John Gifford Bellet
Schriften von J.G. Bellet
Die Welt vor der Flut und die Patriarchen
1Mo 1 - 5 - Die Welt vor der Flut1Mo 1 - 5 - Die Welt vor der Flut
Das erste Buch Mose hat stets eine große Anziehungskraft auf seine Leser ausgeübt, und dies hat seinen Grund wohl hauptsächlich in der Einfachheit seiner Erzählungen. Das menschliche Leben wird hier in seiner Kindheit und in noch völlig ungekünstelter Form dargestellt; die Szenen sind familiär, die Sitten einfach und die Zustände so, wie sie durch die Familienpflichten und Neigungen gebildet wurden. Und gerade das ist es, was dieses Buch zu seiner so reichen Quelle der Freude für das Herz macht. Wir fühlen uns von den einfachen, ja oft rührenden Bildern mächtig angezogen. Die Frau eines reichen Mannes, der seine Knechte nach Hunderten, und seine Herden nach Tausenden zählte, knetet Kuchen für den Wanderer, und die Tochter eines anderen, ebenfalls reichen Mannes wird von Fremden beim Tränken der Herden ihres Vaters angetroffen, ohne daß sie sich irgendwie veranlaßt fühlte, ein Wort zu ihrer
Entschuldigung zu sagen.
Doch fehlte es bei diesem allem durchaus nicht an wahrem Anstande. Die Ehrerbietung, die man allen Menschen und vor allem dem Alter schuldig ist, wurde ebensowohl verstanden, wie die Liebe zu Freunden und Verwandten. Obgleich einfach und kunstlos, war es doch kein rohes Leben, sondern durch einen Einfluß gekennzeichnet und bestimmt, der das Leben in Wahrheit bilden und zieren kann, und dieser Einfluß war die Kenntnis Gottes. Obwohl jenen ersten Zeiten der Fortschritt und die sogenannten Verfeinerungen und Verbesserungen der Zivilisation völlig unbekannt waren, so waren die Zustände doch nicht roh, und dies, wie schon gesagt, deshalb nicht, weil die Kenntnis von Gott vorhanden war. Die Hand Gottes wurde gefühlt, während die Begriffe des verfeinerten Lebens weder Zeit noch Gelegenheit gehabt hatten, das Bild zu zieren oder zu beschmutzen.
Die Sitten jener frühesten Tage der menschlichen Geschichte mögen daher wohl hie und da etwas eigentümlich erscheinen, aber sie sind äußerst anziehend für einen einfachen Sinn. Es mag vielleicht heutzutage manchem sonderbar Vorkommen, wenn er von einer vertrauten Freundschaft zwischen einem Herrn und seinem Knecht liest. Aber obwohl eine solche Freundschaft z. B. zwischen Abraham und Elieser bestand, so wurden dennoch die Rechte und Pflichten des gegenseitigen Verhältnisses gewissenhaft beobachtet. Ferner mag man es heute für geradezu unverantwortlich halten, wenn der zukünftige Mann einer der Töchter des Hauses, oder gar der Schwiegersohn selbst, wie Jakob bei Laban, die Herden der Familie gegen Lohn hüten sollte. Dennoch lag in diesem allem nichts, was die gute Sitte irgendwie verletzen könnte.
Was jedoch diesem Buch noch mehr Anziehungskraft und Interesse für uns gibt, ist dies, daß der Herr Selbst darin gesehen wird, und zwar in einer Weise, wie sie jenen einfachen und ursprünglichen Zuständen angemessen war. So wie die Erzählungen des Buches einfach und schmucklos sind, so ist auch die Handlungsweise Gottes. Er benutzt keine Propheten, sondern tut persönlich Seinen Willen kund, und selbst wenn Er Engel gebraucht, so sind diese mehr Seine Begleiter als Seine Boten. Bei der Kühle des Tages wandelt Er im Garten Eden. Auf dem Felde unterhält Er Sich persönlich mit Kain. Er kommt auf das Geschrei von Babel und Sodom herab, um Sich zu überzeugen, ob die Zustände wirklich so schlecht und böse sind, wie Ihm berichtet worden ist. Immer wieder erscheint Er in vollkommener und persönlicher Vertraulichkeit dem Abraham, Isaak und Jakob, indem Er ihr Vertrauen erweckt, Seinem Mißfallen über dies oder jenes Ausdruck gibt und ihnen Seine Pläne und Gedanken offenbart. Und obgleich im weiteren Verlauf des Buches diese Handlungsweise ein wenig nachläßt, so wird sie doch in gewissem Sinn bis zum Ende hin beibehalten, selbst da, wo wir es am wenigsten erwarten sollten, denn auch Königen, die nicht aus dem Stamme Abrahams waren, erschien Jehova-Gott in den Träumen der Nacht und erinnerte sie an ihre Pflichten, oder Er stellte ihnen ihre Gefahren vor.
Der Dienst der Propheten fand also zu jener Zeit noch keinen Raum. Er würde zu sehr aus der Feme, zu zurückhaltend gewesen sein. Auch geschah die Mitteilung des göttlichen Willens nicht durch den Heiligen Geist oder durch Eingebung, wie es später gewöhnlich geschah, sondern durch die persönliche Dazwischenkunft Gottes, sei es in einem Gesicht oder in einem Traum, oder auf dem noch näheren Wege der Annahme menschlicher Gestalt und Eigenschaften von seiten Gottes, und zwar stellte Gott Sich nicht in einer sinnbildlichen Kleidung dar, wie später bei Jesaja, Daniel oder Johannes, sondern wie Einer, Der einen Menschen an seinem Wohnort und in seinen
Umständen besucht. Wie ein Wanderer, der Gastfreundschaft bedarf, ißt Er mit Abraham Fleisch und Kuchen in der Tür seines Zeltes. Wie ein Mensch mit seinem Genossen eine Streitsache ausficht, so kämpft und ringt Er mit Jakob.
Die gleiche Handlungsweise Gottes sehen wir auch bei Noah. Gerade wie es bei uns der Fall sein würde, wird Sein Herz bewegt durch das, was Er sieht, und gerade wie wir es tun würden, geht Er mit Sich zu Rate, wie Er 5ich verhalten soll.
Er sah, „daß des Menschen Bosheit groß war auf Erden, und es schmerzte ihn in sein Herz hinein", und dann spricht Er: „Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, von der Fläche des Erdbodens vertilgen". Und nachdem Er Seinen Entschluß gefaßt hat, teilt Er ihn dem Ohr, dem Herzen und dem Mitgefühl eines anderen mit. So ging der Herr mit Noah um wie ein Mensch mit seinem Freund. Er handelte gerade wie wir handeln würden, denn auch wir lieben solche vertraute Freundschaft. „Das Ende alles Fleisches ist vor mich gekommen", sagte Er zu Noah, indem Er ihm erzählte, was in Seinem eigenen Herzen vorgegangen war, und später, in den Tagen der Wasserflut, als die Arche anfing, über der Stätte des Gerichts zu schwimmen, schloß der Herr in der gleichen gnädigen und freundschaftlichen Weise eigenhändig hinter ihm zu.
Das war innige Vertraulichkeit, das war lebendige, fühlbare Nähe Gottes Seinem Geschöpf gegenüber, und alles das steht in völliger Übereinstimmung mit Seinen gewöhnlichen HandJungen und Mitteilungen in diesem Buch. Die Herrlichkeit hatte ihren Platz noch nicht hinter dem Vorhang genommen und sich noch nicht zwischen den Cherubim niedergelassen. In dieser Verbergung offenbarte sich Majestät und Größe, auch die unnahbare Heiligkeit Gottes, wie dies einer geordneten Haushaltung angemessen war, aber in den Zeiten, mit denen wir jetzt beschäftigt sind, waren die Dinge noch ungeregelt und ohne eine bestimmte Ordnung, und dementsprechend war der Herr in Person da, wann und wo die Gelegenheit es erforderte.
Auf solche Art also offenbart Sich Gott in diesem herrlichen Buch, das ebenso göttlich ist, wie jeder andere Teil des Wortes, und wir haben viel Ursache, den Herrn zu preisen, daß Er unseren Herzen ein solches Buch geschenkt hat. Wir sind nicht immer für die höheren Dinge empfänglich. Wir können sie nicht zu jeder Zeit erreichen, oder der Aufforderung, in die himmlischen Örter hinaufzusteigen, Folge leisten. Aber der Heilige Geist ist unserer Schwachheit zu Hilfe gekommen und hat für sie Vorsorge getroffen. Die Schrift bietet unseren Seelen reiche Abwechslung dar. Was wir nötig haben, ist nur Geschmack und Eßlust, sowie eine heilige Freude an den Dingen Gottes, seien es nun die Dinge der „Kinder" oder der „Väter", sei es Milch oder feste Speise.
Ich möchte indessen noch auf eine andere Sache in diesem Buch aufmerksam machen. In jenen Zeiten, oder, wie der Apostel sage: „von Adam bis auf Moses", gab nicht das Gesetz dem Zustande des Volkes Gottes ein bestimmtes Gepräge. Adam stand in Eden unter einem Gebot, und die Kinder Israel besaßen das Gesetz, nachdem sie am Berge Sinai gewesen waren. Anders verhielt es sich mit den Geschlechtern von Adam bis auf Moses. Die Sünde war in der Welt, aber kein Gesetz (Röm 5,13.14). Es fehlte sogar beinahe jede sittliche Vorschrift und Unterweisung. Wohl gab es manche Offenbarungen des Willens und der Pläne Gottes, und unter der Leitung des Geistes wirkten diese Offenbarungen auf den Charakter und das Betragen der Gläubigen und regelten ihren Willen und ihre Wege — das Böse wurde von ihnen gefühlt und durch Gott verurteilt, aber es war keine geschriebene Richtschnur über Recht und Unrecht vorhanden. Ohne daß ein Gesetz gegen den Mörder gegeben gewesen wäre, wird Kain vertrieben. Ohne ein fünftes Gebot wird Ham gestraft wegen der Schmach, die er seinem Vater angetan hatte. Ebenso wird Jakobs Betrug, und die schlechte Handlungsweise der Brüder Josephs von dem Herrn heimgesucht und geahndet. Und ohne das Licht irgendwelcher Vorschrift kann die Seele eines Heiligen der Versuchung mit den Worten begegnen: „Wie sollte ich dieses große
Übel tun und wider Gott sündigen?"
Alles das fand statt, obgleich, wie gesägt, weder ein Gesetz noch eine sittliche Unterweisung gegeben war. Die Art und Weise, in der Gott Sich dem Glauben offenbarte, bildete unter der Leitung des Geistes den Charakter der Patriarchen. Abraham besaß keine Anweisung betreffs seines Altars und seines Zeltes, aber seine Berufung von seiten Gottes durch den Geist leitete ihn im Blick auf beides. Keine Vorschrift forderte seine hohe und edelmütige Behandlung Lots, aber sein Glaube und seine Hoffnung auf Gott gaben sie ihm ein und verlangten sie. Ohne eine Richtschnur für den betreffenden Fall leitete ihn seine Kenntnis Gottes und die Gesinnung Christi, die in ihm war, sich von dem Streit der Könige femzuhalten, aber dann, sobald sein Verwandter ein Gefangener war, zu seiner Befreiung aufzubrechen. Kein Wort, kein Ausspruch Gottes unterschied für ihn zwischen dem König von Salem und dem König von Sodom, aber das Licht, das er besaß, leitete ihn in seinem Verhalten. Wir könnten noch manche andere Begebenheit, die uns das 1. Buch Mose erzählt, durchgehen und würden überall gleiche Dinge finden. Das heilige Urteil der Gesinnung, die in jenen Männern war, gab ihnen unter der Leitung des Geistes ihr Verhalten ein, und zwar mittels der Offenbarung, Verheißung und Berufung Gottes. Dies ist stets schön, so oft wir wahre Beispiele oder Beweise davon finden.
Das also sind die besonderen Kennzeichen dieser frühesten Tage, des Kindesalters unserer Geschichte und des kostbaren Buches, in dem sie für uns aufgezeichnet stehen. Und diese früheste Methode in den Wegen des Herrn wird auch die letzte und bleibende sein. So wie Gott in jener Zeit, wie wir gesehen haben, in menschlicher Gestalt wirksam war, indem Er persönlich auf den Schauplatz trat und die innigsten Beziehungen zu Seinen Geschöpfen suchte, so wird es auch später sein, wenn die Zeitalter ihren Lauf vollendet haben: Gott, geoffenbart im Fleische, wird für immer gegenwärtig sein. Und so wie in jenen Tagen die Gegenwart Gottes nicht als etwas Fremdes betrachtet wurde, oder als etwas, das nicht zu der Erde paßte oder nicht zu den Menschen gehörte, — die göttliche Gnade wurde sozusagen freigegeben und arglos empfangen —, so wird auch am Ende in den Tagen der tausendjährigen Herrlichkeit Jehova- Gott wieder persönlich auf dem Schauplatz erscheinen. Der Himmel wird geöffnet sein, und die Engel Gottes werden aufund niedersteigen auf den Sohn des Menschen.
Gehen wir jetzt zu einer etwas näheren Betrachtung der fünf ersten Kapitel des 1. Buches Mose über, die uns eine Schilderung geben von den Zeiten oder der Welt vor der Flut.
Das Ganze beginnt selbstverständlich mit dem Werk der Schöpfung. Ich gehe hier nicht näher darauf ein, aber durch den Apostel belehrt, können wir sagen, daß nur der Glaube dieses große Werk von dem richtigen Gesichtspunkt aus betrachtet. Der Glaube stellt Gott über alles, was geschaffen ist oder gesehen wird. „Durch Glauben verstehen wir, daß die Welten durch Gottes Wort bereitet worden sind, so daß das, was man sieht, nicht aus Erscheinendem geworden ist" (Heb 11,3). Der Glaube ist der einzige Grundsatz in der Seele, der auf eine Gottes würdige Weise handelt. Gott bewohnt „ein unzugängliches Licht". Der Glaube erkennt dies an. Die Weisheit der Menschen aber möchte in dieses unzugängliche Licht eindringen, um Gott zu sehen und zu prüfen. Gott hat große Dinge von Sich gezeigt, aber der Glaube weiß, daß „keiner der Menschen ihn gesehen hat noch sehen kann" (1Tim 6,16). Er freut sich über alle Seine Offenbarungen, aber er maßt sich niemals an, Seinen Wohnplatz im Licht prüfen zu wollen.
Das zweite Kapitel stellt uns den Menschen, der im Bilde Gottes geschaffen ist, in seinem Zustande im Garten Eden vor Augen. Alles war ihm dort unterworfen, alles war für ihn da.
Er besaß Nahrung für alle Bedürfnisse und Wünsche seiner Natur, und alles, was er nur begehren konnte, war in Fülle vorhanden. Indes war der Mensch nicht allein zum Empfangen, sondern auch zum Mitteilen geschaffen, und das ist immer ein notwendiger Zug in dem Glück einer Seele, die sich in einem guten Zustande befindet. Adam war ebenso wichtig für den Garten, wie der Garten für ihn. Er hatte ihn „zu bebauen und zu bewahren". Er sah in seinem Wohnplatz die Quelle eines fruchtbaren Stromes, der Leben und Erfrischung über die ganze Erde verbreitete. Zugleich hörte er die Stimme des Herrn, aus dessen Mund das Gebot kam: „Von dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon sollst du nicht essen". Aber dies War kein Eingriff in die Rechte Adams, kein Mißklang für sein Ohr. Gott will und kann Seine Ehre keinem anderen geben, und ein richtig denkendes Geschöpf muß sich darüber freuen, daß es so ist. Alles stand in Eden in vollkommener, schöner Harmonie, und das Teil des Menschen war eine beständige Glückseligkeit.
Um jedoch seine Lage noch zu vervollkommnen, bereitete Gott für ihn einen Tag der Krönung und einen Tag der Vermählung. In allen diesen Dingen können wir eine bestimmte Ordnung erkennen. Zuerst geht der Herr mit Sich Selbst zu Rate betreffs der Vermählung Adams. Dann führt Er ihn auf den Schauplatz seiner Herrschaft. Er bringt „alles Getier des Feldes und alles Gevögel des Himmels zu dem Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde; und wie irgend der Mensch ein lebendiges Wesen nennen würde, so sollte sein Name sein". So bekleidet ihn Gott mit Herrschaft, indem Er ihn zum Herrn der Erde und ihrer Geschöpfe macht. Zuletzt bereitet Er eine Hilfe für ihn und stellt ihm Eva vor. Das ist die Reihenfolge dieser Ereignisse, eine Reihenfolge, die einen heiligen und wichtigen Sinn in sich schließt. Es ist nicht die einfache Aufeinanderfolge von unter sich unabhängigen, in keiner Verbindung stehenden Tatsachen. Es ist sozusagen der Entwurf eines großen Meisters. Denn es gibt, wie wir wissen, ein Geheimnis, das „verborgen war in Gott", einen „Vorsatz, den er gefaßt hat" vor Grundlegung der Welt, Sein Geheimnis (Eph 3). Und hiervon ist diese Vermählung im Garten Eden das Vorbild (Eph 5).
Demgemäß bereitet der Herr in den Gedanken Seines Herzens die Hilfe für Adam, bevor Er ihn in seine Herrschaft einführt. Der Vorsatz, der das höchste Maß der Freude für Adam enthält, wird zuerst gefaßt. Die Hilfe an seiner Seite, die eine, die „seines Gleichen" war, seine Gefährtin, sollte für ihn mehr sein als alles andere, und daher bildete ihre Darstellung den ersten Gedanken in dem Herzen des Herrn. Er erwog es und sprach darüber mit Sich Selbst. Die Verleihung der Herrschaft wurde zu gleicher Zeit beschlossen und ausgeführt, aber darüber, Adam eine Hilfe zu verschaffen, wurde vorher beratschlagt und gesprochen.
Das ist der Weg, den die Liebe einschlägt. Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie wir gern über das nachsinnen, was das Glück von jemand, den wir lieben, ausmacht. Aber wie köstlich und bedeutungsvoll ist das alles für unsere Herzen! Müssen wir nicht bewundernd ausrufen: „Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat!"? Auch Adam erkannte dies an. „Diese ist einmal Gebein von meinen Gebeinen und Fleisch von meinem Fleische", sagte er, als er die Frau aus der Hand Gottes empfing, indem er so bekannte, daß jetzt alles vollständig war. Die Schlange mochte ihm nachher zuflüstem, daß es sich anders verhalte, aber sie log. In jenem ganzen Zustand gab es nicht einen Fehler, nicht einen Flecken, nichts, was nicht an seinem Teil dazu beigetragen hätte, Adam zu segnen. Nichts fehlte ihm, was für ein Geschöpf von Segen sein kann.
Aber wegen all dieser Segnungen beneidete ihn sofort der große Widersacher Gottes und des Menschen, dessen Lust es ist, die Werke Gottes, soweit es in seiner Macht steht, zu zerstören und den Menschen ins Verderben zu stürzen. Gott erlaubte ihm, in den Garten einzutreten, denn das Geschöpf sollte auf die Probe gestellt und seine Stärke versucht werden. Und ach! wir wissen, was das Ergebnis war. Alles um uns her verkündet laut den Sieg des Versuchers, der Schlange, die „listiger war als alles Getier des Feldes". Wir brauchen nicht zu sagen, wer diese Schlange war. Es war der Teufel, der Satan (vergl. Off 12,9; 20,2).
Im dritten Kapitel unseres Buches, in dem uns der Fall des Menschen mitgeteilt wird, finden wir „die gegenwärtige böse Welt", sowohl in ihrem sittlichen Zustande, als auch in ihren Umständen. Die Welt, wie sie jetzt ist, ist aus dem Abfall
Adams hervorgegangen. Ihr Charakter und ihre Lage haben sich durch jene große Tat der Empörung so gestaltet, wie wir sie heute um uns her erblicken. Es ist sehr bemerkenswert, zu sehen, wie die drei Hauptgrundsätze der Welt, — „die Lust des Fleisches, die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens" —, in dem Herzen des Weibes zu wirken beginnen, sobald sie auf die Worte des Teufels lauscht. Die Seele, die Gott aufgibt, muß einen anderen Herrn und andere Hilfsquellen haben, und diese findet sie dann in der Welt. Die Welt hat kein Vertrauen auf Gott, sie hat nichts, was sie mit Ihm verbindet, nichts, was ihr Ruhe in Ihm gibt, sie hat keinen Sinn für Seine Liebe und Wahrheit. So ist sie gewesen seit jener Stunde, in welcher der Mensch dem Ankläger Gottes sein Ohr lieh, und deshalb hat sie andere Gegenstände des Genusses ausfindig gemacht.
Zugleich trat infolge der Sünde das Gewissen ins Dasein. „Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie erkannten, daß sie nackt waren". Und dieses Gewissen war damals, wie es bis zur heutigen Stunde ist, ein unruhiges Gewissen, ein Gewissen, das aus allen, die es besitzen, Feiglinge macht. „Ich fürchtete mich", sagt Adam, unfähig, Gott anzusehen, „denn ich bin nackt". Das Gewissen im Menschen muß diese Eigenschaft haben, denn es verdankt sein Dasein der Sünde. Adam besaß keine Erkenntnis des Guten und Bösen, bis er sündigte, und die auf diese Weise erlangte Erkenntnis mußte ihn in der Gegenwart des heiligen und gerechten Gottes zu einem Feigling machen.
Unwillkürlich machten sich Adam und Eva Schürzen, und so macht es der Mensch heute noch. Unser schuldiger Zustand läßt uns selbst unsere Mitmenschen meiden. Wir können selbst vor ihnen keine Prüfung aushalten. Wer Augen hat, zu sehen, kann täglich und stündlich dieses unausgesetzte Streben des Menschen wahrnehmen, einer völligen Beobachtung zu entgehen. Die Schürzen werden immer noch ersonnen, und sowohl die Religion in ihrer heutigen Richtung wie auch die Regeln und Grundsätze der menschlichen Gesellschaft erlauben und unterstützen dies. Aber die Gegenwart Gottes ist etwas ganz anderes als die Gegenwart unserer Mitmenschen. Keine Zeremonien und guten Sitten, keine Regeln, welche die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuhalten bestimmt sind, werden jene Gegenwart auch nur für einen Augenblick erträglich machen. Alles das wird sich als Eitelkeit erweisen. Denn „alle sind abgewichen und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes". Sobald nur das Gewissen den Tritt Seiner Füße oder den Klang Seiner Stimme im Garten hört, werden alle jene Dinge, selbst alle religiöse Vorstellungen, vergehen wie Dunst, und nichts als Furcht und Schrecken wird Zurückbleiben. Jene Dinge können weder Zutrauen zu Gott geben, noch den Zustand des Herzens ändern. Trotz seiner Schürze verbirgt sich Adam unter den Bäumen des Gartens. Verstehst du, mein Leser, die überaus wichtige und ernste Lehre, die hierin für einen jeden liegt?
Aber bei aller Furchtsamkeit ist doch auch noch Trotz vorhanden. „Das Weib, das du mir beigegeben hast, sie gab mir von dem Baume". Der Mensch legt das Unheil Gott zur Last. Er sagt gleichsam: Möge Gott Zusehen! das Weib ist Sein Geschöpf, und Er ist es, Der sie mir gegeben hat. Welch eine seltsame und schreckliche Verbindung: ein trotziges Herz, das Gott die Schuld gibt, und dabei ein feiges Gewissen, das unfähig ist, Ihm zu begegnen! Der Sünder mag prahlen und großtun, er mag über Gott und seine eigene Lage streiten, oder Worte und Beweisgründe ersinnen, so gut wie Schürzen, aber trotz allem, womit er sich umgeben mag, wird er, wie Adam, sich vor sich selbst schämen und vor Gott fürchten. Der Mensch hat Gott beleidigt und flieht Ihn. Er beschuldigt Ihn, und doch, während er dies tut, fürchtet er sich, Ihm ins Angesicht zu schauen. Dies alles zeugt wider seinen Willen gegen ihn. „Aus deinem Munde werde ich dich richten", braucht der Herr nur zu sagen, und der Mensch wird, wie der böse Knecht in dem Gleichnis, verstummen.
Das also war der sittliche Zustand Adams, und so ist die menschliche Natur auch heute noch. Aber wie sah es mit seinen äußeren Umständen aus? Genauso wie es bei dem Menschen bis auf diese Stunde aus9ieht. Im Schweiße seines Angesichts mußte er da, wo Dornen und Disteln wuchsen, sein Brot gewinnen und im Kummer seines Herzens davon essen. Und das Weib sollte ebenfalls mit Schmerzen Kinder gebären, und das alles so lange, bis sie beide wieder zur Erde zurückkehrten, von der sie genommen waren. Auf diese Weise lebt der Mensch heute noch, außerhalb des Gartens, in Kummer und Beschwerde. Ein angenehmes, ruhiges Leben und ein fruchtbarer Erdboden sind nicht sein Los. Er muß vielmehr mit Domen und Disteln, einem unfreundlichen, widerstrebenden Boden und mit einem Leben voller Kampf und Mühseligkeit zufrieden sein.
Gott allein steht über dieser Flut des Elends, die über den Menschen hereingebrochen ist, und zwar mit einer Macht, die imstande ist, selbst hieraus Gutes hervorgehen zu lassen, denn die Erlösung ist weit mehr, als die Heilung des durch die Sünde verursachten Schadens, oder die Befreiung einer befleckten und ruinierten Schöpfung. Als die Sünde kam, war Gott, menschlich gesprochen, schon darauf vorbereitet, ihr durch Anordnungen zu begegnen, die vor Grundlegung der Welt festgesetzt waren. Dies zeigt uns Sein erstes Wort an die Schlange: „Ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zermalmen, und du, du wirst ihm die Ferse zermalmen".
Hier zeigt sich der große Heilsplan Gottes in Bezug auf uns. Der verheißene Same des Weibes ist die gesegnete Vorsorge, die Gott für den dem Tode und Verderben verfallenen Menschen getroffen hat, gegenüber aller Bosheit und Wut des
Feindes. Allerdings konnten die Ratschlüsse der erlösenden Liebe nur ausgeführt werden auf Kosten des Lebens des Sohnes Gottes, — denn die Schlange sollte Seine Ferse zermalmen. Aber dennoch sollte Er einen herrlichen Sieg erringen: Er sollte der Schlange den Kopf zertreten.
Diese frohe Botschaft, die in jener ersten Verheißung angesichts des Teufels selbst angekündigt wurde, ist in den letzten Tagen durch den Apostel angesichts der Menschen und der Engel gepredigt worden (Gal 1,8). Dieses herrliche Evangelium ist immer dasselbe. Es ist „das Zeugnis Gottes, welches er gezeugt hat über seinen Sohn" (1Joh 5,9). Es ist das Evangelium von dem zermalmten und doch siegreichen Samen des Weibes, an dessen herrlichem und vollkommenem Plan der Mensch keinen Anteil hat. Adam hatte nur zu hören, zu glauben und zu leben. Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Israel stand und sah die Rettung Jehovas. Das gleiche finden wir bei dem Hohenpriester Josua in Sacharja 3 und bei dem verlorenen Sohn. Zu handeln, ein Opfer zu bringen und die Gerechtigkeit für uns zu erwerben, ist Gottes Sache. Diese Gerechtigkeit schweigend anzunehmen, ist unsere Sache. Angesichts eines solchen Geheimnisses mögen wir wohl mit dem Apostel ausrufen: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes!" — Wie einfach ist alles für uns! Aber was hat es Ihn gekostet!
Es gibt nichts in dem Herzen des Menschen, das dem Glauben an dieses Evangelium gleichkäme. Der Glaube eines armen Sünders an die erlösende Gnade Gottes ist der schönste Zustand, in dem eine Seele sich befinden kann. Als Heilige und Geliebte mögen wir in betreff unserer Bedürfnisse auf Gott vertrauen und um Rat und Fürsorge zu Ihm aufblicken. Wir mögen bei Ihm Schutz suchen für unseren Weg, Trost im Schmerz und Kraft in den Schwierigkeiten. Aber der Glaube eines Sünders an die rechtfertigende Gnade und das Werk seines göttlichen Heilandes übersteigt das alles bei weitem. Nichts ist so köstlich, denn nichts erfaßt Gott in einem so glorreichen Charakter, und nichts schenkt Ihn der Seele in einer so wunderbaren Beziehung. Der Glaube ist es, der die reichsten Hilfsquellen in Gott benutzt, und der auf Grund der gesegnetsten Offenbarungen von Ihm handelt. Wohl strahlt die Herrlichkeit Gottes überall hervor — in Seiner Macht, in Seinem Trost und Seiner Weisheit für Seine hilfsbedürftigen Heiligen. Doch daß bei Ihm Gnade und Heil für Sünder zu finden ist, das übertrifft alles andere.
Der Geist Gottes teilt uns aus jenen ersten Zeiten einige schöne Beispiele dieses kostbaren Glaubens mit. Es ist, als ob Gott Seine Freude daran fände, uns gleich bei der ersten Gelegenheit ein herrliches Bild davon zu zeigen. Obgleich sich Adam nach dem Fall auf einem Schauplatz des Todes befand und alles um ihn her von Fluch und Tod zeugte, was durch seine Schuld hervorgerufen und deshalb ein beständiges Zeugnis gegen ihn war, so redete er doch kraft seines Glaubens nur von Leben. Er war verurteilt, als ein Verbannter inmitten des Verderbens zu leben, das seine eigene Sünde verursacht hatte, — und er wußte dies und erkannte es völlig an — aber er hatte nicht umsonst auf die Geschichte des Kampfes zwischen seinem Verderber und dem Samen des Weibes gelauscht. Gerade auf der Stätte des Gerichts, inmitten der Bäume, wohin sein böses Gewissen ihn getrieben hatte, hatte sein Ohr den Klang des süßen Evangeliums der Gnade sowohl, als auch der Versöhnung und des Sieges gehört, und er ging hinaus und redete von Leben. Er nannte sein Weib „Heva", die Mutter aller Lebendigen. Bei der Schöpfung war er als das Haupt des Lebens eingesetzt worden. Gott hatte zu ihm gesagt: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde". Aber das war jetzt verwirkt und vorbei. Er war das Haupt eines gefallenen und dem Tode geweihten Geschlechts geworden, und er wußte, daß jetzt alles wahre Leben in dem verheißenen Nachkommen, dem Erlöser, war und von Ihm allein ausgehen konnte.
Zugleich wurde auch die sittliche Herrlichkeit in wunderbarer Weise wiederhergestellt. Adam hatte sich der Majestät Gottes nicht unterworfen, sondern danach getrachtet, zu sein wie Gott. Aber jetzt unterwirft er sich der Gerechtigkeit Gottes. Er beugt sich nieder, um für seine Nacktheit die Decke zu empfangen, die Gottes eigene Hand für ihn bereitet hatte (vergl. Röm 10,3). Er ehrt jetzt den Gott-Heiland, obgleich er kurz vorher alles getan hatte, um den Gott-Schöpfer zu verunehren. In so einfacher Weise wurde er durch den Geist geleitet, die göttliche Vorsorge, die in dem Evangelium von dem siegreichen Nachkommen des Weibes für den Sünder getroffen ist, zu verstehen und zu schätzen.
So war es auch mit Eva. Sie hatte auch die Verheißung gehört, und deshalb legt sie, sobald sie ihren ersten Sohn geboren hat, Zeugnis davon ab, daß diese Verheißung in den Gedanken ihres Herzens lebte. „Ich habe einen Mann erworben mit Jehova", sagt sie. Sie übersah ihre eigene Person ebensosehr, wie Adam es tat, und rühmte sich nur in ihrem Samen. Sie hatte mit einem zu aufmerksamen Ohr auf die Verheißung gelauscht, um sich selbst mit ihrem Samen zu verwechseln. Allerdings befand sie sich selbst im Irrtum, aber sie gab Zeugnis davon, daß der Gegenstand des Glaubens ihre Gedanken erfüllte, und daß die Erwartungen des Glaubens in ihrem Herzen lebten. Und als schreckliche Ereignisse ihren Irrtum offenbarten und ihr zeigten, daß dieser Erstgeborene etwas ganz anderes war als der verheißene Same, — daß er, anstatt der Zermalmet des Kopfes der Schlange zu sein, sich als der Mörder seines Bruders erwies —, sehen wir sie dennoch auf dem Felsen stehen, auf den der Glaube ihre Seele gestellt hatte. Über Seth ruft sie aus: „Gott hat mir einen anderen Samen gesetzt an Stelle Abels, weil Kain ihn erschlagen hat". Der eine Sohn war ein Mörder gewesen, der andere sein Opfer. Dennoch zweifelt sie nicht an der Erfüllung der Verheißung.
Kostbarer Glaube! dürfen wir wohl sagen, gleich kostbar bei Adam wie bei uns. Den gleichen Glauben finden wir auch in Abel. Der Glaube in ihm bezog sich auf dieselbe Verheißung, auf dasselbe Evangelium. Das Wort hatte von einem zermalmten Befreier gesprochen, und demgemäß legte er ein Schlachtopfer, ein zermalmtes oder blutiges Opfer, auf den Altar Gottes. Aber nicht allein das. Er bringt auch das Fett des Schlachtopfers dar. Er scheint die Wonne, die Gott Selbst an den Vorkehrungen Seiner Gnade zur Errettung des Sünders hat, zu kennen und zu wissen, daß Er in der Erlösung wie in der Schöpfung Sich an dem Werke Seiner Hand erfreut, und deshalb legt er das köstlichste Teil des Schlachtopfers, das Fett des Tieres, auf den Altar, indem er es so zu dem Anteil des Herrn bei diesem Fest der Liebe und Freude macht.
Ein herrliches Beispiel von dem Glauben eines Sünders! Da gibt es kein Zweifeln an der Gnade Gottes, keine unruhige Erwägung der Wertlosigkeit des Geschöpfes, obgleich Ursache genug dazu vorhanden war. Die Kraft der Verheißung lebte in den Seelen jener Gläubigen, und ihr Glaube triumphierte auf diesem Grunde.
Ich möchte hinzufügen, daß auch wohl das Bekenntnis Lamechs die Äußerung eines überführten und glaubenden Sünders genannt werden kann und ein Ausdruck des kostbaren Glaubens ist, den wir in Adam, Eva und Abel gefunden haben. Gottes Wort an Kain hatte die wichtige Wahrheit enthüllt, daß Gott und Gott allein es mit dem Sünder zu tun hat. Andere mögen, wie Abel, durch die Sünde zu leiden haben, aber jede Sünde wird unmittelbar gegen Gott begangen, und Er behauptet Sein Recht, allein Sich mit ihr zu beschäftigen. „Jeder, der Kain erschlägt", sagt der Herr deshalb, „siebenfältig soll es gerächt werden". Diese große Wahrheit, so unaussprechlich kostbar für den Glauben, scheint Lamech verstanden zu haben. Er bekennt seine Sünde und rechnet auf Bewahrung vor den Menschen von seiten Gottes. „Höret meine Stimme, Weiber Lamechs", sagt er, „horchet auf meine Rede! Einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Strieme! Wenn Kain siebenfältig gerächt wird, so Lamech siebenundsiehenzigfältig". Er scheint etwas davon verstanden zu haben, daß da, „wo die Sünde überströmend geworden, die Gnade noch überschwenglicher geworden ist".
Diese Wirkungen des Geistes durch die Verheißung in den Seelen von Sündern sind wahrhaft schön. Die Schürze von Feigenblättern wird weggeworfen, sobald diese Wirksamkeit beginnt. Sie wird jetzt als unnötig erkannt, wie vorher als ungenügend. So geht es mit allen Erfindungen des Menschen; sie sind nichts anderes, als die Kunstgriffe des Bösen selbst, die Anstrengungen des Geschöpfes, und deshalb können sie nichts ausrichten. Sie sind ebenso unnötig wie ungenügend. Der Rock von Fellen, oder mit anderen Worten, das Werk Gottes Selbst, hat sie dazu gemacht.
Es gibt jedoch etwas, was durch diese herrliche, für den Sünder bereitete Erlösung nicht beseitigt wird. Die Dornen und Disteln des verfluchten Erdbodens bleiben, und mit ihnen der Schweiß des Angesichts, der Kummer des Herzens und die Rückkehr des Staubes zum Staube bis zu dieser Stunde. Wir sind bekleidet mit dem Kleide der „Gerechtigkeit Gottes", geschmückt und passend gemacht für Seine Gegenwart durch Seine eigene Hand; aber nichtsdestoweniger haben wir Plage, Hindernisse und viele Beschwerden bei dem Bebauen des Erdbodens zu erwarten. Schmerzen bringen uns in die Welt hinein. Schmerzen begleiten uns, bis wir zum Staube zurückkehren, woher wir genommen sind. Ebensowenig entfernt diese Vorsorge der Gnade die Cherubim. Sie sind an den östlichen Eingang des Gartens gestellt, um mit ihrem flammenden Schwert den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen, und weder die Verheißung, noch die Bekleidung, die Adam empfing, vermochten etwas hieran zu ändern. Des Menschen Fähigkeit, jenen Baum und seine Frucht wiederzuerlangen- ist dahin, und zwar für immer und ewig. Nie wird er etwas anderes sein, als ein erretteter Sünder, mag er auch den Pfad der Herrlichkeit vom Paradiese bis zum Königtum, und vom Königtum bis zu den neuen Himmeln und der neuen Erde verfolgen. Nur durch die Erfüllung der ersten Verheißung Gottes, nur durch die Gabe Jesu, des Samens des Weibes, ist für den Menschen der Weg gebahnt worden, um von den Früchten des Baumes des Lebens essen zu können (vergl. Off 2,7).
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Wir haben uns in dem Vorhergehenden mit den Geheimnissen Gottes und mit Seinen Ratschlüssen, so wie sie uns in dem wundervollen 3. Kapitel des 1. Buches Mose mitgeteilt werden, beschäftigt. Doch es ist nötig, daß wir nicht allein diese kennenlernen, sondern auch den Menschen und seine Wege.
Von Kain wird durch den Geist Gottes in 1Joh 3,12 gesagt, daß er „aus dem Bösen" war. Das erste, was wir bei ihm sehen, ist seine Religion. Er brachte Gott die Früchte des verfluchten Erdbodens, die Ergebnisse seiner eigenen Arbeit, als Opfer dar, und das war Unglaube. Er leugnete dadurch alles, was seit der Schöpfung geschehen war, und zwar können wir es die religiöse Leugnung desselben nennen. Sein Tun stand in unmittelbarem Gegensatz zu der Handlungsweise des
Glaubens. Abel betrat den Weg der Verheißung Gottes, des blutigen Sieges des Samens des Weibes, des Todes und der Auferstehung Christi und opferte ein Lamm von seiner Herde. Aber Kain weigerte sich, das Verderben des Menschen und den Heilsweg Gottes zu sehen, indem er Gott die Früchte der sündigen, verfluchten Erde darbrachte. Trotz seines feierlichen Opferdienstes leugnete er die ganze Wahrheit. Sein Herz war weit von Gott entfernt.
Seine nächste Handlung stand in schrecklicher Übereinstimmung hiermit. Kain haßte seinen Bruder, weil er aus dem Bösen war, aus dem, der ein Mörder von Anfang ist (Joh 8,44), und im Laufe der Zeit erschlug er seinen Bruder. Schreckliche Frucht der abtrünnigen und abgewichenen Natur! Er war der erste jener Klasse von Menschen, die Jesum überlieferten, auf daß Er gekreuzigt würde — selbstgerecht und mörderisch. Die Juden überlieferten Jesum aus Neid, und Kain erschlug Abel, weil seine eigenen Werke böse, diejenigen seines Bruders aber gerecht waren. „Wundert euch nicht, Brüder, wenn die Welt euch haßt. Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben übergegangen sind, weil wir die Brüder lieben; wer den Bruder nicht liebt, bleibt in dem Tode. Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Menschenmörder, und ihr wisset, daß kein Menschenmörder ewiges Leben in sich bleibend hat" (1Joh 3,13-15).
Der Herr ließ Sich in Seiner unendlichen Gnade mit Kain in eine Unterredung ein. Doch Kain verachtete diese Gnade, die sich noch in der letzten Stunde warnend an ihn wandte. „Dies ist das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse" (Joh 3,19). Das Licht, das der Herr Jesus brachte, war das Licht des Lebens oder des Heils (Joh 8,12; Jes 49,6); aber die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht. So auch Kain. Er haßte dieses Licht und stieß es von sich.
Als Jehova-Gott in Gerechtigkeit und Heiligkeit in den Garten trat und rief: „Adam, wo bist du?" da vermochte Adam nicht in diesem Lichte zu stehen. Er hatte gesündigt und deshalb war ihm das Licht unerträglich. Er erreichte jene Herrlichkeit nicht, sondern floh vor ihr. Dann aber offenbarte Sich Gott in einem anderen Licht. Er gab die Verheißung, und damit veränderte sich der Charakter der Herrlichkeit. Gott stellte Sich in ein Licht, das der Sünder erreichen kann, und wir sehen dann auch, daß der glaubende Adam jetzt aus seinem Versteck hervorkommt. Dieses Licht, das Licht des Heils und der Verheißung, das Licht, in dem Gott Sich dem Menschen außerhalb des Gartens zeigt, verachtete Kain, und deshalb wurde er verflucht, was mit Adam nicht geschehen war.
Das ist die ernste Geschichte dieses ersten Ungläubigen. Aber die verderbte Natur, die in ihm war, blieb nicht bei jener ersten schrecklichen Tat, der Ermordung des Bruders, stehen. Sie zeigte sich in weiterer Bosheit. In Kain befand sich jene Quelle, die ein „Überfließen von Schlechtigkeit" hervorsprudelt. Er log und rechtfertigte sich selbst. Auf die Frage Gottes: „Wo ist dein Bruder Abel?" antwortete er: „Ich weiß nicht; bin ich meines Bruders Hüter?" Kain wollte die Begierden seines Vaters tun, und wenn der Teufel „die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und der Vater derselben" (Joh 8,44).
Doch das alles finden wir nicht nur in Kain, sondern auch in jedem Menschen von Natur. Es war das verderbte Herz des Menschen, das sich in dem Verhalten Kains offenbarte, und weil es das war, weil es die allgemeine Natur war, die in dieser Weise ans Licht trat, so entzog Gott das Gericht über sie dem Menschen. „Jeder, der Kain erschlägt", sagt Er, „siebenfältig soll es gerächt werden"; denn niemand ist ohne Sünde. „Du bist nicht zu entschuldigen, o Mensch, jeder, der da richtet; denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst" (Rom 2, 1). Alle sind gleich verdammungswürdig. Keiner kann den Stein aufheben und ihn auf den anderen werfen. Und um diesen wichtigen Grundsatz auszudrüdcen und zu zeigen, daß Gott allein das Recht und die Befugnis hat, mit der Sünde zu handeln, ließ der Herr es nicht zu, daß der Brudermörder von seinen Mitmenschen angetastet wurde.
Als später die Regierung auf der Erde der Zweck der Offenbarung Gottes war, wurde gesagt: „Wer Menschenblut vergießt, durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden" (1Mo 9,6). Aber bis dahin war dies nicht so, und um die allgemeine Verderbtheit des Menschen zu lehren, wird keinem Gliede der ganzen menschlichen Familie erlaubt, den gottlosen Kain anzutasten. Und auch in der gegenwärtigen Zeit, wo es eine von Gott eingesetzte Regierung gibt, ist es nicht die Sünde als solche, mit der jene sich zu beschäftigen hat. Verbrechen und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, oder an einzelnen Personen begangenes Unrecht mögen durch den Menschen gerichtet werden. Aber Rache für Sünde, als solche, nehmen zu wollen, würde heißen, sich eine persönliche Schuldlosigkeit anzumaßen. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie" (Joh 8,7). Gott allein hat mit der Sünde abzurechnen.
Doch gehen wir in dieser schrecklichen Geschichte weiter. Der Mensch offenbart sich nicht immer in dieser abschreckenden Gestalt. Er erscheint nicht stets als Lügner und Mörder. Es gibt da gewisse Schranken, wie z. B. die Zügelung und Veredlung mittels der Erziehung, die zurückhaltende Hand Gottes und die Furcht vor Seiner Vorsehung und Seinem Gericht, die allgemeine Meinung und das Urteil der menschlichen Gesellschaft. Diese und ähnliche Einflüsse bringen eine gewisse Ordnung hervor, wodurch der Schauplatz des menschlichen Lebens und Wirkens nicht nur erträglich, sondern sogar bequem und angenehm wird. Der Schauplatz ist auf diese Weise erneuert worden; es ist aber keine neue Schöpfung hervorgerufen. Der Mensch ist Mensch geblieben, dasselbe Geschöpf nach dem Urteil Gottes, obgleich er in dem Charakter eines achtbaren Weltbürgers und nicht mehr als der Mörder seines Bruders erscheinen mag. Kain baut eine Stadt. Seine Familie wächst und gedeiht, und durch ihre Geschicklichkeit und Betriebsamkeit bekommt die Welt ein blühendes und gefälliges Aussehen. Der Mörder ist vergessen. Der Mensch hört nicht das Schreien des Bruderblutes, sondern den Ton der Laute und Pfeife. Seine Erfindungen haben sein Schuldbewußtsein unterdrückt. Kain ist ein ehrbarer Mann geworden, aber von der Gegenwart Gottes ist er noch ebenso weit entfernt wie damals, als seine
Hand sich mit dem Blute seines Bruders befleckte.
Wie ernst ist der Gedanke, daß der Mensch als achtbarer Weltbürger ebenso weit von Gott entfernt ist, wie als Mörder! Die Ruhe und Gleichgültigkeit, mit der Kain dem Herrn den Rücken kehren und seines Bruders Blut vergessen konnte, ist schrecklich. Er erhielt die Zusicherung des Schutzes von Seiten Gottes, und das war alles, was er begehrte. Schnell füllte sich die Erde unter seiner Hand mit aller Art von Bequemlichkeit und Vergnügungen. Wie entsetzlich, nicht wahr? Und doch ist es nichts anderes als der Lauf der Welt. War es nicht der Mensch, der Jesum tötete? Und doch geht er mit der Ruhe und Gleichgültigkeit Kains in diesem höchsten Zustande der Schuld einher. Die Erde hat das Kreuz Christi getragen, und der Mensch beschäftigt sich damit, sie zu schmücken und zu zieren und das Leben auf ihr bequem und angenehm zu machen. Das ist genau das Verhalten Kains, wenn wir es in dem vollen göttlichen Licht betrachten. Kain wurde ein achtbarer Bürger der Welt, aber er vergaß in herzloser Weise die Leiden Abels. Seine Ruhe und Achtbarkeit bilden, wenn wir so sagen dürfen, das schwärzeste Blatt in seiner Geschichte. Er ging weg, sobald er die Zusicherung des göttlichen Schutzes erhalten hatte, und anstatt durch dieses Versprechen erweicht und durch das Bewußtsein darüber, was sich ereignet hatte, zu Boden gedrückt zu werden, betrachtete er die Zusicherung Gottes als eine gute Gelegenheit, sich selbst zu befriedigen und zu verherrlichen. Wir lesen in dem Neuen Testament von dem „Wege Kains", und der Apostel Judas sagt uns, daß er auch von anderen betreten wird. Doch welch ein schrecklicher Weg ist es! Kain war ein Ungläubiger oder ein Mann seiner eigenen Religion. Er war nicht im Glauben der Offenbarung Gottes gehorsam. Er tat die Werke des Lügners und Mörders von Anfang und haßte das Licht. Er widerstand der gnädigen und warnenden Stimme Gottes. Er kümmerte sich weder um die Gegenwart Gottes, die er durch seine Sünde verloren hatte, noch um die Leiden seines Bruders, den seine Hand erschlagen hatte, und dabei konnte er sich da, wo alles gegen ihn zeugte, wo das Blut seines Bruders gegen ihn schrie, noch Mühe geben, sich selbst glücklich und geachtet zu machen. Das ist „der Weg Kains", und der Mensch ist, wie gesagt, heute noch ebenso. Er hat sich nicht verändert. Die Natur bleibt dieselbe trotz aller Schranken und Veredlungen, denn gerade am Ende der Geschichte der Christenheit wird von einer Generation gesagt: „Sie sind den Weg Kains gegangen".
Doch es gibt noch ein errettetes, abgesondertes Volk. Die Familie Seths ist von einer ganz anderen Art, als Kain und sein Geschlecht. Sie wird nicht in Städten gesehen, die mit Bequemlichkeiten und Vergnügungen geschmückt sind, fern von der Gegenwart des Herrn, sondern sie erscheint vor unseren Augen als die Familie Gottes, getrennt von der Welt, die in dem Bösen liegt, und zur Verherrlichung Seines Namens.
Die Stellung und das Zeugnis der Familie Seths enthält, wie ich glaube, manche Unterweisungen für unsere Seelen. Wie bei allem übrigen in diesen Kapiteln, finden wir allerdings nur kurze Notizen über sie. Aber diese sind inhaltsreich, und man kann im allgemeinen über diese Familie sagen: sie bildet das gerade Gegenteil von dem Wege Kains und versieht den Weg Gottes. Ihr Glaube ist der gleiche, dem wir in Adam, Eva und Abel begegnet sind, und mit dem wir uns bereits beschäftigt haben. Ich möchte jetzt ihre Stellung und ihr Zeugnis in der Welt etwas näher betrachten.
Wie wir gesehen haben, hatte Gott ein Zeichen an Kain gemacht, „auf daß ihn nicht erschlüge, wer irgend ihn fände". Die Familie Seths beachtete dies, und kein Versuch wurde von ihren Gliedern gemacht, das Schreien des unschuldigen Blutes zu beantworten. Die Rache war nicht ihre Sache. Im Gehorsam gegen das Wort des Herrn hörten sie nicht das Schreien des Blutes, sondern die Stimme Jehovas, der die Rache verboten hatte. Sie ertrugen das an ihrem Bruder geschehene Unrecht und waren so angenehm vor Gott.
Das unschuldige Blut sollte also nicht gerächt werden, wenigstens damals nicht. Das war genug, um jenen Gläubigen ihre Fremdlingschaft auf Erden und ihre himmlische Berufung zu zeigen. Denn solange die Erde nicht von Unrecht und Gewalttat gereinigt werden soll, müssen die Auserwählten auf ihr Fremdlinge sein mit einer himmlischen Berufung. Das ist der Weg Gottes, der von jenen Heiligen vielleicht besser begriffen wurde, als von vielen unter uns, die wir bei den völligeren, Offenbarungen Gottes in der gegenwärtigen Zeit doch so viel belehrt und unterrichtet worden sind. Aber es handelt sich nicht darum, ob wir den meisten Unterricht empfangen haben, sondern ob wir die Fähigkeit besitzen, in Ruhe zu lernen. David bedurfte solcher Fähigkeit, als er daran dachte, ein Haus von Zedern, eine feste Wohnung für Jehova zu bauen, während das Land noch mit Blut befleckt war. Der Herr wollte, wenn ich so sagen darf, gleich den Heiligen vor der Flut, ein Fremdling auf Erden sein, ein Zeltbewohner, so lange Blut sie befleckte, und deshalb wies Er das Vorhaben des Königs von Israel zurück.
Wir können bei einiger Aufmerksamkeit manche Darstellungen dieses Weges Gottes unter verschiedenen Formen finden. So wollte der Herr zum Beispiel keinen Altar in Ägypten, dem unbeschnittenen Lande, haben, und ebensowenig ein Haus in Israel bis zu den Tagen Salomos, wo alles für Seine königliche Gegenwart geheiligt war. Später wurde die Herrlichkeit durch die Greuel, die in dem Tempel geschahen, verscheucht. In demselben Geiste hingen die gefangenen Juden ihre Harfen an die Weiden des Euphrat, denn wie konnten sie singen in einem fremden Lande oder die Gesänge Zions in Babylon erschallen lassen? Absonderung war das Verhalten, das ein göttlich belehrter Sinn vorschrieb, und Absonderung ist Heiligkeit. Hiermit befand sich die Familie Seths, die Haushaltung Gottes in den frühesten Tagen, in völliger Übereinstimmung.
Wir haben stets zu unterscheiden zwischen Gottes Behauptung Seiner Rechte auf die Erde und Seiner Berufung eines Volkes von der Erde. Diese beiden Dinge sind im Laufe der Zeiten immer wieder dargestellt worden, und zwar, wie ich glaube, in abwechselnder Reihenfolge. So begann der Herr bei Adam damit, Seine Rechte auf die Erde darzulegen und geltend zu machen. Der Mensch im Garten hatte die Oberherrschaft Gottes anzuerkennen, und die Erde war der Ruheplatz und die Freude des Herrn und der Schauplatz Seiner Herrlichkeit. Als dann die Sünde kam und alles verunreinigte und diese Verunreinigung nicht beseitigt wurde, berief Gott in Seth ein Volk von der Erde zur Erbschaft im Himmel.
In Noah behauptet Gott dann wieder Seine Rechte an die Erde und benutzt sie als den Platz, auf dem Seine Auserwählten ihre Heimat finden und wo Seine Gegenwart gekannt ist. Abraham dagegen wird von seiner Verwandtschaft, von seinem Feinde und von seines Vaters Hause abgesondert, um ein himmlischer Fremdling auf der Erde zu sein, mit einem Altar und einem Zelt, und in der Erwartung einer Stadt stehend, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. Sodann wird Israel im Lande Kanaan von neuem Zeuge von Gottes Oberherrschaft: die Bundeslade überschreitet den Jordan als „die Lade des Bundes des Herrn der ganzen Erde". Und heute endlich steht die Kirche Wieder da als die Zeugin der himmlischen Geheimnisse, und Fremdlingschaft hienieden ist der einzig göttliche Gedanke bis zu unserer Aufnahme, um dem Herrn in der Luft zu begegnen.
Diese wunderbare Darstellung, diese Zeiteinteilungen Gottes, die wie Tag und Nacht miteinander abwechselten, haben auf diese Weise von Anfang an geredet und reden noch. Und bald wird im tausendjährigen Reich die herrliche Wirklichkeit all dieser Schatten und Vorbilder ans Licht treten. Indes ist es beachtenswert, daß, so oft Gott in diesem Fortschreiten Seiner Pläne aufsteht, um Seine Rechte an die Erde geltend zu machen, Er damit beginnt, sie zu richten und zu reinigen. Bei einigem Nachdenken aber werden wir verstehen, daß dies nicht anders sein kann. Denn da der Schauplatz, auf dem Er Seine Herrlichkeit und Gegenwart zu offenbaren im Begriff steht, sich verderbt hat, so muß Er zuerst das Ärgernis wegnehmen, weil Seine Gegenwart keine Befleckung ertragen kann. Der Herrschaft Noahs über die Erde ging dementsprechend die Flut voraus, welche die Welt der Gottlosen beseitigte. Israels Besitz von Kanaan unter Jehova, als dem Herrn der ganzen Erde, wurde durch das Gericht der Amoriter und das Schwert Josuas vorbereitet. Und das zukünftige tausendjährige Königreich, während dessen die Erde wiederum den Schauplatz der göttlichen Herrlichkeit bilden wird, muß, wie die ganze Schrift uns lehrt, durch große, schreckliche Gerichte und durch die Erscheinung des Herrn in Seiner richterlichen Majestät eingeleitet werden, d. h. durch eine Säuberung der Erde von allem, was Böses tut und Ungerechtigkeit ausübt.
Die Berufung Gottes hat dagegen einen ganz anderen Charakter. Abraham war der Gegenstand dieser Berufung, und dementsprechend finden die Kanaaniter keinen Nebenbuhler in ihm. Er macht ihnen den Besitz des Landes nicht streitig. Er findet sie als Herren des Landes, und er läßt sie so. Er begehrt nur für eine Zeitlang in dem verheißenen Lande sein Zelt aufzuschlagen, seinen Altar zu errichten und später seine Gebeine darin niederzulegen.
Ebenso ist es mit der Kirche in der jetzigen Zeit. Sie ist gleichfalls ein Gegenstand der Berufung Gottes, und deshalb werden die Ungläubigen in ihrer Macht durch sie nicht im geringsten beeinträchtigt. „Jede Seele unterwerfe sich den obrigkeitlichen Gewalten" (Röm 13,1). Die Heiligen haben ohne Widerrede zu gehorchen oder geduldig zu leiden, je nachdem die an sie gestellten Forderungen mit ihrer Unterwerfung unter Christum und die Berufung Gottes vereinbar sind oder nicht. Sie haben nicht zu streiten. Petrus mußte sein Schwert einstecken, und Pilatus mußte lernen, daß das Reich Jesu nicht von dieser Welt war und deshalb auch Seine Diener nicht dafür kämpften. Ihr Kampf ist nicht wider Fleisch und Blut. In dem Augenblick, da sie diesen Kampf beginnen, sind sie verloren. Die Berufung Gottes hat Seine Scharen den Fürstentümern und Gewalten in der Höhe gegenübergestellt, und der Kampf ist dort. Sie verbindet uns nicht mit der Erde. Wir bedürfen der Frucht des Bodens und der Arbeit der Hände, um das für unseren Leib Nötige zu beschaffen. Unsere Bedürfnisse verbinden uns also mit der Erde, aber unsere Berufung trennt uns von ihr. Josua betrat das Besitztum der Heiden, um es durch sein Schwert zum Besitztum des Herrn zu machen. Paulus dagegen ging zu den Heiden, um aus ihnen ein Volk für Gott zu sammeln, ein Volk, das verbunden ist mit dem „verworfenen Stein", verachtet und verworfen von den Menschen.
Die Familie Seths stand gleichfalls unter dieser Berufung Gottes. Dies wurde ihnen durch den Befehl, das Blut Abels ungerächt zu lassen, zu verstehen gegeben, und sie verstanden diese Andeutung. Wenn die Erde in ihrer Befleckung gelassen wird, so ist das der Beweis, daß Gott sie nicht für Sich begehrt, und deshalb begehrte jene Familie des Glaubens sie auch nicht. Kains Geschlecht war im Besitz der Erde, und Seths Familie ließ sie darin, ohne sie zu bekämpfen. Der Sinn Gottes in ihnen teilte ihnen diese Kenntnis des Weges Gottes mit. Obwohl sie, wie wir schon früher bemerkten, keine Vorschriften besaßen, so waren sie doch im Licht, wie Gott im Licht ist. Und so wie dem Abraham später nicht gesagt zu werden brauchte, daß er einen Altar und ein Zelt haben müsse, so wie er keine Vorschrift des Herrn darüber nötig hatte, in welcher Weise er die Heirat seines Sohnes ordnen, oder wie er dem Könige von Sodom antworten sollte, so verstanden auch diese Gläubigen in weit früheren Zeiten die Heiligkeit der Berufung Gottes und traten bei der Ankündigung der Befleckung der Erde ihre Reise nach einem himmlischen Lande an.
Wie bewunderungswürdig ist die Wirksamkeit des Geistes Gottes in Seinen auserwählten Gefäßen! Sie hörten im Geiste das Wort, bevor die Stimme des Geistes es aussprach: „Machet euch auf und ziehet hin! denn dieses Land ist der Ruheort nicht" (Micha 2,10)! — „Sie riefen den Namen Jehovas an". Der Name des Herrn ist die Offenbarung, die Er über Sich gibt, und den Namen Jehovas anrufen deutet die Stellung des Heiligen und seinen geistlichen Dienst oder seine Anbetung Gottes an. „Und es wird geschehen, ein jeder, der den Namen Jehovas anrufen wird, wird errettet werden" (Joel 2,32; Röm 10,13 b «Dir will ich Opfer des Lobes opfern, und anrufen den Namen Jehovas" (Ps 116,17). Das war der Dienst jener ersten Gläubigen, ein Dienst in Glaube und Hoffnung, eine Anbetung im Geiste. Sie verehrten Gott, getrennt von der Welt, und warteten in Hoffnung. Kein Tempel, kein prunkvoller, fleischlicher Dienst, keine menschlichen Einrichtungen und Verordnungen waren da. In ihren Wegen und Gewohnheiten erscheinen sie als ein Volk, das auf der Erde wandelt, bis ihre Leiber entweder in sie gelegt oder, wie bei Henoch, verwandelt und zum Himmel aufgenommen werden. Sie suchen keine Besitzungen und Städte. Nichts wird uns gesagt von ihren Wohnorten und Beschäftigungen. Sie waren ohne Ort und Namen. Die Erde kannte sie nicht. Sie sind die frühesten Zeugen einer himmlischen Fremdlingschaft.
Später ist ein solches Leben in anderen Heiligen, und zwar mehr in seinen schönen Einzelheiten, dargestellt worden, wie zum Beispiel in Isaak. Obwohl die Welt gegen ihn war, stritt er doch nicht mit ihr, weder in der Tat, noch mit Worten. Er antwortete nichts und setzte sich nicht zur Wehr. Die Philister fordern ihn auf, von ihnen zu gehen, und er geht auf ihr Geheiß. Sie verderben seine Arbeiten, und er läßt sie gewähren und trägt es in Geduld (1Mo 26). So auch sein Vater Abraham. Nur ist es sehr betrübend zu sehen, daß es in diesem Fall ein Bruder ist, der den Platz der Welt einnimmt. Lot wählte, wie die Weit es getan haben würde, die wasserreiche Ebene. Abraham erträgt es geduldig, obgleich die undankbare und selbstsüchtige Handlungsweise eines Mannes, der mehr Einsicht hätte haben sollen und der Abraham alles verdankte, weit kränkender und verletzender war, als das Unrecht von seiten eines Philisters (1Mo 13).
Auch Israel nimmt in späteren Tagen die Beleidigung Edoms in diesem Geiste hin. Sie beanspruchen den Durchzug durch das Land Edoms auf Grund ihrer Verwandtschaft. Sie stellen ihnen ihre mannigfachen Beschwerden und Leiden vor, sowie ihre gegenwärtige Not als müde Pilger in einem wüsten Lande. Aber Edom verachtet sie und droht ihnen. Sie bitten von neuem, aber wieder werden sie beleidigt, und sie erdulden es und schlagen einen anderen Weg ein (4Mo 20). Und gerade so machte es der Herr in den Tagen Seiner Pilgerschaft. Er ging nach einem anderen Dorf, als die Samariter sich weigerten, Ihn aufzunehmen (Lk 9). Wie köstlich ist es, den Herrn immer an der Spitze von allem Vortrefflichen zu sehen! Isaak leidet Unrecht von der Weh, Abraham von einem, der ihm alles verdankte. Israel leidet gleicherweise von seinen Verwandten, aber Jesus von solchen, denen Er diente und die Er segnete, obgleich es Ihn alles kostete, von der Welt, die Er geschaffen, und von dem Volk, das Er erwählt hatte. Und bei alledem setzt Er Seine Pilgerreise in Liebe und unermüdlichem Dienste fort.
In diesem Geiste verfolgte die Familie Seths in den Tagen vor der Flut ihren Pilgerpfad. Sie überließen die Welt Kain. Wir finden nicht das geringste Anzeichen von einem Streit, noch hören wir irgendeinen Laut der Klage. In ihren Lebensgewohnheiten und den Grundsätzen ihrer Handlungsweise sind sie so verschieden von ihrem ungerechten Bruder, als ob sie von einem anderen Stamm oder in einer anderen Welt wären. Kains Familie macht gleichsam die ganze Weltgeschichte: sie bauen Städte, sie fördern die Künste, sie treiben Handel, sie erfinden Vergnügungen und Zeitvertreib. Aber in diesem allem wird die Familie Seths nicht gesehen. Die einen nennen ihre Städte nach ihren eigenen Namen, die anderen nennen sich selbst nach dem Namen Gottes. Die einen tun alles Mögliche, die Welt zu ihrem und nicht zu des Herrn Eigentum zu machen, die anderen geben sich selbst dem Herrn hin. Kain schreibt seinen eigenen Namen auf die Erde, Seth schreibt den Namen des Herrn auf sich selbst.
Wir haben alle Ursache, dem Herrn dankbar zu sein für diese Schilderung einer himmlischen Fremdlingschaft auf Erden und Ihn um die Gnade zu bitten, etwas von ihrer lebendigen Kraft in unseren Seelen zu verspüren. Wohl uns, wenn die Triebe unseres erneuerten Sinnes uns auf dem nämlichen himmlischen Pfade mit der gleichen Sicherheit und Klarheit leiten! Die Berufung Gottes stellt uns auf diesen Pfad, und alle Seine Unterweisungen fordern ihn von uns. Die Zerstreuungen und Vergnügungen der Kinder Kains waren nichts für solche Pilger. Die Erde gewährte ihnen keine Befriedigung. Sie begehrten das sie umgebende Land nicht, sondern trachteten nach einem besseren, das ist himmlischen1. Es kann deshalb mit allem Recht von ihnen gesagt werden, daß sie gerade das Gegenteil von dem Wege Kains bildeten, und daß sie den Weg Gottes verstanden.
So möchte der Herr auch uns haben, Geliebte — in der Welt, aber nicht von ihr, vom Himmel, obgleich bis jetzt noch nicht in ihm. Paulus wünschte die Gläubigen als solche zu sehen, „deren Wandel in den Himmeln ist", Petrus als „Fremdlinge und als die ohne Bürgerrecht waren, die sich enthielten von den fleischlichen Lüsten, die wider die Seele streiten". Jakobus sagt uns, daß „die Freundschaft der Welt Feindschaft ist gegen Gott", und Johannes, daß „wir aus Gott sind und die ganze Welt in dem Bösen liegt".
Sicher geziemt es sich für die Kirche, in dieser Absonderung zu wandeln. Nichts anderes als das entspricht der Berufung Gottes und ist den himmlischen Hoffnungen angemessen. Wir atmen allerdings nur schwach und leuchten nur matt im Vergleich mit jenen treuen Zeugen. Welch einem Zustand der Seele begegnen wir z. B. in einem Kapitel wie Phil 4! Welche Tiefe, welch eine innige, feurige Hingebung! Welch eine Erhabenheit in allen Lagen und inmitten aller Umstände und Schwierigkeiten! Ach! leider sind die Worte des Apostels für uns fast dasselbe, als wenn wir die Sprache eines anderen Landes hören, oder als wenn Reisende uns von der Glut und Pracht eines anderen Himmels und Klimas erzählen.
Möge der Herr uns mehr und mehr trennen von der Welt und von allem, was in ihr ist, und uns Gnade schenken, als solche dazustehen, deren Wandel in den Himmeln ist! Möchten wir in Wahrheit singen können:
Dank Dir, o Herr, daß Gold und Schätze
Und Pracht und Schönheit dieser Welt,Daß kein Ding je mich kann ergötzen,
Das mir die Welt vor Augen stellt!
Mein Jesus, Du bist meine Freude,
Mein Gold, mein Schatz, mein schönstes Bild;
Nur Du bist meine Lust und Weide,
Und was mein Herz für ewig stillt.
3
Nachdem wir uns in den beiden ersten Abschnitten mit dem Glauben und den Tugenden der Heiligen jener ersten Tage beschäftigt haben, bleibt uns noch übrig, einen Blick auf ihre Bestimmung und ihre Segnungen zu werfen.
Die Verwandlung und Aufnahme Henochs war das erste ausdrückliche Zeugnis von dem großen göttlichen Geheimnis, daß der Mensch einen Platz und ein Erbe in den Himmeln haben sollte. Durch die Schöpfung war er für die Erde gebildet worden. Der Garten war seine Wohnung und die ganze Erde sein Besitztum. Aber jetzt tritt der weit tiefere Vorsatz Gottes ans Licht, eine Auswahl aus den Menschen zu treffen, die Er in den ewigen Ratschlüssen Seiner überströmenden Gnade für den Himmel bestimmt hat. Bis dahin war dieser erhabene Vorsatz Gottes nur dunkel geoffenbart worden. In der Person Henochs aber leuchtet er auf einmal hell hervor. Die himmlische Berufung in den Herzen jener auserwählten und begünstigten Familie zeigt sich in ihrem vollen Glanz. Dies große Ereignis unter den Patriarchen vor der Flut stellt die Aufnahme der Heiligen, um dem Herrn in den Wolken zu begegnen, vorbildlich dar.
Das war die hohe Bestimmung dieses auserwählten Volkes. Die Prophezeiungen Henochs und Lamechs sind Beispiele ihrer Segnungen. Es waren in der Tat reiche Segnungen, denn jene Prophezeiungen durch den Heiligen Geist zeigen uns, daß ihnen herrliche Geheimnisse anvertraut waren. Sie wurden wie Freunde behandelt. „Soll ich vor ihnen verbergen, was ich tun will?" sagt der Herr gleichsam zu ihnen, wie später zu Abraham. Und wenn Abraham das Schicksal Sodoms vorher wußte, so war Henoch das Schicksal der ganzen Welt im voraus bekannt. (Vergl. Jud 14-15). Seine Prophezeiung offenbart ein wunderbares und herrliches Geheimnis, daß nämlich die himmlischen Heiligen den Herrn an dem Tage Seiner Macht und des Gerichts begleiten werden. Später schildert Lamech den Schauplatz, der jenseits des Gerichts liegt, die Tage der tausendjährigen Segnung, die Tage des Himmels auf der Erde (1Mo 5,29). Gott hat die Erde nicht für immer aufgegeben, und diese Heiligen konnten von diesem großen Geheimnis reden, noch ehe der Bogen in den Wolken das sichtbare Zeichen davon wurde. Zugleich wußten sie, daß das Gericht erst über die Erde kommen mußte, und auch über dieses Geheimnis redeten sie, bevor die Brunnen der großen Tiefe geöffnet wurden.
Reiche geistliche Segnungen verbinden sich so mit ihrer hohen persönlichen Würde vor Gott, gerade wie jetzt bei der Kirche. Sie waren „Verwalter der Geheimnisse Gottes". Sie konnten „singen von Güte und Recht". Paulus war mit den näheren Umständen der himmlischen Berufung betraut. Er spricht von unserer Aufnahme, daß wir dem Herrn in der Luft begegnen werden, und von dieser großen Erwartung, als unserem Trost und als unserer Errettung vor dem Tage des Herrn und seinen Schrecken. Henoch stellte dieselbe Sache lange vorher in seiner eigenen Person dar. Johannes spricht von den aufgenommenen Heiligen, die den Herrn am Tage Seiner Macht begleiten und an der Kriegführung des Reiters auf dem weißen Pferde teilnehmen werden (Off 19). Henoch bezeugte lange vorher dasselbe in seiner Prophezeiung. Die Propheten reden davon, daß die Erde einst erneuert werden soll, daß die Wildnis jubeln, die Wüste blühen und anstatt der Dornen die Myrte grünen wird. Lamech hatte lange vorher von demselben Trost für die Erde und von der Ruhe des Menschen von dem Fluch des Erdbodens gesprochen.
Auch finden wir in diesen frühesten Äußerungen des prophetischen Geistes eine besondere Lebendigkeit. Gewöhnlich bedeckt der Nebel der Entfernung die Mitteilungen, die wir von der Zukunft erhalten. Die Ereignisse sind nicht klar, weil sie nicht im Vordergrunde stehen. Sie sind in Unbestimmtheit gekleidet. Und dies, im Gegensatz zu der näheren Landschaft, erhöht nur den Eindruck des Ganzen. Aber wenn zu Zeiten der Hintergrund beleuchtet wird, so können wir uns daran erfreuen, und in diesen frühesten Aufzeichnungen werden die letzten Szenen der göttlichen Handlungen mit außergewöhnlicher und schöner Bestimmtheit hervorgehoben.
In Henoch sehen wir also das Ende des Weges jener Familie Gottes. Es ist ebenso himmlisch wie der ganze Weg. Ich meine weniger die Tatsache des Endens im Himmel, als vielmehr die Art und Weise, wie dieser Weg endet. „Henoch wandelte mit Gott; und er war nicht mehr, denn Gott nahm ihn hinweg". Nichts besonderes kündigte jene herrliche Stunde an. Keine großen Erwartungen oder fremdartigen Ereignisse bezeichneten ihr Herannahen. Es war der naturgemäße himmlische Schluß einer unausgesetzt himmlischen Reise.
Anders war es später mit Noah. Große Vorbereitungen wurden für seine Rettung getroffen. Jahre gingen darüber hin, eine genau festgestellte Anzahl von Jahren. Noah wurde durch das Gericht geführt. Henoch dagegen wurde, bevor das Gericht kam, an den Platz gebracht, von dem es ausging2. Aber wenn auch keine Zeichen dieses große, wunderbare Ereignis ankündigten, war die Welt nicht Augenzeuge davon? War es nicht zu herrlich und zu groß, um im stillen und verborgenen geschehen zu können?
Die kurze Beschreibung, die wir im Hebräerbrief von der Aufnahme Henochs finden, scheint eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Wir lesen dort: „Er wurde nicht gefunden, weil Gott ihn entrückt hatte". Aus diesen Worten dürfen wir wohl schließen, daß die Menschen von jener herrlichen Stunde keine Kenntnis gehabt haben. Die Welt scheint Henoch gesucht und nach ihm geforscht zu haben, wie später die Söhne der Propheten nach Elias; aber es war umsonst. Hieraus geht hervor, daß die Verwandlung vor den Menschen verborgen geblieben ist, denn wenn sie sie gesehen hätten, so würden sie nicht nach ihm gesucht haben.
Jede ähnliche Stelle der Schrift deutet das nämliche an. Die Herrlichkeit ist in keiner ihrer Formen und Handlungen für das Auge oder Ohr des natürlichen Menschen. Feurige Pferde und Wagen bedeckten die Berge, aber dem Diener des Propheten mußten die Augen geöffnet werden, bevor er sie sehen konnte (2Kön 6,14-17). Daniel sah einen herrlichen Mann und hörte seine Stimme, wie die Stimme einer Menge, aber die Männer, die bei ihm standen, sahen nichts, nur ein großer Schrecken fiel auf sie. Der Himmel öffnete sich über dem Haupte des Stephanus inmitten einer großen Menschenmenge, aber die Herrlichkeit wurde nur von ihm gesehen. Paulus wurde ins Paradies entrückt, aber kein Auge nahm seinen Flug dahin wahr. Und auch als der Herr auferstand aus einer in einen Felsen gehauenen Gruft und inmitten wachender Kriegsknechte, bemerkte es kein Auge und kein Ohr. Es war eine Lüge, daß die Wächter des Grabes geschlafen haben sollten, aber es ist eine Wahrheit, daß sie nicht mehr von der Auferstehung gesehen haben, als wenn sie auch geschlafen hätten. Stille und Verborgenheit kennzeichnen also alle diese herrlichen Begebenheiten. Gesichte, Auferstehungen, Himmelfahrten, das Herniederkommen der Herrlichkeit auf diese Erde und das öffnen des Himmels droben — alle diese Dinge gehen vor sich, und der natürliche Mensch nimmt von allem nichts wahr. Mit der Aufnahme Henochs ist es sicherlich ebenso gewesen, und so wird auch bald eine andere noch herrlichere Stunde kommen, an der alle, „die des Christus sind", beteiligt sein werden.
Ich schließe hiermit die Betrachtung des fünften Kapitels. Der erste Teil des ersten Buches Mose ist hier zu Ende, denn diese fünf Kapitel bilden gleichsam einen Band für sich.
Das erste Kapitel eröffnet diesen Band mit dem Werk der Schöpfung.
Im zweiten findet der Herr als Schöpfer Seine Wonne an der vollendeten Schöpfung und setzt in ihre Mitte und über sie den Menschen, den Er in Seinem eigenen Bilde erschaffen hatte. Er umgibt ihn mit allen Segnungen und Besitzungen, um seine Stellung vollkommen zu machen.
Im dritten Kapitel sehen wir diesen Menschen versucht und überwunden, und dann den dadurch hervorgerufenen Ruin der Schöpfung und die von Gott vorgesehene Erlösung.
Das vierte und fünfte Kapitel zeigen uns den einen Zweig dieser gefallenen Familie, der die Trümmer dieses Verfalls erwählt, und den anderen, der sich in der Erlösung erfreut.
Wie einfach ist das alles und doch wie vollkommen! Es ist die
Erzählung der Ereignisse früherer Tage, aber wir leben bis zu dieser Stunde in ihren Ergebnissen und Folgen. Es wird uns in diesem kleinen Bande die Darstellung einer auserwählten, gläubigen und himmlischen Familie gegeben, die in einer Weise auf der Erde wandelte, wie wir wandeln sollten, und die zugleich durch ihren Glauben, ihre Hoffnung und ihre Bestimmung dem Himmel gerade so nahe war wie wir.
Gibt es wohl etwas, was in der Gegenwart des Herrn mehr Demütigung hervorruft als die Erkenntnis, wie wenig unsere Herzen Seine verheißene Herrlichkeit schätzen? Es ist schrecklich, diese Entdeckung bei sich zu machen, und doch ist sie nicht schwer. Wir wissen, wie schnell die augenblicklichen Interessen uns bewegen, wie ein Verlust im Geschäft oder in der Familie uns niederdrückt und ein Vorteil uns erhebt, und ebenso wissen wir, wie schwach der Glanz der Herrlichkeit für uns ist, wenn nur eine Schwierigkeit oder eine Gefahr zwischen ihr und uns liegt.
Ruft diese Entdeckung wahre Betrübnis in unseren Herzen hervor, lieber Leser? Hat sie uns je zum Seufzen und Flehen vor unseren Gott gebracht? Wie traurig und ernst 1st es, wenn wir auf der Erde unser Teil suchen, wenn die Vergnügungen der Welt unsere Herzen erfüllen, oder wenn ihre Ehrenbezeugungen und Bestrebungen wieder die Gegenstände unserer Herzen werden! Lots Weib ging aus Sodom hinaus, und zwar in Begleitung eines Auserwählten, aber dann zeigte es sich, daß ihr Herz noch dort geblieben war: sie blickte zurück und kam mit der Stadt um. Israel war schon in der Wüste Paran, und zwar in Begleitung der Lade Gottes, als es sich offenbarte, daß ihre Herzen und Gedanken noch bei den Fleischtöpfen Ägyptens verweilten. Welche ernsten Ermahnungen für uns alle! Welche feierlichen Warnungen, daß wir nicht mit jenen Lüsten und Genüssen spielen, gegen die wir einst wachsam waren, und die wir töteten!
„Von jenem Tage aber und jener Stunde weiß niemand", so lauten die ernsten Worte, durch die der Herr Sich weigert, den Augenblick Seiner Rückkehr zu dem jüdischen Überrest kundzutun. Jener Augenblick wird plötzlich, unerwartet für sie kommen. So verhält es sich auch mit dem Tode oder auch mit unserer Aufnahme. In keinem Fall ist Tag oder Stunde mitgeteilt. Alles ist in einem Worte von tiefer und heiliger Wichtigkeit eingeschlossen, dies heißt: „Wachet!" Dies eine Wort wendet sich an alle: „was ich euch sage, sage ich allen: Wachet!" (Mk 13,32.37).
Wir erwarten „seinen Sohn aus den Himmeln". Israel wird den „Tag des Sohnes des Menschen" zu erwarten haben. Aber niemand kennt die Stunde, in der das Warten sein Ende erreichen wird. Insoweit befinden wir uns also in gleicher Lage wie sie. Andererseits aber gibt es dennoch einen Unterschied. Dem jüdischen Überrest sind Zeichen gegeben, das heißt, es sind ihnen gewisse Dinge genannt, die dem „Tage des Sohnes des Menschen" vorangehen müssen, obgleich sie den Tag und die Stunde Seiner Erscheinung nicht kennen (vergl. Mt 24,32-35). Den Heiligen der Jetztzeit aber, die „den Sohn Gottes aus den Himmeln" erwarten, sind weder solche Zeichen gegeben, noch ist ihnen etwas von Begebenheiten gesagt, die notwendigerweise vorhergehen müssen.
Der Herr teilte dem Noah Sein Vorhaben in Bezug auf das Gericht mit und gab ihm bestimmte Andeutungen über das Eintreffen des Gerichts. Noah wußte, daß es nicht eher kommen konnte, bis seine Arche gebaut war. War ihm auch nicht der Tag bekannt, an dem die Wasser steigen sollten, so wußte er doch, daß es nicht eher geschehen konnte, bis er und die Seinen in Sicherheit gebracht waren. Ebenso ist es mit Israel. Verschiedene Begebenheiten müssen stattfinden, bevor der Sohn des Menschen wieder hier auf Erden sein kann. Anders aber war es mit Henoch. Kein Ereignis, das vorher stattfinden mußte, hielt seine Aufnahme auf. Sein Wandel mit Gott war alles, was seiner Himmelfahrt voranging. Gerade so verhält es sich mit der Kirche, die jetzt gesammelt wird. Sie wartet auf keine Umstände; keine Ereignisse bereiten ihren Weg zum Himmel vor. Dem jüdischen Überrest sagt der Herr, daß er auf bestimmte Zeichen und Ereignisse achthaben solle, um zu wissen, daß seine Erlösung nahe sei. Vorher zu sagen: „Die Zeit ist nahe gekommen", bezeichnet Er als Verführung (Mt 24,33; Lk 21,8). Uns dagegen sagt der Apostel, daß unsere Erwartung stets nahe ist (Phil 4,5; Jak 5,8). Der Herr ermahnt den Überrest, zu wachen, damit der Tag sie nicht wie ein Dieb ergreife. Der Apostel ermahnt uns als solche, die vom Tage sind, und für die es sich geziemt, als Söhne des Tages zu wandeln (Mt 24,43; 1Thes 5,5.6). Hierin liegt ein großer, bedeutungsvoller Unterschied. Aber trotz dieses Unterschiedes werden alle gleichmäßig aufgefordert, zu wachen, und sicher kann der Herr dies mit allem Recht von uns erwarten. Denn da die angedrohten Gerichte so ernst und schrecklich sind und die Verheißungen so unaussprechlich herrlich, so ist es nur eine geringe Sache, wenn von uns verlangt wird, diese Dinge als etwas überaus Hohes und Wichtiges zu behandeln, d. h. mit anderen Worten, zu wachen.
Das Bewußtsein der Nähe der Herrlichkeit sollte von uns gepflegt werden, ich meine ihre Nähe sowohl in betreff des Raumes als der Zeit. Es kann uns keine Anstrengung kosten, uns von dieser Nähe zu überzeugen. Sie wird uns sehr klar und bestimmt gelehrt. Die Gemeinde Israels wurde am Eingang des Zeltes der Zusammenkunft versammelt, und sobald der bestimmte Augenblick kam, erschien ihnen die Herrlichkeit (siehe 3Mo 8 und 3Mo 9). So war es auch bei der Errichtung dieses Zeltes und ebenso bei der Einführung der Bundeslade in den Tempel (2Mo 40; 2Chr 3). Das gleiche sehen wir, wenn die Herrlichkeit (obgleich in verschiedenen Charakteren) etwas auszurichten hatte, sei es auf dem heiligen Berge, oder bei dem sterbenden Stephanus, oder bei Saulus auf dem Wege nach Damaskus. Was sie auch auszurichten hatte, und wozu sie auch berufen wurde, ob zu überzeugen, zu erfreuen und zu verwandeln, oder den Verfolger zu Boden zu werfen und den Märtyrer triumphieren zu lassen — stets war sie in einem Augenblick, in einem Nu gegenwärtig. Es ist gleichsam nur ein dünner Schleier, der sie verbirgt oder von uns trennt. Der
Pfad ist kurz, und unsere Reise nähert sich eilends ihrem Ende. Wir sollten den Gedanken daran pflegen. Das gibt Kraft und Trost. Und bald, wenn die Stunde der allgemeinen Verwandlung gekommen ist, wenn die Stimme des Erzengels sie ankündigt, wird die Herrlichkeit in einem Nu wieder erscheinen, um uns, angesichts der himmlischen Heerscharen, wie Henoch zu dem himmlischen Kanaan emporzutragen.
Dann wird der Herr in Seinen Heiligen verherrlicht sein, nicht wie jetzt in ihrem Gehorsam und Dienst, in ihrer Heiligkeit und in ihren Früchten, sondern in ihrer persönlichen Schönheit. Gekleidet in Weiß und glänzend in all der Herrlichkeit, die uns zuteil werden wird, werden wir das wunderbare Zeugnis von dem sein, was Er für den Sünder, der sein Vertrauen auf Ihn setzte, getan hat. Und wie mir jüngst ein lieber Freund schrieb, so möchte auch ich dem gläubigen Leser dieser Zeilen sagen: „Keine Lerche stieg je an einem taufrischen Morgen so heiter und froh empor, um ihr liebliches Lied zu singen, wie Du und ich emporsteigen werden, um unserem Herrn in der Luft zu begegnen". Und ebenso möchte ich der Ermahnung, die mein Freund an diese Worte knüpfte, auch hier einen Platz geben. Sie lautete: „Stelle dies als eine lebendige Wirklichkeit vor Deine Seele, und dann warte geduldig auf die Erfüllung Deiner
Hoffnung".
„Amen; komm, Herr Jesus!"
1 Ich betrachte hier die Familie Seths nur nach dem, was wir in 1Mo 5 von ihr hören. Ohne Zweifel haben sich auch hier, wie bei jeder anderen Probe des Menschen, Mängel und Verderben gezeigt; aber ich rede nur von ihrer
Stellung und ihrem Zeugnis, wie wir sie hier finden. Söhne und Töchter wurden ihnen geboren, ein Geschlecht folgte dem anderen, und ich zweifle nicht daran, daß auch unter sie der Same des Abfalls gesät wurde und Früchte hervorbrachle. Aber dies beeinträchtigt keineswegs die Unterweisung, die uns dieses Kapitel gibt.↩︎
2 Ich will hier nicht weiter auf die Anwendung von diesem allem eingehen, aber es scheint mir, daß der Herr, wenn Er in Matthäus 24 von der jüdischen Auserwählung spricht, Noah zu Seinem Vorbilde nimmt, während der Apostel, der sich an die Kirche wendet, seine Worte vielmehr der Verwandlung Henochs entlehnt. Der jüdische Überrest wird, wie Noah, durch die Gerichte geführt werden. Die Heiligen dagegen, die jetzt gesammelt werden, sehen wir an dem
Platze, von wo das Gericht ausgegossen werden soll. Wir werden wiederholt belehrt, wie ich schon bemerkte, daß die Ausübung der Macht mit dem Herrn an jenem Tage ein Teil der Herrlichkeit der Heiligen ist. (Vergleiche Kol 3,4;
Off 2,26; 17,14; 19,14).↩︎