seinen Platz und seine
Würde vor Gott kannte. Laban besaß alle Ansprüche, welche die Natur, das Fleisch oder die Verwandtschaft verleihen konnten, aber Jakob ist dennoch die handelnde Person. Laban war der ältere. Er war der Herr und der Schwiegervater. Dennoch nimmt Jakob den Platz des „Besseren" ein und bringt das Opfer dar, in dem gleichen Geist des Glaubens wie Abraham, als er mit dem König von Gerar einen Bund machte (1Mo 21), oder wie Jethro am Berge Horeb inmitten des Israels Gottes und in der Gegenwart Aarons (2Mo 18).
Das sind Beispiele der Triumphe des Glaubens, und es sind keine geringen Triumphe. Unsere hohen Vorrechte in Christo zu erkennen und uns durch nichts daraus verdrängen zu lassen, selbst wenn die Umstände dazu angetan sind, uns zu demütigen, das ist keine leichte Sache. Jakob war in PaddanAram unter der Zucht. Er hatte dort keinen Altar. Vor Gott war er eher ein Büßender als ein Anbeter. Aber Laban gegenüber bekennt er sich selbst als einen Heiligen. Hier auf dem Gebirge Gilead hat er seinen Denkstein, sein Opfer und sein
Fest, und er betätigt jenen Glauben, der ihn ermutigt, allen Ansprüchen von Fleisch und Blut gegenüber gemäß seiner Würde als Heiliger und Priester Gottes zu handeln.
Es ist sehr ermutigend, bei so manchen Gelegenheiten solche Bruchstücke der Gesinnung und des Geistes Christi in den Gläubigen hervortreten zu sehen. Jakob zweifelte nie an seinen Vorrechten von Anfang bis zu Ende seines Weges, obwohl er sein ganzes Leben hindurch unter der Zucht stand. Und es ist stets gesegnet, den Platz einzunehmen, den die Gnade in ihrem überströmenden Reichtum uns gibt. Ich glaube nicht, daß Petrus in Joh 21, wenn er als ein Büßender dem Herrn hätte nahen wollen, sich so sehr beeilt hätte, zu Ihm zu kommen. Ein Büßender würde sich mit mehr zögerndem Schritt genähert haben. Aber Petrus dachte nicht an die soeben erst geschehene Verleugnung seines Herrn, sondern an diesen Herrn Selbst. Sein Schritt war deshalb eilig und fest. Er hatte allerdings schwer gegen seinen Herrn gesündigt und wohl hätte er bei dem Gedanken daran zaudern und beschämt sein können. Aber — und das ist wunderbar — so wie Petrus als Büßender seinen Weg nicht so bereitwillig und eifrig angetreten hätte, ebenso würde er auch als solcher seinem Meister nicht so willkommen gewesen sein, wie er es jetzt war, als er Ihm, trotz seines Fehltritts, im Vertrauen nahte. Darin zeigen sich die Gnade und das Herz des Herrn, mit dem wir es zu tun haben.
Indes sind dies nur einzelne Bruchstücke, gleichsam gebrochene Säulen in den Tempeln Gottes. Die Natur bleibt immer die Natur, und Jakob verrät sich bald nachher wieder als der alte Jakob.
Wenn der Herr bei Hiob Seine Hand leichter gemacht hätte, nachdem die erste Versuchung vorüber war, dann würde Hiob der Segnung verlustig gegangen sein. Es trat ein Augenblick der Ruhe ein, und man hätte denken können, daß alles zu Ende gewesen wäre. Aber das Ende des Herrn in Gnade war noch nicht erreicht, und wir können überzeugt sein, daß auch
Satans Bosheit noch nicht befriedigt war. Der unermüdliche Gegner beginnt von neuem. Der Herr gibt ihm wieder Raum, und Hiob wird zum zweiten Male heimgesucht.
Aber die Natur ist geradeso unermüdlich wie Satan. Magst du sie auch in diesem Augenblick vertreiben, in dem nächsten wird sie wiederkommen. Wir haben soeben jene kurze Unterbrechung in den Handlungen und Wegen der Natur bei Jakob auf dem Gebirge Gilead betrachtet und für einen Augenblick die bessere Gesinnung in ihm wirksam gesehen, aber bald, leider nur zu bald, werden wir den alten Jakob wiederfinden.
Er wandert weiter vom Gebirge Gilead, und als er die Grenzen des Landes erreicht, begegnen ihm die Engel Gottes. Jakob erkennt sie sofort. „Dies ist das Heerlager Gottes", sagt er. „Und er gab jenem Ort den Namen Machanaim" (Zwei-Lager). Hier befinden wir uns auf heiligem Boden. Die in 1Mo 28 begonnene Reise ist ausgeführt, die Zusicherungen und Verheißungen von Bethel sind eingelöst. Dem entsprechend erblicken wir hier keine Leiter mehr. Die fürsorgende Obhut der Engel hatte ihren Dienst erfüllt. Jakob war in dem fernen
Lande bewahrt und wieder zu seinem eigenen Lande zurückgeführt worden. Die Leiter kann deshalb verschwinden, und statt daß die Engel gleichsam zwischen dem Himmel und dem Patriarchen auf- und niedersteigen, begegnen sie ihm jetzt. Sie stehen vor ihm, wie um ihn zu begrüßen oder ihn bei seiner Rückkehr willkommen zu heißen. Jehova, der Gott seiner Väter und der Gott der Verheißungen, bewillkommnet unseren Patriarchen in der Heimat, und die Diener der himmlischen Höfe werden ausgesandt, um der Gesinnung ihres Königs gegen ihn Ausdruck zu geben.
Das hieß für Jakob „gepfiffen", und Jakob hätte „tanzen" sollen. Sein Geist hätte frohlocken, er hätte jubeln und triumphieren sollen, bevor der Kampf gestritten, ja, bevor noch die
Heere aufgestellt waren. Er hätte das Schlachtfeld betreten sollen mit Lobgesängen wie Josaphat (2Chr 20). Wenn die himmlischen Heerscharen so zu seinen Diensten standen, so seiner warteten, was hatte er dann von den Heeren Esaus zu fürchten? „Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?" Aber ach! so war es nicht bei Jakob. Er „wehklagt" auf dieses Pfeifen, anstatt zu tanzen. Er zittert und fleht und berechnet. Er ordnet seine Streitmacht, als ob der Kampf sein wäre. Das alles war gewissenhaft, aber es war auch zu gleicher Zeit alles Unglaube, und wir können überzeugt sein, daß dem Herrn dies sehr mißfällig war. Es war ein häßlicher Mißklang für sein Ohr. Obwohl Er unseren Patriarchen mit allen Zeichen eines ernstgemeinten, ehrenvollen Willkommens bei seiner Heimkehr begrüßt hatte, zeigte sich Jakob doch völlig verzagt und mutlos.
Der Herr wünscht immer mit uns eins zu sein, und daß auch wir mit Ihm eins seien. Es ist Ihm niemals wohlgefällig, wenn zwischen Ihm und uns kein Einklang herrscht. So widersteht Er Jakob. „Es rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte aufging". Das war Gottes Antwort auf das Gebet Jakobs, Und wahrlich, dies alles ist sehr bezeichnend und lehrreich für uns.
Wir finden es viel leichter, auf den Herrn zu vertrauen in Fragen, die zwischen Ihm und uns entstehen, als Ihn hineinzubringen, Ihn zu benutzen und Ihm zu vertrauen in Sachen, die zwischen uns und anderen liegen. Wir finden es leichter, Ihm zu vertrauen für die Ewigkeit, als für morgen, weil die Ewigkeit vollständig in Seiner Hand Liegt, während das „Morgen" nach unserer Meinung mehr oder weniger zwischen Ihm und anderen geteilt ist und ebensowohl in der Macht der Umstände wie in der Seinigen ruht. Abraham verriet zu seiner
Zeit dieselbe Neigung. Er folgte dem Ruf des Gottes der Herrlichkeit ohne Zögern und verließ sein Land, seine Verwandtschaft und seines Vaters Haus, aber sobald eine Hungersnot eintrat, hörte sein Glaube auf, und anstatt angesichts der Umstände auf den Herrn zu vertrauen, zog er nach Ägypten hinab.
Jakob offenbart zu Machanaim dieselbe natürliche Gesinnung. Er ist unfähig, Esau gegenüber auf Gott zu vertrauen. Esaus vierhundert Mann erschrecken ihn, und er will zunächst seine Boten mit Worten des Friedens und der Freundschaft und dann seine Geschenke ins Mittel treten lassen, um durch das eine oder das andere den Zorn seines Bruders zu besänftigen. Sein Glaube an Gott ist nicht stark genug, um Ihn zwischen sich und Esau zu bringen. Er zittert und fleht, er berechnet und teilt seine Haushaltung ein. Die Umstände erweisen sich als zu schwer für ihn. Aber gleich nachher, wenn der Herr Selbst ihm widersteht, wenn es sich um eine Sache zwischen ihm und Gott handelt, da ist er kühn und trägt den Sieg davon. Er ermattet nicht, wenn auch der Herr ihm die Hüfte verrenkt. Er beträgt sich wie ein Glaubensstreiter und erlangt Anerkennung. Er tritt auf wie ein Fürst und gewinnt neueEhren. Das ist eine Erfahrung, die allgemein gemacht und hier in der Geschichte Jakobs an der Furt des Jabbok dargestellt wird.
Indes liegt in einem solchen Siege nicht notwendigerweise ein Heilmittel für jenen Kleinmut, der den vorhergehenden Kampf veranlaßt hatte. Und Jakob steht im Begriff, dies zu unserer weiteren Ermahnung zu beweisen. Gleich in dem folgenden Kapitel, das eigentlich nur die Fortsetzung derselben Handlung oder einen weiteren Abschnitt in ihr schildert, tritt uns der nämliche furchtsame, ungläubige, berechnende Mann entgegen, den wir in Jakob gefunden haben, bevor er über den Kämpfer an der Furt des Jabbok den Sieg davontrug.
Das enthält eine ernste Ermahnung für uns. Es kann sehr wohl Übung des Geistes vor Gott vorhanden sein und doch wenig Fortschritt in der Kraft der Seele bezüglich der Fortsetzung des Kampfes mit der Welt. In keinem Abschnitt seiner Geschichte erscheint Jakob sittlich auf einem niedrigeren Boden, als in den Ereignissen, die unmittelbar auf Pniel folgten. Er ist keineswegs von sich selbst gereinigt. Er berechnet, er macht Ausflüchte, er heuchelt Liebenswürdigkeit und Vertrauen, er lügt und schmeichelt. Dem Mann an der Furt des Jabbok widerstand er. Er war stark dm Glauben und verherrlichte die Gnade Gottes, selbst dann, wenn Gott ihm entgegentrat und mit ihm stritt. Aber Esau gegenüber stellt er den alten Menschen in tief beschämender Vollendung dar. Er macht sich von seinem Bruder los unter einem durchaus unwahren Vorwände. Er ist nicht besser als ein Ohrenbläser, ein knechtischer Schmeichler, indem er schamlos von dem Angesicht Esaus wie von Gottes Angesicht spricht. Das ganze Schauspiel ist erbärmlich — ein demütigendes Bild von dem sittlichen Zustande, in den ein Heiliger für eine Zeit kommen kann, wenn die Natur die Oberhand gewinnt.
Es gibt Augenblicke der Ermunterung und Freude für den Geist, und wir sollten sicher dankbar dafür sein. Wenn Jakob in dem vorhergehenden Kapitel sagt: „Dies ist das Heerlager
Gottes", und nachher: „Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist gerettet worden!" so waren das solche Augenblicke der Freude des Geistes. Aber es kann wohl sein, daß es nur Erquickungen sind, und daß sie nicht zur wahren Erbauung dienen. Und es ist in der Tat betrübend zu sehen, wie ein Heiliger so bald nachher wieder zu sich selbst zurückkehren kann.
Und wer möchte seinem eigenen Herzen trauen, wenn wir sehen, wie untreu das Herz Jakobs war? Jakob hatte die Kenntnis des Namens Gottes verloren. Er mußte danach fragen, anstatt ihn zu benutzen und sich in ihm zu erfreuen. Dieser Name war „der Allmächtige", ein Name, der ihm die Allgenugsamkeit für alle seine Bedürfnisse kundtat. Doch Jakob hatte ihn in 1Mo 32 verloren, und in dem folgenden Kapitel beträgt er sich nicht wie einer, der ihn wiedergefunden hat. Er selbst ist auf dem Plan und erfindet Listen und Ausflüchte.
Auch wir können in derselben Weise den Namen, der uns geoffenbart ist, verlieren. Dieser Name heißt „Vater", ein Name, welcher der Seele dauernde Ruhe und Kraft und Freiheit zu geben vermag. Er bereitet dem Herzen eine Heimat. „Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott". Diese Heimat genügt, um „unsere Freude völlig zu machen", wie Johannes sagt. Und obwohl wir, wie Jakob, unter der züchtigenden Hand Gottes stehen mögen, so sollten wir doch die Kraft jenes Namens, die vollkommene, verborgene und unveränderliche Liebe eines
Vaters kennen. Wenn es nicht so bei uns ist, so haben unsere Seelen, wie Jakob in diesen beiden Kapiteln, die Kenntnis des Namens Gottes verloren. „Ihr habt der Ermahnung vergessen, die zu euch als zu Söhnen spricht", ruft der Apostel uns zu. Wir brauchen uns deshalb nicht länger über Jakob zu wundern. Ich glaube vielmehr, daß wir zu Zeiten weit größere Ursache haben, uns über uns selbst zu wundem.
Nachdem Jakob und Esau sich getrennt hatten, kam Jakob nach Sukkoth und von dort nach Sichem. Damit war seine Rückkehr nach Kanaan vollendet. Aber ach! es wird immer schlechter und schlechter mit ihm. Es scheint, als ob er eine Zeitlang sich selbst und die Berufung Gottes vollständig vergessen hätte. Und was anders als Unheil kann die Folge einer solchen Erscheinung sein? Gott erwartet von uns Festigkeit in Bezug auf unsere Berufung. Wohl können wir alle in tausenderlei Weise ihr untreu werden und fehlen, und wir tun dies leider nur zu oft, aber das ist doch noch etwas anderes, als wenn jene Berufung aus freien Stücken durch ein leichtfertiges und erschlafftes Gewissen vernachlässigt und anscheinend völlig aufgegeben wird. Denn dann wird bald jeder sittliche Halt verlorengehen. Wahrlich, Lauterkeit und Aufrichtigkeit werden verschwinden und am Ende werden Verunreinigungen hervortreten, wie sie selbst, wie der Apostel sagt, unter den Heiden nicht gefunden werden.
In Sukkoth, wohin unser Patriarch zuerst kam, baut er ein Haus, und in Sichern kauft er ein Feld, was Abraham und Isaak, weil sie der Berufung Gottes treuer blieben, nie taten und nie getan haben würden. Das Zelt wurde mit einem Hause vertauscht, und der pilgernde Fremdling wurde zu einem Bürger und Grundeigentümer inmitten der Unbeschnittenen.
Zeigte das nicht, daß Jakob vergessen hatte, daß er sich unter der Berufung Gottes befand? Viele Jahrhunderte später läßt der Herr durch Seinen Diener Nathan dem David kundtun, daß ein Unterschied zwischen einem Haus und einem Zelt bestehe, und daß Er wünsche, daß dieser Unterschied aufrecht erhalten werde (1Chr 17). Aber hier in Sukkoth Übertritt Jakob den Willen Gottes. Das göttliche Denkzeichen der Patriarchen bestand darin, daß sie in Zelten wohnten (Heb 11,9), aber hier in Sukkoth macht sich Jakob aus freien Stücken dieses Denkzeichens verlustig. Ferner gab der Herr dem Abraham nicht so viel Land, daß er seine Fußsohle hätte darauf setzen können (Apg 7,5). Aber Jakob will dennoch in Sichern ein Grundstück haben und es als erblichen Besitz kaufen.
Der Altar, der auf das Haus und das Feld folgt, mag auf den ersten Blick als eine Milderung, als etwas Heiligendes erscheinen, als das einzige Gute inmitten des Verderbens. Aber bei näherer Betrachtung erkennen wir gerade in dem Altar womöglich das Schlechteste von allem. Er wurde nicht für Denjenigen errichtet, der Jakob erschienen war. Weder in Sukkoth noch in Sichern hatte wahre Gemeinschaft zwischen dem Herrn und Jakob stattgefunden. Sichern war nicht Bethel, und das Grundstück, auf dem jener Altar, den Jakob „Gott, der Gott
Israels" nannte, auf gerichtet wurde, war nicht der steinige und öde Ort, wo die überströmende Gnade aus einem geöffneten Himmel auf das Haupt des Patriarchen herabgeschienen hatte. Nein, es bildete vielmehr einen Teil des Feldes, das Jakob von den Söhnen Hemors, des Vaters Sichems, gekauft hatte. Der Altar wurde auch nicht von einem himmlischen Fremdling für den Gott errichtet, der ihn besuchte, sondern er erhob sich in der Mitte der Unbeschnittenen. Es sieht fast aus wie ein Versuch, die Billigung des Herrn dafür zu erlangen, daß Jakob den Charakter eines Abgesonderten, eines Pilgrims und eines Nasirs aufgegeben hatte, oder den Namen Gottes und Seine Anbetung mit dem zu verbinden, worüber Gott Sein ernstes Urteil ausgesprochen und wogegen Seine Langmut sich erzeigt hatte, bis das Maß der Ungerechtigkeit voll war.
Wahrlich, wir sehen hier eher einen unbeschnittenen Jakob, als beschnittene Sichemiter. Alles ist verdorben. Ist das ein Sohn Abrahams? Ist das ein Heiliger Gottes? Ist das einer von
Gottes Fremdlingen in einer Welt, die von Ihm abgefallen ist? Werden wir nicht unwillkürlich an die religiöse Tätigkeit des Christentums erinnert, das den Namen Christi mit einer Welt in Verbindung gebracht hat, die sich unter Seinem Gericht befindet und nur in Seiner Langmut noch getragen wird? Es ist dasselbe, als wenn das Volk Israel in späteren Tagen dem Pharao nachgegeben und Jehova in Ägypten einen Altar gebaut hätte. Aber solche Altäre sind keine Altäre — wie ein anderes Evangelium kein anderes ist. Ein solcher Gottesdienst ist eitel, mag er nun in jenen frühesten Zeiten in Sichern ausgeübt werden, oder in unserem christlichen Zeitalter unter den Völkern einer gerichteten, verurteilten Welt, von der uns zu trennen wir von Gott berufen sind. Aber das ist nicht alles. Während ein angenehmer Verkehr mit der Welt fortgesetzt und der eingeschlagene Weg begierig verfolgt wird, werden zu derselben Zeit Familiengottesdienste und religiöse Gebräuche (der moderne Altar in Sichern) verrichtet.
Es war eine der Früchte von diesem allem, daß Jakob später sagen mußte: „Meine Seele komme nicht in ihren geheimen Rat, meine Ehre vereinige sich nicht mit ihrer Versammlung"
(1Mo 49,6)! Denn mit diesen Worten spielt der sterbende Patriarch auf das in 1Mo 34 Erzählte an. Am Ende seines Lebens sieht er den wahren Charakter jener Dinge, die Frucht seines Aufenthalts in Sichern, ein. Im Zorn war dort ein Mann erschlagen und ein Kämpfer niedergeworfen worden. Und doch hatte Jakob selbst kurz vorher den Kämpfer Gottes übermocht.
Den Trennungswall, den die Berufung Gottes zwischen dem Reinen und Unreinen, zwischen der Beschneidung und den heidnischen Völkern, errichtet hatte, räumte Jakob selbst hinweg, indem er sich als Bürger und Eigentümer auf seinem gekauften Grund und Boden in Sichern niederließ. Und Simeon und Levi vervollständigten die Sache, sobald es ihnen gefiel. „Und Dina, die Tochter Leas, die sie dem Jakob geboren hatte, ging aus, die Töchter des Landes zu sehen". War das die Handlungsweise des Hauses Abrahams? War das die Familie des abgesonderten Patriarchen, der in den Wegen des Herrn wandelte? Hatte sich Abraham jemals in solcher Weise nachlässig gezeigt? Welchen Verkehr hatte er mit den Söhnen oder den Töchtern des Landes betreffs seiner Kinder? Keinen.
Das alles ist höchst traurig und verkündet seine eigene Schande. Sichern liegt nicht weit von Sodom, obwohl ich zugebe, daß es nicht gleich Sodom ist. Jakob ist auch nicht Lot. Wir können und müssen einen Unterschied machen, obwohl das Unterscheiden in dieser Beziehung eine traurige Arbeit ist. Die Natur hatte in all den Heiligen Gottes, die wir betrachtet haben, zu Zeiten die Oberhand, in dem einen mehr, in dem anderen weniger. Aber trotz des Vorherrschens der Natur finden wir doch in sittlicher Hinsicht eine Verschiedenheit, und verschiedenartige Dinge unter den Heiligen müssen von uns auch als verschiedenartig betrachtet werden. Es gibt ein beflecktes Kleid und ein gemischtes Kleid, wenn wir es so nennen dürfen, und wir sollten unter der Leitung des Geistes unser Kleid sowohl unbefleckt als auch ungemischt bewahren, oder wie Jakobus sagt: „uns selbst von der Welt unbefleckt erhalten". Aber doch ist ein beflecktes Kleid noch kein gemischtes, oder, um mit den Worten der Schrift zu reden, kein Kleid „von verschiedenartigem Stoff, Wolle und Leinen zusammen". Auch dürfen wir ein Kleid, in dem sich hie und da ein Faden von einem anderen Stoff zeigt, nicht mit einem gemischten Kleid verwechseln, d. h. mit einem Kleid, dessen Gewebe grundsätzlich aus Wolle und Leinen hergestellt ist. So finden wir in der Schrift, die ja in jeder Hinsicht vollkommen ist, Charaktere, die durch das, was man „gemischte Grundsätze" nennt, gebildet sind, und andererseits solche Charaktere, die zwar gelegentlich etwas Gemischtes verraten, aber nicht durch und durch so sind. Das Leben Lots wurde vollständig durch gemischte Grundsätze beeinflußt und gekennzeichnet. Sobald die Versuchung an ihn herantrat, vereinigte er sich mit dem Bösen. Obwohl er mit der Berufung Gottes verbunden war, war er doch ein Mann der Erde und mußte wie durch Feuer gerettet werden. Das Kleid, das Lot trug, war von verschiedenartigem Stoff, von Wolle und Leinen. Abraham dagegen trug zu Zeiten wohl ein beflecktes Kleid, aber nie ein gemischtes. Lot war der Berufung Gottes vom Beginn bis zum Ende seiner Laufbahn untreu. Er wurde da ein Bürger, wo er ein Fremdling hätte sein sollen, indem er in der Stadt Sodom ein Haus baute, während Abraham, das Land durchziehend, sein Zelt bald hier bald dort aufschlug. Und dieses Leben nach falschen Grundsätzen brachte Lot in Trübsale, die seine Schande waren, und das allein kann man eigentlich nur den Schmerz der Trübsale nennen. Er hatte keinen Trost in seinem Leid. Er quälte seine gerechte Seele, wie es heißt, mit den gottlosen Werken, die er täglich anschauen mußte, aber in seinem Geiste gab es keine Freude, keine Klarheit, keinen Triumph. Die
Engel waren äußerst zurückhaltend ihm gegenüber, und er mußte unter Zurücklassung all seiner Habe fliehen und rettete nur das nackte Leben.
Jakob, unser Patriarch, war von anderer Art. Wir dürfen nicht von ihm sagen, daß er ein Mann von gemischten Grundsätzen war, oder daß er ein Kleid von verschiedenartigem Stoff, von Wolle und Leinen, trug. Wohl aber zeigte sich sein Kleid ziemlich oft beschmutzt, und hier in Sukkoth und Sichern trug er ein Gewand, in das Fäden von einem anderen Stoff eingewebt waren. Seine Pläne und Berechnungen bewirkten das erstere: sie verunstalteten ihn und beschmutzten sein Kleid. In Sukkoth ein Haus bauen und in Sichern ein Feld erwerben, entgegen der Berufung Gottes und dem Zeltleben seiner Väter, das sieht dagegen einem Kleide mit Fäden von anderem Stoff sehr ähnlich.
Dennoch ist Jakob nicht mit Lot auf eine Stufe zu stellen. Sein Leben wurde nicht durch gemischte Grundsätze gebildet. Er war in der Tat ein Fremdling, der mit Gott hienieden wandelte. Aber wie Lot, hielt auch er sich freiwillig an dem Ort der Unbeschnittenen auf, und so mußte er die Bitterkeit dieses eigenen Weges fühlen. Manches, was Sodom einst für Lot war, wurde Sichern jetzt für Jakob. Er wird gerettet, aber ist es nicht auch wie durch Feuer? Die Sünde, die Simeon und Levi mit ihren Werkzeugen der Gewalttat begehen, schmettert den armen Jakob ganz zu Boden. Er ist mit seiner Weisheit zu Ende unter jenem Volke, von dem er seinen Grundbesitz erworben, und in dessen Nachbarschaft er sich gleich Lot hatte niederlassen wollen.
Doch damit sind die Dinge auch auf ihrer untersten Stufe angekommen. Durch die Gnade Gottes werden wir Jakob bald aus dem allen entfliehen sehen und von Sichern und seinen
Befleckungen errettet finden.
3 „Ein Wort zu seiner Zeit, wie gut!" Das erfahren wir oft selbst. Zu Zeiten bewirkt ein Wort mehr in und für uns als lange und sorgfältige Unterredungen. Denn „die Kraft ist
Glottes". Ein „Folge mir nach!" von den Lippen Jesu hatte die Kraft, Levi von seiner Beschäftigung als Zolleinnehmer loszumachen, während Petrus in demselben Kapitel eine ganze
Rede ohne Erfolg anhörte, indem er nach wie vor der gutherzige, liebenswürdige und dienstfertige Petrus blieb (siehe Lk 5). „Dein Volk wird voller Willigkeit sein am Tage deiner
Macht", dasselbe Volk, von dem früher gesagt werden mußte: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volke".
Ein Beispiel von dieser Kraft finden wir jetzt in der Geschichte Jakobs in 1Mo 35,1. „Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel", sagt der Herr zu ihm, „und wohne daselbst, und mache daselbst einen Altar dem Gott, der dir erschienen ist als du vor deinem Bruder Esau flohest".
Diese wenigen Worte waren von Kraft begleitet. Sie bildeten, wie mir scheint, den Wendepunkt in dem Leben Jakobs, oder vielmehr in der Geschichte seiner Seele. Sie waren kurz und einfach. Nichts Fremdartiges oder Staunenerregendes begleitete sie. Kein Gesicht, kein Wunder stand mit ihnen in Verbindung. Aber es war ein Tag der Kraft. Das Gesicht der Leiter in
Bethel, die herrliche Erscheinung der himmlischen Heerscharen, das Ringen mit dem göttlichen Fremden in Pniel, das alles hatte Jakob kaum geholfen noch ihn gefördert in der Energie seiner Seele. Aber jetzt kommt Kraft über ihn, und die Kraft Gottes kann ein Werkzeug benutzen, so schwach es auch sein mag. Auf die geringere oder größere Kraft des Werkzeugs kommt es nicht an. Die Hand Gottes kann das Werk Gottes ausführen, wenn sie auch nichts anderes als eine Schlinge und einen Stein, einen Eselskinnbacken oder gar nur Fackeln und Krüge hat. Und der Geist Gottes kann das Werk Gottes in einer Seele ausführen, obwohl Er nur ein Wort, einen Blick oder einen Seufzer dazu benutzen mag.
Durch jene kurzen Worte, mit denen das Kapitel 35 beginnt, wird Jakob überwältigt. „Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel!" Bethel wird gleichsam durch den Finger Gottes aufs neue auf sein Herz und Gewissen geschrieben. Er bricht davor zusammen, wie einst Abraham vor dem Namen „Gott, der Allmächtige", oder wie Petrus (in Lk 22) vor dem Blick des
Herrn Jesus.
Die Kraft ist stets ihr eigener Zeuge. Sie offenbart sich als das was sie ist, ebenso wie das Licht. Die obigen Worte werden, indem sie die Kraft Gottes in sich tragen, jetzt alles für die Seele unseres Patriarchen. Sie äußern ihre Wirkung sofort, ähnlich wie das einmalige Anrühren des Kleides des Herrn seitens des blutflüssigen Weibes inmitten der Volksmenge.
Sobald Jakob sie hört, reinigt er, ohne einen besonderen Befehl dazu abzuwarten, seine Haushaltung und will aus seinen Zelten alle jene Götzen entfernt wissen, die seine Kinder aus
Paddan-Aram mitgebracht hatten. Im Geiste befand er sich schon in Bethel, an dem Orte, wo Gott ihm am Tage seiner Erniedrigung und Trübsal in dem Reichtum Seiner Gnade begegnet war. Bethel wurde aufs neue seinem Herzen bekannt gemacht, ja, lebendiger als je seiner Seele geoffenbart. Klarer als je zuvor las er jetzt die Geschichte der Gnade, und das
Bewußtsein der Gnade erweckte in ihm das Verlangen nach Heiligkeit. So ist es stets. Gnade ohne Heiligkeit ist undenkbar. Das Fest der ungesäuerten Brote folgt auf das Passahfest.
Die heilbringende Gnade Gottes unterweist uns, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste zu verleugnen. Denn die Gnade, ich wiederhole es, verlangt nach Heiligkeit. So will
Jakob, nachdem er in der Kraft des Geistes von Bethel gehört hat, sein Haus und seine Haushaltung rein haben, ohne daß es einer Anleitung, einer Aufforderung oder eines Gebotes dazu bedurft hätte.
Das ist schön und bedeutungsvoll. Befleckung kann unmöglich von jemand geduldet werden, der sich einer überströmenden Gnade bewußt ist und erfreut. Götter und Ohrringe, Götzenbilder und Eitelkeiten, alles zusammen wird unter einer Terebinthe bei Sichern vergraben, und dann wird Sichern verlassen. Der Patriarch macht sich auf mit allem, was sein ist und befindet sich bald auf dem Wege nach Bethel. Er hatte gleichsam das Fest der ungesäuerten Brote in Verbindung mit dem Passah gefeiert, wie später das Volk in Ägypten es tat, aber auch wie Israel verläßt er sogleich sein Ägypten mit dem Stabe in der Hand und den Schuhen an den Füßen. Und der Herr begleitet ihn, wie Er es später in den Tagen des Auszugs bei Israel tat. Auch begleitet Er ihn mit Macht, denn wie der Stab Moses angesichts der Feinde für Israel den Weg öffnete, und Er, Der Sich in der Wolke befand, das Heer der Ägypter verwirrte, so lesen wir jetzt betreffs Jakobs und seiner Haushaltung: „Sie brachen auf. Und der Schrecken Gottes kam über die Städte, die rings um sie her waren, so daß sie den Söhnen Jakobs nicht nachjagten".
Das alles ist in der Tat schön und bedeutungsvoll. Wir finden hier Gnade und Segnung, aber zugleich auch Demütigung. Israel hatte die Kraft des Namens Gottes verloren, und Jakob muß jetzt lernen, daß er auch die Ehre seines eigenen Namens eingebüßt hat. Aber alles soll ihm jetzt zurückgegeben werden. „Gott, der Allmächtige", und „Israel" und „Bethel“ werden in diesem Augenblick der Wiederbelebung aufs neue geoffenbart.
Gott muß als der Gott des Heils angebetet werden. Das ist notwendig in einer Welt wie der gegenwärtigen. Eine solche Anbetung ist die einzige Anbetung „in Wahrheit" (Joh 4,23).
In 3Mo 17 und 5Mo 12 wird der Eifer Gottes im Blick hierauf deutlich ausgedrückt. Als „Heiland" läßt Er Seines Namens gedenken auf einem Schauplatz der Sünde und des Todes. Er sagt durch den Mund Seines Propheten: „Es ist sonst kein Gott außer mir; ein gerechter und rettender Gott ist keiner außer mir" (Jes 45,21)! Das ist eine Offenbarung von Ihm, und auf diese Offenbarung gründet sich jede Anbetung. In Bethel hat Gott Seinen Namen so genannt. Dort war gleichsam Sein Haus, und dort bringt jetzt Jakob seine Opfer dar. Er errichtet einen Altar und nennt den Ort El-Bethel (Gott des Gotteshauses). Für Jakob war dies sozusagen die Stiftshütte der Wüste oder der Tempel auf dem Berge Morija, der Tempel auf der Tenne Omans (1Chr 22,1). Sein Tun war unendlich angenehm für Gott, und laut und unmittelbar gibt Gott Zeugnis von dieser Annehmlichkeit: Er erscheint ihm sogleich bei dem Altar, segnet ihn und spricht: „Dein Name soll hinfort nicht Jakob heißen, sondern Israel soll dein Name sein. Und Er gab ihm den Namen Israel. Und Gott sprach zu ihm: Ich bin Gott, der Allmächtige, sei fruchtbar und mehre dich; eine Nation und ein Haufe von Nationen soll aus dir werden, und Könige sollen aus deinen Lenden hervorkommen. Und das Land, das ich Abraham und Isaak gegeben habe, dir will ich es geben, und deinem Samen nach dir will ich das Land geben. Und Gott fuhr von ihm auf an dem Orte, wo er mit ihm geredet hatte" (1Mo 10-13).
Das war der Ausdruck der Annehmlichkeit dessen, was Jakob tat, sowie der Wonne Gottes an dem Altar Jakobs zu Bethel. Es war ähnlich so, wie wenn später die Herrlichkeit die Stiftshütte (2Mo 40) und nachher den Tempel (2Chr 5) erfüllte. Der Gott der Gnade und des Heils nahm mit Freuden Besitz von Seiner Wohnung und nahm die Anbetung an, die Ihm ein armer Sünder, der eine überströmende Gnade geschmeckt hatte, darbrachte. Nichts kann die Köstlichkeit eines solchen Augenblicks übertreffen. Salomo fühlte das, es überwältigte ihn. Als er sah, wie die Herrlichkeit das Haus, das er gebaut hatte, erfüllte, schüttete er sein Herz in jenen bewunderungswürdigen Worten aus: „Jehova hat gesagt, daß er im Dunkel wohnen wolle. Gebaut habe ich dir ein Haus zur Wohnung, eine Stätte zu deinem Sitze für Ewigkeiten". Der Tempel, in welchem es ans Licht trat, daß die Barmherzigkeit sich wider das Gericht rühmte, hatte die Macht, Jehova aus dem Dunkel, dem zurückgezogenen Sitz der Gerechtigkeit, in die Mitte Seines anbetenden Volkes herabzuziehen.
Wie unübertrefflich schön war das! Und wir sehen das gleiche zur Zeit der Patriarchen bei jenem Altar oder Tempel zu Bethel. Die Herrlichkeit war da. Jehova erschien und sprach mit Jakob, wie später mit Salomo. Lus und die Tenne Omans wurden beide zu dem Hause Gottes. Und Jakob nannte den Ort zum zweiten Male Bethel, jedoch ohne einen jener Zweifel, die seinen Geist befleckt hatten, als er zum ersten Male dort war. Jetzt ist er dort in dem Geiste, in dem Salomo vor der Herrlichkeit in dem Tempel stand, in dem Bewußtsein, daß Gott
Sich wieder zu ihm gewandt hat, und im Genuß Seiner Nähe und Gegenwart.
Hierauf setzt unser Patriarch, in der Freiheit und Kraft von diesem allem, seine Reise fort. Er geht von Bethel nach Bethlehem, und von da nach Mamre im Süden des Landes, wo sein
Vater Isaak wohnte. Aber an keinem dieser Orte hören wir wieder von der Erbauung eines Hauses .oder von dem Erwerb eines Grundeigentums. Es wird uns erzählt von dem Zelt und
Altar Jakobs, von seinem Umherziehen, von dem Begräbnis seines alten Vaters, und schließlich hören wir, daß er in dem Lande wohnte, in dem seine Väter vor ihm gewohnt hatten
(siehe 1Mo 37,1).
Diese Reise war in ihrem sittlichen Charakter in der Tat völlig verschieden von jener, die er früher von Paddan nach dem Gebirge Gilead, und weiter über Machanaim und Sukkoth nach Sichern gemacht hatte. Jakob erhält jetzt keinen Verweis. Wir hören von keinem Ringen, wie zu Pniel. Keine Stimme ertönt, die ihn in bestimmter Weise zur Abreise aus Sichern auffordert. Keine Befürchtungen werden in unserem Herzen erweckt, daß Jakob sein Zelt wieder verlassen oder die Berufung Gottes nochmals vergessen könnte. Das Wort „Bethel" auf den Lippen des Herrn und in dem Ohr Jakobs hatte Wunder getan. „Ein Wort zu seiner Zeit, wie gut!" mögen wir wohl wiederholen. „Siehe, Gott handelt erhaben in seiner Macht; wer ist ein Lehrer wie er" (Hiob 36,22)? Und Er hätte sicher Sein irrendes, aber nun überführtes Kind nach dieser zweiten Szene zu Bethel ermuntern und mit den Worten Jesajas zu ihm sagen können: „So spricht Jehova, dein Erlöser, der Heilige Israels: Ich bin Jehova, dein Gott, der dich lehrt, zu tun was dir frommt, der dich leitet auf dem Wege, den du gehen sollst" (Jes 48,17).
Indessen ist auch jetzt noch nicht alles vollendet. Rubens Missetat zeigt uns das auf sehr betrübende Weise. Doch hat etwas überaus Wichtiges in Jakob stattgefunden: er hat sich über den Boden der Natur erhoben, und sein Herz hat sich dem Geiste der Welt entwunden. Auch befindet er sich bis jetzt keineswegs außerhalb des Platzes der Zucht. Im Gegenteil: er findet Rebekka nicht mehr bei Isaak zu Mamre. Er sieht seine Mutter nie wieder, die Mutter, die ihn so zärtlich gepflegt und so innig geliebt hatte. Er begräbt die Amme seiner Mutter, und mehr als das, er verliert seine geliebte Rahel. Er besitzt allerdings das Unterpfand der Kraft in dem „Sohn seiner Rechten", aber in diesem Sohn zugleich die stete Erinnerung an den Verlust Rahels. Und so steht er immer noch unter der Zucht. Aber er befindet sich jetzt ebensowohl auf dem Wege Gottes, wie unter der Hand Gottes. Darin liegt die Veränderung. Die Zucht macht sich ihm fühlbar, und sie belehrt ihn und erreicht ihren Zweck. Der Pfad ist hell, und seine letzte Stunde wird sich bald als seine herrlichste erweisen.
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Wenn wir jetzt zur Betrachtung von Kapitel 37 übergehen, so finden wir, daß Joseph den ersten Platz sowohl in der Geschichte als auch in den Gedanken des Geistes Gottes einnimmt. Das geht deutlich aus 1Mo 37,2 hervor, wo wir lesen: „Dies ist die Geschichte Jakobs: Joseph, siebenzehn Jahre alt, weidete die Herde mit seinen Brüdern usw." Doch finden wir bis zum Ende des Buches vereinzelte Mitteilungen über Jakob, in denen uns der letzte Teil seiner Geschichte erzählt wird.
Er war jetzt sozusagen ein Witwer. Er erscheint vor uns als ein einsamer, zurückgezogener Mann, der mehr in Erinnerungen als in gegenwärtiger Tätigkeit lebt. Allerdings war er der
Patriarch, der Vater und das gemeinsame Haupt aller Haushaltungen seiner Kinder, und als solcher wurde er auch von ihnen anerkannt. Aber die Angelegenheiten der Familie lagen jetzt mehr in den Händen jener, und er brachte seine Witwerschaft zu ohne, zu versuchen, aufs neue der rührige, energische und talentvolle Weltmann zu sein, der er einst gewesen war.
Seine Zurückgezogenheit war jedoch nicht der seines Vaters Isaak gleich. Isaak wird während der letzten vierzig Jahre seines Lebens nicht mehr gesehen. Er erscheint als beiseitegesetzt, als ein für den Gebrauch ungeeignetes Gefäß, das nicht im Dienst abgenutzt wurde, sondern allmählich verrostete. (vergl. das vorige Kapitel). So waren Jakobs letzte Lebensjahre nicht. Er war allerdings nicht länger ein geschäftiger Mann, aber seine Zurückgezogenheit war keine Untätigkeit. Die reichsten, glücklichsten und reinsten Übungen seiner Seele scheinen gerade jetzt stattzufinden, und sie erweitern und vertiefen sich, je mehr sie fortschreiten. Bestraft und gezüchtigt, wie wir gesehen haben, beginnt seine Seele jetzt die Frucht der göttlichen Bearbeitung zu bringen. Wir können nicht sagen, daß Jakob je völlig die hohe Würde erreicht hat, ein Diener Gottes zu sein, aber doch dürfen wir, am Ende seiner Geschichte stehend, sagen, daß er fruchtbringend für Gott gewesen ist.
Es besteht ein Unterschied zwischen Dienst und Fruchtbarkeit. Der Dienst ist mehr offenbar und tätig, die Fruchtbarkeit kann verborgen sein. Hand und Fuß mögen dienen und sie sollten es tun. Benetzt mit dem Blut und dem öl (vergl. 2Mo 29,20; 3Mo 14,14), sollten sie Werkzeuge in der Hand des Hausherrn sein, allein es ist in dem Verborgenen des Herzens, wo die Bearbeitung des Heiligen durch die Wahrheit in der Kraft des Geistes Frucht für Gott hervorbringen muß. Fruchtbarkeit gibt sich in der Ausbildung jener Tugenden kund, die dem
Volke Gottes seinen wirklichen und wahren Charakter verleihen, — jener Gewohnheiten, Neigungen und Eigenschaften des inneren Menschen, die vor Gott so kostbar sind. Innerlich, oder aus dem Herzen heraus wachsen jene Kräuter, die für Ihn, der die Seele zubereitet, so wohlriechend und schön sind, und die von der befruchtenden Kraft jenes Regens zeugen, der vom Himmel auf sie gefallen ist.
Diese Fruchtbarkeit findet sich, wie ich glaube, bei unserem Jakob in dem letzten Abschnitt seiner Pilgerschaft. Schwache Anzeichen davon haben wir bereits gesehen, als er noch in
Kanaan weilte, doch die weit reichere Ernte wird während der siebzehn Jahre, die er in Ägypten zubrachte, eingesammelt. Denn diese Teilnahme an der Heiligkeit Gottes, diese Frucht der Zucht des Vaters der Geister, ist gewöhnlich eine stufenweise fortschreitende, indem das Licht mehr und mehr zunimmt bis zum vollen Mittagsglanz. So werden wir es auch bei Jakob finden: seine letzte Stunde ist die herrlichste.
Im Verlauf des Kapitels 37 wird uns erzählt, daß die Brüder Josephs auszogen, um zu Sichern ihre Herden zu weiden. Weshalb diese Rückkehr nach Sichern? Geschah sie, weil sich dort das erworbene Grundstück, der Familienbesitz, befand13) Es war gefährlich, mit diesem Ort in Verbindung zu sein. Er hatte sich als ein Fallstrick für die ganze Familie erwiesen, und der Herr hatte sie von dort weggerufen. Wäre Jakob so wachsam gewesen, wie er es hätte sein sollen, so würden wir jetzt wohl nicht wieder von Sichern hören. Aber doch ist es schön zu sehen, daß sich in seinem Herzen Zeichen der Unruhe darüber kundgeben: er sendet Joseph aus, um zu erfahren, wie es seinen Brüdern und ihren Herden dort gehe. Es scheint also in seinem Herzen Besorgnis wegen ihres Aufenthalts an einem so verdächtigen Ort gewesen zu sein. Und das dürfen wir wohl als ein wenn auch schwaches Anzeichen des Wiederauflebens der Seele unseres Patriarchen betrachten.
So befiehlt er auch später, bei der zweiten Sendung nach Ägypten (1Mo 43), seine Söhne der Hand des „allmächtigen" Gottes. „Gott, der Allmächtige", sagt er, „gebe euch Barmherzigkeit vor dem Manne, daß er euch euren anderen Bruder und Benjamin loslasse". Dies zeigt uns, daß Jakob wenigstens einigermaßen die Kraft jenes Namens wiedererkannt hatte, den er einst verloren hatte, und den selbst die ernste Übung zu Pniel ihm nicht zurückgegeben hatte.
Auf Grund dieser Zeugnisse dürfen wir wohl sagen, daß Jakob in jenen Tagen auf göttliche Weise geübt wurde. Im übrigen finden wir aber nicht viel Bemerkenswertes, bis wir ihn seine Vorbereitungen treffen sehen, um nach Ägypten hinabzuziehen. Dieser Augenblick aber ist so wichtig im Blick auf den Fortschritt seiner Seele, daß wir ihn etwas näher betrachten müssen.
Als Jakob hörte, daß Joseph noch am Leben und Herrscher über das ganze Land Ägypten sei, „erstarrte sein Herz, denn er glaubte ihnen nicht". Es war das Tun des Herrn, und es war wunderbar in Jakobs Augen. Er glaubte nicht vor Freude und Verwunderung, denn er erhielt Joseph gleichsam aus den Toten zurück. Das war anfänglich zuviel für ihn. Doch als er die Wagen sah, die der Pharao gesandt hatte, um ihn und alles, was sein war, nach Ägypten hinabzubringen, da lebte sein Geist wieder auf, und ohne weiter zu zögern sagt er: „Genug! Joseph, mein Sohn, lebt noch! Ich will hinziehen und ihn sehen, ehe ich sterbe".
So sprach die Natur in Jakob, sobald er der Botschaft Glauben schenkte, und ohne weitere Aufforderung trat er die Reise nach Ägypten an. Doch ein ruhigerer Augenblick folgte, ein
Augenblick, in dem die Handlungsweise der Natur gleichsam zur Rechenschaft gezogen wurde. „Und Israel brach auf und alles was er hatte, und kam nach Beerseba; und er opferte Schlachtopfer dem Gott seines Vaters Isaak". Das ist bemerkenswert. Weshalb diese Schlachtopfer zu Beerseba? Bei der Abreise von Mamre hatte es keine gegeben. Weshalb also macht Jakob in Beerseba Halt und dient dort dem Gott Isaaks? Dies mag auf den ersten Blick unsere Verwunderung erregen, doch wir werden finden, daß es nur zu gewöhnlich (fast hätte ich gesagt, notwendig) in den Wegen des Volkes Gottes ist.
Die Natur war in Jakob in Tätigkeit getreten, sobald er die Erzählung über Joseph glaubte, und sie hatte ihn sofort auf den Weg nach Ägypten gebracht. Aber jetzt erwachen die geistlichen Gefühle und ziehen die Entschließungen und die Handlungsweise der Natur zur Rechenschaft. Das kommt sehr oft vor. Der gläubige Jakob hat jetzt ein Gefühl der Zurückhaltung, das der Vater Jakob nicht gehabt hatte. Jakob hatte nicht mit dem Herrn beraten, als er diese Reise begonnen hatte, aber der Sinn Christi in ihm bekommt jetzt die Oberhand, und das Urteil der Natur wird geprüft, und zwar geprüft im Lichte des Herrn.
Viele Jahre vorher hatte der Herr zu Isaak gesagt: „Ziehe nicht hinab nach Ägypten" (1Mo 26,2), und zwar in einer Zeit der Hungersnot, wie die gegenwärtige war. Und daran erinnerte sich Jakob, als er Beerseba, den letzten Ort im Süden des Landes, erreichte, der auf dem Wege nach Ägypten lag, und von wo aus sich ihm ein Blick in jenes Land darbot, vor dem
Isaak so bestimmt gewarnt worden war.
Diese Erwägungen verleihen den Opfern Jakobs, die er dem Gott seines Vaters Isaak darbrachte, eine tiefe sittliche Bedeutung. Es ging ohne Zweifel eine mächtige Bewegung in
Jakobs Seele vor, die dem Herrn überaus wohlgefällig war. Wir finden etwas ähnliches in den Tagen der Belagerung Samarias. Die armen Aussätzigen außerhalb der Stadt denken zunächst nur daran, sich selbst zu sättigen und in den Zelten der Syrer für sich zu plündern. Das war naturgemäß. Sie konnten kaum anders handeln. Aber bald nachher beginnt eine andere Gesinnung sich in ihnen zu regen, wie hier in unserem Patriarchen, und sie sagen: „Wir tun nicht recht. Dieser Tag ist ein Tag guter Botschaft; schweigen wir aber und warten, bis der Morgen hell wird, so wird uns Schuld treffen. Und nun kommt und laßt uns hineingehen und es im Hause des Königs berichten" (2Kön 7). Eine bessere Gesinnung begann in ihnen zu tagen, ähnlich der Regung in der Seele unseres Patriarchen. Und dieses Erwachen Jakobs ist vor dem Herrn so wohlgefällig, daß Er sogleich mit den tröstlichen
Worten zu ihm kommt: „Ich bin Gott, der Gott deines Vaters; fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzuziehen; denn zu einer großen Nation will ich dich daselbst machen. Ich will mit dir nach Ägypten hinabziehen, und ich will dich auch gewißlich heraufführen; und Joseph soll seine Hand auf deine Augen legen".
Welch eine Mitteilung! Wie zeigte sie unserem Patriarchen, daß der Herr in seinem Herzen alles gelesen hatte, sowohl seine jetzigen Befürchtungen, als auch seine früheren Gefühle: die Gesinnung des Vaters und die Gesinnung des Heiligen, die Wünsche der Natur und die Regungen des Geistes. Die Worte: „Fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzuziehen", beschwichtigten die Unruhe seiner erneuerten Gesinnung, und die Verheißung: „Joseph soll seine Hand auf deine Augen legen", befriedigte die Wünsche seines Vaterherzens betreffs seines lange verlorenen Kindes. Wie herrlich und vollkommen war das alles! Wie bewies es die Wirklichkeit des Mitgefühls des Herrn mit allem, was sich in Seinem Auserwählten regte! Jakob fand in Ihm Barmherzigkeit und Gnade zur rechtzeitigen Hilfe. „Als mein Geist in mir ermattete, da kanntest du meinen Pfad", sagt David in späteren Tagen, und sicherlich wurde hier von Jakob dasselbe gefühlt und verstanden. Sein Seufzen hatte in seiner ganzen Bedeutung das Ohr Dessen erreicht, der das Herz erforscht. Und danach kann Jakob sich nicht länger in Beerseba aufhalten, noch seine Weiterreise nach Ägypten in Frage ziehen.
Er vollendet sie, und der erste Anblick Josephs wird, wie wir erwarten dürfen, zu einer Gelegenheit der völligsten Freude für sein so lange beraubtes Herz. Ich möchte hier bemerken, daß Jakob in seinen letzten Jahren den Eindruck eines sehr liebevollen alten Mannes macht, und das ist ein weiterer Beweis von dem verbesserten Zustand seines Herzens. Denn ein berechnender Mann, wie Jakob in seinem früheren Leben gewesen war, denkt gewöhnlich wenig an die Bedürfnisse und Wünsche anderer. Er hat naturgemäß sich selbst zuviel zum
Gegenstand. Doch mit Jakob ist es jetzt nicht mehr so. Sein Kummer bei dem Verlust Josephs war tief. Ebenso bitterlich beweint er Simeon, und er will lieber die Schrecken der Hungersnot ertragen, als «sich der Möglichkeit des Verlustes noch eines seiner Kinder aussetzen. Die Adoptierung der Söhne Josephs, sein Mitgefühl mit Joseph bei dessen Betrübnis wegen der Bevorzugung des jüngeren, seine Bezugnahme auf Rahel und ihr Begräbnis zu Bethlehem, seine Erwähnung Leas, sowie seiner Väter und ihrer Frauen in Verbindung mit Machpela, — alles das kommt ebenfalls aus einem liebevollen Herzen. Und der allgemeine Schmerz, den sein Tod hervorruft, zeigt uns, daß er bei seiner Umgebung ein geliebter und liebevoller alter Mann gewesen war.
Doch bei dem allem finden wir, daß er in seiner Person und Handlungsweise in Ägypten der zurückgezogene Mann blieb, der er vordem jahrelang in Kanaan gewesen war, obwohl starke Versuchungen zu einem anderen Verhalten an ihn herantraten. Er hielt an seiner Fremdlingschaft fest, obwohl er jetzt Gelegenheit hatte, die Erde wiederum zum Schauplatz seiner Anstrengungen und Erwartungen zu machen. Wir haben es gern, wenn die Würde eines der Unsrigen auch auf uns ihre Strahlen fallen läßt. Wenn wir der Natur freien Lauf lassen, so werden wir sicher aus unserer Verwandtschaft und unseren Verbindungen möglichst viel Nutzen zu ziehen suchen. Ach! wie gern redet man vor anderen von seiner Verbindung mit irgend jemand, der in dieser Welt hoch angesehen ist! Jakob hatte in Ägypten die allerbeste Gelegenheit, sein Herz in dieser Hinsicht zu befriedigen. Sein Sohn war damals der Stolz des
Landes. Joseph war der zweite Mann in dem Königreich, und Joseph war Jakobs Sohn. Hierin lag eine Versuchung für Jakob, an die Öffentlichkeit zu treten und sich der Welt zu zeigen. Würden sich nicht aller Augen auf ihn, den Vater Josephs, gerichtet haben? Würde man ihm nicht Platz gemacht haben, wann und wo er nur erschienen wäre? Der Geist der
Welt muß ihm das zugeflüstert haben, wie lange nachher zu einem Größeren als Jakob, der nicht er borgte sondern lauter persönliche Herrlichkeiten zur Schau zu stellen hatte, gesagt wurde: „Wenn du diese Dinge tust, so zeige dich der Welt" (Joh 7,4). Aber in dem Geist eines Menschen, der in seiner Weise die Welt überwunden hat, bleibt Jakob während der ganzen siebzehn Jahre seines Aufenthaltes in Ägypten ein zurückgezogener Mann. Er bleibt da ein Fremdling, wo sich alles vereinigte, um ihn zu veranlassen, ein Bürger zu werden.
Soweit ich es zu verstehen vermag, ist dies eine auserlesene Frucht eines gezüchtigten Herzens, eine Frucht göttlicher Zucht, der Beweis eines weitgehenden Teilnehmens an der Heiligkeit Gottes, einer Heiligkeit, die der Berufung Gottes geziemte, denn diese Berufung hatte Jakob zu einem Fremdling und Pilgrim auf der Erde gemacht. In Sichern erinnerte Jakob uns leider an Lot in Sodom, aber hier erinnert er uns an Abraham in seinem Siege über alle Anerbietungen des Königs von Sodom.
Doch in Verbindung mit dieser Trennung von der Welt finden wir nichts von falscher Demut und Erniedrigung. Obwohl Jakob seiner Fremdlingschaft einen so offenbaren, praktischen
Ausdruck gibt, kennt er doch seine Würde vor Gott und legt sie auch an den Tag. Wenn er vor den Pharao tritt, und wenn er ihn wieder verläßt, segnet er ihn (1Mo 47). Das ist beachtenswert. Wohl bekennt er sich in der Gegenwart des Königs als einen Fremdling auf der Erde, und sogar als einen armen und müden Pilgrim, aber doch segnet er ihn bei seinem Eingang und Ausgang, wie einer, der weiß, was er durch die Auserwählung und Gnade Gottes ist, denn „ohne allen Widerspruch wird das Geringere von dem Besseren gesegnet". Er fordert nichts von dem König, obgleich er die Erfüllung aller seiner Wünsche sicher erwarten konnte. Er verhält sich schweigend und ablehnend gegenüber allem, was der Pharao oder Ägypten für ihn tun konnte, aber er redet als der Bessere, der den Geringeren wieder und wieder segnet. Sein Verhalten gleicht dem Verhalten des gebundenen Paulus vor den römischen Großen und Würdenträgern. Den König Agrippa und alle, die bei ihm waren, läßt der Apostel wissen, daß er, ihr Gefangener, das gute Teil besitzt und daß er ihnen allen nichts besseres wünschen kann, als daß sie werden möchten wie er. Das ist Glaube, und fürwahr ein kostbarer Glaube, mag er sich nun in einem gefangenen Apostel oder in einem als Fremdling weilenden Patriarchen finden. Er verherrlicht die Gnade, und das ist die eigentliche Beschäftigung des Glaubens. Rom und Ägypten besitzen den Reichtum und die Macht der Welt, nach denen die Menschen eifersüchtig begehren, und die sie rühmen. Paulus und Jakob aber tragen ein Geheimnis in sich, das sie eine völlig andere Sprache reden läßt.
Das ist sehr bedeutungsvoll bei unserem Jakob. Die Herrlichkeit ist in einem irdenen Gefäß verborgen, aber sie ist da, und das Gefäß weiß, daß sie da ist. Jakob tut nichts in Ägypten, um seinen Namen in der Geschichte der Welt bekanntzumachen. Er bekümmert sich weder um Ägypten, noch um das, was darin vorgeht. Er kennt aber ein Geheimnis, das seinen
Geist über das Land und dessen Bewohner erhebt. Andere mögen in Ägypten grünen und gedeihen. Er bringt nur den Rest seiner Jahre dort zu (1Mo 47,27.28).
Müssen wir nicht diesen Weg des Geistes Gottes mit Jakob bewundern? Zu einem Leben, wie das seinige gewesen war, paßte ein solches Ende durchaus. Es ist allerdings betrübend, eines solchen Ruhepunktes am Ende der Reise zu bedürfen, aber wenn er erforderlich ist, so ist es wenigstens schön zu sehen, daß er in dieser Weise fruchtbringend ist. Während der langen Bearbeitung seiner Seele durch den „Vater der Geister" im Laufe jener siebzehn Jahre in Ägypten saß Jakob, wie ich anzunehmen wage, zu den Füßen des Herrn und überdachte mit einiger Beschämung des Angesichts die hinter ihm liegende Zeit, und damit begann die Läuterung in seiner Seele.
Doch als jene stillen und zurückgezogenen Jahre sich ihrem Ende nahten, finden wir ihn auf einmal rührig und eifrig. Er redet mit Joseph bezüglich seines Begräbnisses. Er verlangt von ihm nicht nur das Versprechen, sondern auch den Schwur, daß er ihn in dem Lande seiner Väter begraben wolle (1Mo 47,30). Auch das ist sehr schön. Wir hören nicht, daß er im Blick auf die Umstände seines Lebens in Ägypten je besorgt gewesen wäre. Er ist bereit, das zu nehmen, was man ihm gibt, und das zu sein, was man aus ihm macht. Aber wenn es sich um sein Begräbnis handelt, so tritt er mit aller Entschiedenheit auf. Er will es mit einem Eide bekräftigt haben, daß sein Sohn seinen Leichnam in das Land bringen werde, das die von Gott zu ihm geschehene Verheißung bezeugte. Er ist jetzt so eifrig und bestimmt, wie er vorher unbekümmert und gleichmütig gewesen war. Denn der Glaube will seinen Rechtstitel gern deutlich, vollständig und unverletzlich sehen. Abraham wollte das Erbteil durch einen Bund zugesichert haben, nicht nur durch ein Wort (1Mo 15), und Jakob verlangt jetzt von Joseph, daß er ihm ein Begräbnis, wie es mit den Hoffnungen eines Kindes Abrahams im Einklang stand, nicht nur verspreche, sondern auch eidlich zusichere.
Alles das zeigt uns einen anderen Jakob, als wir ihn früher kennengelernt haben. Er ist jetzt ein Teilnehmer der Heiligkeit Gottes. Seine Gesinnung und sein Charakter sind in
Übereinstimmung mit der Berufung Gottes. Er ist ein Fremdling mit Gott auf der Erde, aber er steht in der sicheren und gewissen Hoffnung des verheißenen Erbes. Das ist nicht
Dienst, aber es ist eine schöne Frucht in dem inneren Menschen.
In dem folgenden Kapitel 48 begegnen wir jener einen Handlung in seinem Leben, die durch den Geist als eine Handlung des Glaubens gekennzeichnet wird. (Heb 11,21). Doch das ganze Kapitel ist schön. Auf seiten Gottes ist alles Gnade, und in dem Herzen Jakobs alles Glaube. Der Glaube in Jakob nimmt die Entscheidungen an, welche die Gnade Gottes trifft.
Die Gnade nimmt die Söhne Josephs, die nach dem Fleische kein Anrecht hatten, zu Kindern an und gibt ihnen den Platz und das Teil des Erstgeborenen, das doppelte Teil, als ob sie
Ruben und Simeon wären. Die Gnade stellt den jüngeren über den älteren. Und die Gnade auch gibt Joseph, oder dem zum Erstgeborenen Angenommenen, ein Unterpfand seines zukünftigen Erbteils (1Mo 48,22). Diesem allem unterwirft sich Jakob und ist gehorsam. Im Glauben erkennt er die Entscheidungen der Gnade an. Die Natur mag sich dagegen sträuben, aber Jakob ist dem ihm anvertrauten Wort der Gnade treu. Joseph war bewegt, als Jakob Ephraim über Manasse stellte. Jakob fühlte mit ihm, aber er erfüllte das ihm übertragene Wort Gottes, mag auch die Natur in Joseph dadurch überrascht oder verwundet werden. Lange Jahre vorher hatte er bei einer ähnlichen Gelegenheit auf die Stimme der Natur in seiner Mutter Rebekka gelauscht, aber jetzt hört er nicht mehr auf sie.
Es ist wirklich schön zu sehen, wie der Glaube so die Entscheidungen der Gnade annimmt. Doch in allem diesem war Jakob auch Gottes Mund. Er war nicht allein dem Vorsatz und
Ratschluß der Gnade gehorsam, sondern wurde auch von Gott als ein Gefäß Seines Hauses benutzt, um Seine Gedanken auszulegen und Seine Vorsätze in diesen Geheimnissen der
Gnade: die Sohnschaft, das Erbteil und das Unterpfand, darzustellen. Und da dieses Gefäß sich so tauglich für den Gebrauch des Hausherrn erweist, wird es noch weiter benutzt.
In 1Mo 49 dient Jakob immer noch als der Mund Gottes, als Verkünder Seiner Aussprüche. Er ruft seine zwölf Söhne herbei und segnet sie. Unter der Leitung des Geistes spricht er die Worte und Urteile Gottes über sie aus. Doch dieser Augenblick stellte ihn auf eine harte Probe. Er kostete ihn weit mehr als alles bisher Dagewesene. Bei der Bevorzugung Ephraims hatte er nicht auf die Stimme der Natur in seinem Sohn geachtet, jetzt aber darf er dieser Stimme in sich selbst kein Gehör schenken. Er geht durch diese schmerzliche und demütigende Szene, indem er ihre Bitterkeit ohne Zweifel wiederholt fühlt, aber er geht bis zum Ende hindurch. Er muß jetzt unter der Leitung des Geistes und als der Mund Gottes die
Wege seiner Söhne in den vergangenen Tagen wieder durchgehen und die Frucht dieser Wege in der Zukunft schildern.
Vieles konnte er gewiß nur mit einem verwundeten Herzen und mit Erinnerungen aussprechen, die sehr demütigend für ihn selbst waren. Denn diese Worte über seine Söhne waren eine Art Gericht über ihn selbst wegen seiner früheren Sorglosigkeit betreffs seiner Kinder. Aber trotz allem geht er voran und beendigt seinen Dienst als Verkünder der Aussprüche
Gottes, und zwar mit Gefühlen und Gesinnungen, die uns neue Beweise von seinem gereinigten Seelenzustand geben.
Levis und Simeons Missetat kommt vor ihn, aber er empfindet sie jetzt in einer Weise, von der wir an dem Tage, da sie begangen wurde, keine Spur in ihm wahrnehmen. Damals beunruhigte sie ihn wegen des Unheils, das sie ihm möglicherweise von seiten seiner Nachbarn bereiten konnte. „Ihr habt mich in Trübsal gebracht", sagte er, „indem ihr mich stinkend machet unter den Bewohnern des Landes, unter den Kanaanitern und unter den Perisitern. Ich aber bin ein zählbares Häuflein, und sie werden sich wider mich versammeln und mich schlagen, und ich werde vertilgt werden, ich und mein Haus" (1Mo 34,30). Das war seine Gesinnung, während er sich als Bürger zu Sichern befand. Aber jetzt steht er auf einem weit höheren und reineren Boden. Seine Seele verwirft die Missetat selbst. Die Söhne hatten eine traurige Sünde begangen. Das genügt, und er will nicht, daß seine Ehre sich damit vereinige.
Wenn er dann seine Augen auf die Unreinigkeit Rubens richtet, so ist er tief betroffen. Und wenn endlich die Abtrünnigkeit Dans vor ihn kommt, so gerät seine ganze Seele in Bewegung, und er nimmt seine Zuflucht zu der Hoffnung auf die Rettung Jehovas. „Dan wird eine Schlange sein am Wege, eine Homotter am Pfade, die da beißt in die Fersen des Rosses, und rücklings fällt sein Reiter. Auf deine Rettung harre ich, Jehova!"
Welche Gefühle finden wir hier, welch eine Kraft war vorhanden! Wie schön erfüllt dieses Gefäß seinen Dienst in dem Hause Gottes. David fühlte auch mehr als Kummer bei dem
Verlust Absaloms. Die Ermordung seines Sohnes brachte ihm seine Sünde ins Gedächtnis zurück. Und hier wird Jakob in die Ratschlüsse Gottes eingeweiht, indem er völlig und persönlich mitleidet und sein eigenes Teil erhält in Erinnerungen, die sein Gewissen tief berührt haben müssen. Der sterbende Patriarch kündigte nicht nur diese Urteilssprüche Gottes an, sondern er fühlte sie auch. Er war nicht bloß ein Gefäß, sondern ein lebendiges Gefäß. Und er war Dem treu, Der ihn zu Seinem Dienst bestimmt hatte, mochte der Dienst auch voll Demütigung und Bitterkeit für ihn sein.
Wir haben Jakob „eine Zeitlang stumm" gesehen. Das war der Charakter mancher Jahre unseres Patriarchen gegen das Ende seines Lebens hin. Aber jetzt ist sein Mund durch den
Glauben geöffnet, und einmal geöffnet, gebraucht Gott ihn in reichem Maße, um Seine Aussprüche zu verkünden. Ähnliches finden wir bei Zacharias in Lukas 1. Dieser war auch, wie wir wissen, eine Zeitlang stumm. Aber im Glauben schrieb er seines Kindes Namen auf eine Tafel, und dann benutzte ihn der Herr als Seinen Propheten.
*
Hiermit endet die Geschichte Jakobs. Ich denke, daß wir die Nutzanwendung für uns aus ihr gezogen haben. Die Wege des Herrn mit Jakob zeigen uns, wie unermüdlich Er allezeit mit
Seinen törichten und verkehrten Kindern beschäftigt ist. In dieser beständigen inneren Bearbeitung sehen wir sowohl Mannigfaltigkeit als Geduld. Jakob hatte verschiedene Aufgaben zu lernen, und Der, mit Dem er es zu tun hatte, setzte Sich gleichsam in geduldiger Gnade hin, um sie ihn alle zu lehren. Bethel, Pniel, dann wieder Bethel und endlich Beerseba bezeugen dies, wie wir gesehen haben. Und während eines wechselvollen Lebens zu Hause und in der Ferne, in der Jugend und im Mannesalter, unter Fremden und an der Seite seiner
Eltern, zeigt Jakob vieles, was eine Züchtigung nötig machte, und immer aufs neue wird er über dieselbe Aufgabe belehrt.
Dies erinnert uns an die Jünger in den Tagen des Herrn. In wie mannigfacher Weise mußte der Herr sie zurechtweisen und belehren! Und am Ende war es noch so wie im Anfang, aber die Geduld ihres göttlichen Lehrers blieb ebenfalls gleich bis ans Ende. Die Unwissenheit und Selbstsucht, welche die Jünger verrieten, die fortwährenden Fehler, die sie machten, die mancherlei Wege, durch die sie der Gesinnung ihres Meisters zuwider handelten, alles das verherrlicht die Güte, die sie leitete. Es erinnert uns auch an Den, Welcher das Verhalten Israels in der Wüste vierzig Jahre lang ertrug. Und es mag auch uns selbst die viele Geduld und Gnade ins Gedächtnis rufen, die wir täglich von derselben Hand erfahren.
Wie wir bei Beginn dieser Betrachtung sagten und in ihrem Verlauf gesehen haben, wird uns in Jakob die Zucht eines Kindes dargestellt. Und Zucht ist heilsam und tut gut wie
Arznei! Wenn wir sie nötig haben, ist sie das einzig Richtige für uns. Als in den Tagen Samuels Israel einen König forderte, würde es da gut für sie gewesen sein, wenn der Herr ihnen einen David gegeben hätte? Der Herr hatte David für sie im Rückhalt, aber würde es wohl an der Zeit, würde es heilsam für sie gewesen sein, wenn David ihnen gleich gegeben worden wäre, als sie mit einem aufrührerischen Willen nach einem König verlangten? Keineswegs. Sie mußten vielmehr erst zur Erkenntnis der Bitterkeit ihres eigenen Weges gebracht werden. Ein Saul muß gegeben werden, wenn Israel einen König fordert. Das war Zucht, und es war das einzige, was heilsam für sie sein konnte. Aber wenn sie die Bitterkeit ihres eigenen Weges geschmeckt haben, dann holt der Herr in gnädigem Erbarmen das hervor, was Er für sie im Rückhalt hat: einen Mann nach Seinem Herzen, der Sein ganzes Wohlgefallen tun wird.
Wie vollkommen ist das alles! Die Liebe ist immer die Liebe, mag sie nun Zucht ausüben oder Trost spenden, Arznei darreichen oder Nahrung geben. Und dies ist die besondere Unterweisung, die uns in der Geschichte unseres Patriarchen gegeben wird.
Mit Machpela und seinem Begräbnis endigt Jakob seine letzten Unterredungen mit seinen Söhnen, wie er sie damit begonnen hatte (1Mo 47,29; 1Mo 49,29). Er besaß bereits Josephs eidliche Zusage betreffs der Überführung seines Leibes nach Kanaan, aber jetzt legt er noch einmal allen dieselbe Verpflichtung auf. Der Tod war wichtiger für Jakob als das Leben. Das Leben hielt ihn in Ägypten fest, der Tod sollte ihn wieder nach Kanaan bringen. Der Tod vereinigte ihn mit dem Gott und den Verheißungen seiner Väter. Die Hoffnungen des Glaubens lagen jenseits des Lebens und außerhalb Ägyptens. Im Geiste sagte er gleichsam: „ich möchte lieber ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein" (vergl. 2Kor 5,8).
Soweit der Glaube eines Patriarchen dies ausdrücken konnte, sprach Jakob es aus. Und am Schluß lesen wir: „Als Jakob geendet hatte, seinen Söhnen Befehle zu geben, zog er seine
Füße aufs Bett herauf und verschied, und wurde versammelt zu seinen Völkern".
Es War sicher keine dürre und unfruchtbare Zeit, die er in Ägypten zugebracht hatte. Obwohl die Geschäftigkeit des Lebens für ihn und seine Hände vorüber war, so verrostete er doch nicht, wie wir das von Isaak sagen mußten. Wir sehen mit Freude, daß seine letzten Tage seine besten waren, und wir freuen uns noch mehr über die Gnade, die seiner Reise ein solches Ende bereitete.
Es ist in der Tat köstlich für alle Auserwählten Gottes, hier eine solche Probe (wenn ich es so nennen darf) von göttlicher Geduld, Weisheit und Güte vor sich zu haben. Sie nimmt wirklich einen besonderen Platz ein unter all den mannigfaltigen Formen und Charakterzügen, welche die Gnade in Bezug auf die Bedürfnisse der Heiligen annimmt. Jakobs letzte
Tage waren seine goldenen Tage. Für andere mag Ägypten ein Land Gosen gewesen sein wegen ihrer Herden. Für Jakob war es das nicht. Für seine Seele aber war es das reichste, schönste und am besten bewässerte Land, dessen sich sein Geist je erfreut hatte. Es war für ihn noch wirklicher die Pforte des Himmels, als Bethel es gewesen war, und er befand sich hier mehr vor dem Angesicht Gottes, als einst zu Pniel. Er hatte hier den Herrn im verborgenen und in der Stille bei sich, aber in wirklicher, lebendiger Kraft. Inmitten von dem, was ihm die Erde hätte heimisch machen können, war er ein Fremdling. In Ägypten war Jakob ein befreiter und von allem losgemachter Mann, so wie er von Anfang an und auf dem ganzen Wege ein Auserwählter und Berufener gewesen war.
12 In den jüdischen Schriften wird gesagt, daß er 77 Jahre alt war.↩︎
13 Dieses Grundstück wird allerdings zuletzt nur ein Begräbnisplatz wie Machpela. Allein es wurde nicht wie Machpela von vornherein zu diesem Zweck gekauft.↩︎