Schriften von John Gifford Bellett
Die moralische Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus als Mensch
Überwinder, Mann der Schmerzen und Wohltäter der Welt gegen überÜberwinder, Mann der Schmerzen und Wohltäter der Welt gegen über
Wer könnte alle die schönen Züge bei dem Herrn Jesus aufspüren und verfolgen? Kein menschliches Auge ist imstande, die ganze Fülle dieses Gegenstandes zu erkennen. Welcher menschliche Charakter läßt nicht durch seine eigenen Schatten und Unvollkommenheiten den Glanz dieser moralischen Schönheit unseres Herrn um so klarer hervorstrahlen? Keiner von uns stellt sich Johannes oder Petrus oder einen der anderen Apostel als hartherzig und lieblos vor; im Gegenteil, wir fühlen, daß wir sie zu Vertrauten unserer Sorgen und Kümmernisse hätten machen können. Dennoch aber zeigt uns jener bereits erwähnte kurze Bericht in Markus 6, daß sie sich alle bei einem Fehler ertappen ließen, daß sie sich alle in einer gewissen Entfernung hielten, als die hungrige Menge sich an sie wandte und ihre Ruhe zu stören drohte, während für den Herrn Jesus gerade das der Augenblick und die Gelegenheit war, Sich zu nähern. Alles das, lieber Leser, zeigt uns doch, wie wunderbar der Herr Jesus ist. „Ich kenne niemanden”, hat einmal jemand gesagt, „der so gut und so herablassend wäre wie Er, niemanden, der wie Er zu armen Sündern herabgestiegen ist. Ich setze größeres Vertrauen auf Seine Liebe, als auf die Liebe einer Maria oder irgendeines anderen Heiligen; nicht nur Seine Macht als Gott, sondern die Zärtlichkeit Seines Herzens als Mensch zieht mich an. Niemand zeigte oder besaß je eine solche Zärtlichkeit; niemand hat mir je ein solches Vertrauen eingeflößt. Mögen sich andere an die Heiligen oder an die Engel wenden, wenn sie wollen; ich habe ein größeres Vertrauen zu der Güte des Herrn Jesus”. - So ist es tatsächlich; und ich wiederhole, jener Bericht in Markus 6 bestätigt das, indem er uns einerseits die Engherzigkeit der Besten unter uns, eines Petrus und Johannes, offenbart, und andererseits die volle, unermüdliche und dienende Gnade des Herrn Jesus ans Licht stellt.
Wir finden aber in dem Herrn nicht nur Tugenden und Gnaden vereinigt, sondern auch einander scheinbar ausschließende Charakterzüge. Das zeigen uns Seine Beziehungen zur Welt, als Er hier wandelte. Er war zugleich ein Überwinder, ein Mann der Schmerzen und ein Wohltäter. Welch eine moralische Herrlichkeit strahlt uns aus dieser Zusammenfügung entgegen! Er überwand die Welt, indem Er alle ihre Reize und Anerbietungen ausschlug; Er litt von seiten der Welt, weil Er für Gott gegen den Lauf und den Geist der Welt Zeugnis ablegte; und Er schüttete Seine Segnungen über die Welt aus, indem Er beständig Seine Liebe und Seine Macht walten ließ und Böses mit Gutem vergalt. Die Versuchungen der Welt dienten nur dazu, um aus Ihm einen Überwinder zu machen; das Verderben und der Haß der Welt, um aus Ihm einen Mann der Schmerzen, und das Elend der Welt, um aus Ihm einen Wohltäter zu machen. Welch eine Vielzahl moralischer Herrlichkeiten findet sich hier miteinander vereinigt!
Der Herr Jesus gab in Seiner Person eine treffende Erläuterung der unter uns oft gehörten Worte: „in der Welt, aber nicht von der Welt”, ein Ausdruck, der den Worten des Herrn entnommen ist: „Ich bitte nicht, daß du sie aus der Welt wegnehmest, sondern daß du sie bewahrest vor dem Bösen. Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin” (Joh 17,15.16). Auf Ihn traf dieses Wort während Seines ganzen Lebens auf der Erde in vollem Umfang zu; denn Er war stets in der Welt und wirkte inmitten ihrer Unwissenheit und ihres Elends. Niemals aber war Er von der Welt; nie nahm Er teil an ihren Erwartungen und Plänen, noch wandelte Er in ihrem Geist. Doch in Johannes 7 zeigt Er Sich, wie ich glaube, in ganz besonderer Weise in diesem Charakter. Es war die Zeit des Laubhüttenfestes, die Krone der Freudentage in Israel, der Vorgeschmack des kommenden Reiches, die Zeit der Einsammlung der Ernte, wobei sich das Volk nur daran zu erinnern hatte, daß es ehemals in der Wüste umherirrte und in Zelten wohnte. Die Brüder des Herrn drängten Ihn, eine Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen, wo „alle Welt”, wie wir sagen würden, in Jerusalem versammelt war. Sie wünschten, daß Er Sich hervortun und Sich, wie wir uns ausdrücken, als „einer der Großen dieser Welt” zeigen möchte. „Wenn du”, sagen sie, „diese Dinge tust, so zeige dich der Welt”. Doch Jesus weigert sich, ihrem Wunsch zu folgen. Für Ihn war die Zeit, das Laubhüttenfest zu feiern, noch nicht gekommen. Er wird einmal, wenn Sein Tag angebrochen sein wird, Sein Reich übernehmen; dann wird Er groß sein, und Seine Herrschaft wird sich ausbreiten bis zu den Enden der Erde; aber jetzt führte Sein Weg zum Altar und nicht zum Thron. Er will nicht auf das Fest gehen, um von dem Feste zu sein, obwohl Er Sich an der Stätte des Festes einfindet. Und darum sehen wir Ihn auch, sobald Er in Jerusalem angekommen ist, als Diener, nicht aber in Seiner Würde auftreten; auch tut Er kein Wunder, wie es Seine Brüder gewünscht hatten, um dadurch die Aufmerksamkeit der Menschen auf Sich zu lenken, sondern Er belehrt andere und verbirgt Sich Selbst hinter den Worten: „Meine Lehre ist nicht mein, sondern dessen, der mich gesandt hat”.
Wie bemerkenswert und charakteristisch ist das alles! Es war etwas von der Herrlichkeit des Herrn Jesus, des vollkommenen Menschen, in Seinem Verhältnis zur Welt. Er war ein Überwinder, ein Mann der Schmerzen und ein Wohltäter in der Welt; aber Er war nicht von der Welt. Wenn Er Sich mit Leiden befaßt, die, wenn ich so sagen darf, draußen liegen, so erblicken wir eine bewundernswerte Zärtlichkeit, verbunden mit der Macht zu heilen; handelt es sich aber um die Trübsale der Jünger, so finden wir Ihn ebensowohl fest wie zärtlich. Der Aussätzige in Matthäus 8 war ein Fremdling. Er kommt mit seinen Leiden zu Jesus und findet sofort Heilung. Im gleichen Kapitel wenden sich auch die Jünger in ihrer Bedrängnis während des Sturms an Ihn; aber sie empfangen mit der Hilfe auch einen Verweis. „Was seid ihr furchtsam, Kleingläubige”? sagt Er zu ihnen; und doch hatte der Aussätzige einen ebenso kleinen Glauben wie die Jünger. Denn wenn diese schreien: „Herr, rette uns, wir kommen um!” sagt jener: „Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen.” Aber die Jünger wurden getadelt, der Aussätzige nicht; und zwar mit Recht, denn die beiden Fälle waren durchaus verschieden. In dem einen handelte es sich nur um das Leiden, in dem anderen neben dem Leiden auch um die Seele. Infolgedessen antwortete der Herr dem Aussätzigen durch eine unvermischte Liebe, während Er im Blick auf die Jünger mit der Zärtlichkeit den Tadel verband. Die Verschiedenheit der Beziehungen zu Ihm (als Jünger oder als Fremdling) erklärt die Verschiedenheit in der Handlungsweise des Herrn und zeigt uns, mit welcher Vollkommenheit Er Dinge unterschied, die zwar eine große Ähnlichkeit miteinander hatten, die aber doch nicht gleich waren.
Doch betrachten wie diese Vollkommenheit des Herrn noch etwas näher. Obwohl Er Selbst Zurechtweisungen gibt, so erlaubt Er doch nicht, daß andere das in leichtfertiger Weise tun. Ähnliches finden wir auch in früheren Tagen. Während Gott Selbst Seinen Knecht Mose demütigte, gestattete Er nicht, daß Mirjam und Aaron ihm Vorwürfe machten (4. Mose 11 und 12). Und während Israel in der Wüste oft durch die Hand Gottes gezüchtigt wurde, trat Gott in Gegenwart Bileams und anderer Widersacher stets wie einer auf, der keine Ungerechtigkeit in Israel sah und nicht erlaubte, daß irgendwelche Zauberei wider das Volk den Sieg davontrug. Ebenso treffend und schön ist das Auftreten des Herrn Jesus bei der Unzufriedenheit und dem Murren der zehn Jünger über ihre zwei Gefährten (Mt 20), sowie Sein Verhalten Johannes dem Täufer gegenüber; obwohl Er, gleichsam im Verborgenen, ein Wort der Warnung und Zurechtweisung an diesen richtete (ein Wort, das wohl nur von dem Gewissen des Johannes verstanden werden konnte), wandte Er Sich an die Menge ausschließlich mit Ausdrükken der höchsten Anerkennung über Johannes.
Es gibt noch viele andere Beispiele von dieser Gnade, die Dinge, die verschieden waren, auch unterschied. Selbst in Seiner Handlungsweise Seinen Jüngern gegenüber kam ein Augenblick, wo Treue nicht länger am Platz war, sondern wo nur die Liebe ausströmen durfte; ich meine die Abschiedsstunde (Joh 14-16). Da war es zu spät, „fest” zu sein; der Augenblick erlaubte es nicht. Es war eine Stunde, auf die das Herz Anspruch erhob; die Erziehung der Seele mußte dieses Mal ganz außer acht bleiben. Freilich offenbart der Herr Seinen Jüngern neue Geheimnisse hinsichtlich der innigsten und vertrautesten Beziehungen zwischen ihnen und dem Vater; aber in allen Seinen Worten findet sich nichts, was nach einem Verweis aussieht. Jetzt sagt Er nicht: „Kleingläubige!” oder: „Seid ihr noch unverständig?” Das einzige Wort, das vielleicht wie ein Verweis klingen könnte, dient nur dazu, die Jünger eine Wunde erkennen zu lassen, die Sein Herz erlitten hatte, damit sie so Seine Liebe zu ihnen völliger verstehen möchten. Das war in den vollkommenen Gedanken und Zuneigungen des Herzens des Herrn Jesus die Heiligkeit des Schmerzes der Scheidestunde; und auch wir fühlen in unserem geringen Maß wenigstens so viel davon, daß wir fähig sind, den vollen Ausdruck davon in dem Herrn Jesus würdigen und bewundern zu können. „Umarmen hat seine Zeit”, sagt der Prediger, „und sich vom Umarmen fernhalten hat seine Zeit”. Das ist eine Verordnung im Gesetzbuch der Liebe, und der Herr Jesus beobachtete sie.
Jesus läßt Sich niemals zur Milde verleiten, wenn die Gelegenheit Festigkeit erforderte, obwohl Er an so vielen Umständen vorüberging, die die menschliche Empfindlichkeit geahndet hätte, und die nach dem sittlichen Gefühl des Menschen geahndet zu werden verdienten. Er wollte Seine Jünger nicht gewinnen durch das armselige Mittel einer liebenswürdigen Natur. Von den Feueropfern Jehovas war sowohl „Honig” als auch „Sauerteig” ausgeschlossen. Im Speisopfer durfte nichts davon Vorkommen (3Mo 2,11); und so zeigte sich auch in dem Herrn Jesus, dem wahren Speisopfer, nichts von beidem. Es war nicht eine rein menschliche, natürliche Liebenswürdigkeit, die den Jüngern in ihrem Lehrer entgegentrat. Bei Ihm war jene Höflichkeit nicht, die stets den Geschmack anderer zu erraten und zu befriedigen trachtet. Er suchte nicht Sich angenehm zu machen, und doch zog Er die Herzen in der innigsten Weise an Sich; und das ist Macht. Es ist immer ein Beweis von sittlicher Kraft, wenn man das Vertrauen eines anderen erlangt, ohne es zu suchen; denn in diesem Fall hat das Herz die Wirklichkeit der Liebe erkannt. „Wir alle wissen”, sagt ein anderer Schreiber, „wahre Zuneigung von bloßer Aufmerksamkeit und Freundlichkeit wohl zu unterscheiden; das eine kann in großem Maße vorhanden sein, ohne daß sich von dem anderen auch nur eine Spur vorfindet. Manche mögen meinen, sich durch Aufmerksamkeiten das Vertrauen anderer erwerben zu können; aber wir wissen nur zu wohl, daß nichts anderes als Liebe dazu imstande ist”. -Wie wahr ist das! Eine bloß äußerliche Freundlichkeit ist Honig; und wie viel von diesem armseligen Material mag sich wohl unter uns finden! Wir streben vielleicht nach nichts Höherem, als den Sauerteig auszufegen und die Leere mit Honig anzufüllen, und denken so gern, daß dann alles in Ordnung sei. Wenn wir nur liebenswürdig sind im Umgang und anderen zu gefallen trachten und alles Mögliche tun, um mit jedem auf gutem Fuß zu leben, unseren Platz auf dem wohlgeordneten und glatten Boden der menschlichen Gesellschaft geziemend ausfüllen, so sind wir mit uns selbst zufrieden, und andere haben auch nichts an uns auszusetzen. Aber heißt das Gott dienen? Ist das ein Speisopfer? Glauben wir wirklich, daß das einen Teil der moralischen Herrlichkeit des vollkommenen Menschen ausmacht? Gewiß nicht! Wir mögen vielleicht meinen, daß nichts besser und kräftiger wirken kann, um jenes hohe Ziel zu erreichen; aber dennoch bleibt es eins der Geheimnisse des Heiligtums, daß kein Honig angewendet werden durfte, um dem Opfer einen lieblichen Geruch zu verleihen.