Wir kommen jetzt zu Kapitel 11. Wie schon angedeutet, bildet Kapitel 10,34 das Bindeglied zwischen den beiden leitenden Gedanken des Briefes, daß nämlich das Christentum uns innerhalb des Vorhangs und außerhalb des Lagers führt. Das heißt: es zerstört das Werk Satans, der uns von Gott entfremdete und uns heimisch machte in einer verderbten Welt. Denn das ist gerade der Zweck des Kommens Christi, das Werk Satans zunichte zu machen. Wie beeindruckend ist der Gegensatz, der sich zwischen der Schlange und dem Schlangenzertreter zeigt!
Die „große Belohnung” tritt jetzt in dem Leben des Glaubens, das wir betrachten wollen, ans Licht. Wir sind berufen, wie John Bunyan sagt, „uns männlich zu erweisen”. Von innen Glück, von außen Kampf, das ist gleichsam des Christen Losung. Hebräer 11 zeigt uns die Auserwählten aller Zeitalter, wie sie sich „männlich” erwiesen haben in der Kraft des zuversichtlichen Glaubens, der in ihnen wirkte.
Werfen wir deshalb unsere Zuversicht nicht weg; denn wir sehen hier deutlich, daß sie „eine große Belohnung” hat. Der Glaube erfaßt zwei Dinge von Gottes Seite: Zunächst sieht er in Ihm Den, der den Gottlosen rechtfertigt (wie in Römer 4), und dann eignet er sich Gott an als Den, der „denen, die Ihn suchen, ein Belohner ist”. In dem Augenblick, da man Gott ergreift durch einen Glauben, der nicht wirkt, gelangt man zu einem Glauben, der wirkt. Das mag etwas sonderbar klingen, aber es ist doch so. Demselben scheinbaren Widerspruch begegnen wir in den beiden Stellen Hebräer 11,31 und Jakobus 2,25. Mit Recht schätzen wir einen Glauben, der unsere Seelen errettet; laßt uns dann aber auch nicht gleichgültig sein hinsichtlich eines Glaubens, der unserem Heiland zu dienen begehrt. Mit wieviel Stolz behaupten wir oft unsere Rechte als Gläubige! Aber die ernste Frage lautet: Schätzen wir wirklich unser Erbteil? Es ist eine jämmerliche Sache, sich jener Rechte zu rühmen und dabei zu zeigen, daß das Herz nur wenig durch die Hoffnung auf das Erbteil bewegt wird. Ebenso traurig ist es, wenn ich mich des rechtfertigenden Glaubens rühme und dabei bezüglich des in Hebräer 11 vorgestellten Glaubens Gleichgültigkeit an den Tag lege. „Der Glaube aber ist eine Verwirklich ung dessen, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht”. Er war die Kraft aller Glaubenshelden im Alten Testament, die in ihm „Zeugnis erlangt haben” - ein neuer Beweis für unsere Behauptung, daß alles in diesem Brief darauf hinausläuft, das Gesetz beiseitezusetzen. Denn wäre es selbst möglich, das Gesetz als die geheime Kraft meiner Seele zu nehmen, um auf diesem Weg etwas für Gott zu tun, so wäre doch das, was ich täte, nicht für Gott, sondern für mich selbst. Das Gesetz mag mich strafen und züchtigen und mich auffordern, mir ein Anrecht an das Leben zu verdienen, aber schließlich diene ich damit doch nur mir selbst. Der Glaube setzt das Gesetz beiseite.
Nachdem der Apostel somit den Glauben als einen wirkenden Grundsatz eingeführt hat, beginnt er, die verschiedenen Stadien, in denen er sich von Anfang an gezeigt hat, zu entwickeln. Zunächst redet er von ihm im Blick auf die Schöpfung, und ich denke, daß Vers 3 eine Anspielung auf Adam enthält. Wenn Adam im Garten Eden ein Anbeter war, so war er es durch Glauben. Sollte er nicht einen Blick hinter all die Wunder, von denen er umgeben war, getan und den großen Meister der Schöpfung in ihnen erkannt haben?
Man hört zuweilen sagen, daß man Gott auch heute noch in der Natur anbeten könne; doch sobald der Mensch seine Unschuld einbüßte, gab er die Schöpfung als einen Tempel preis, und eine Rückkehr dorthin ist unmöglich. Für Adam war die Natur ein Tempel; aber wenn ich heute zu ihr zurückkehre, so kehre ich gleichsam zu Kain zurück.
Wir kommen jetzt zu Abel und zu einem göttlichen Zeugnis. Wir sind Sünder, und das Zeugnis, das uns die Grundlagen der Erlösung erschließt, muß uns sozusagen auch einen Tempel bauen. Der Platz des Anbeters ist in dem Tempel, den Gott in Christus für uns erbaut hat.
Dann wird uns Henoch vorgestellt. Henochs Leben weist nichts
Außergewöhnliches auf; aber er verbrachte es mit Gott. Im 1.
Buch Mose wird uns gesagt, daß er mit Gott wandelte, und hier hören wir,
daß er Gott Wohlgefallen habe. Ähnlich sagt der Apostel in
Das Leben Noahs weist weit mehr markante Züge auf als das Leben Henochs. Der Glaube, der in ihm war, schenkte der Warnung Gottes Gehör. Der Glaube braucht nicht auf den Tag der Herrlichkeit oder den Tag des Gerichts zu warten, um die Herrlichkeit oder das Gericht zu sehen. Der Glaube in dem Propheten bat nicht darum, daß seine Augen geöffnet werden möchten; er schien hier einhundertundzwanzig Jahre lang ein Tor zu sein. Noah baute ein Schiff auf trockenem Land. Seine Nachbarn mögen wohl oft ihren beißenden Spott über ihn ausgegossen haben; aber er kümmerte sich nicht darum, denn er schaute auf das Unsichtbare. Wie beschämend ist das für uns! Ach, wenn wir nur mehr unter dem mächtigen Einfluß der zukünftigen Herrlichkeit ständen, welche Narren würden wir in den Augen der Menschen sein! Aber auch welch ein mächtiges Zeugnis für unseren kommenden Herrn!
Doch ich möchte das Wort nicht übergehen, das in Vers 6 steht: „Wer Gott naht, muß glauben, daß er ist, und denen, die ihn suchen, ein Belohner ist". Auf den Glauben, von dem in Römer 4 die Rede ist, würden sich diese Worte wohl nicht anwenden lassen. - „Aber”, möchte gefragt werden, „ist es gut, so viel von Belohnung zu reden? Wird uns das nicht auf einen gesetzlichen Boden führen?” Keineswegs! Jener Ausspruch ist an seiner Stelle durchaus am Platz und sehr schön. Der Glaube eines Heiligen kann nicht untätig sein; er ist vielmehr etwas, das sich in hohem Grad tätig erweist. Und sollte Gott wohl irgend einem Menschen gegenüber ein Schuldner bleiben? Nein, Er ist denen, die Ihn suchen, ein Belohner; ja, Er wird all denen, die da säen, eine reichliche Vergeltung zuteil werden lassen. „Wer segensreich sät, wird auch segensreich ernten” (2Kor 9,6).
Abrahams Leben, das als nächstes folgt, bietet uns ein Gemälde von den verschiedenartigen Übungen des Glaubens. In seinem Glauben lag Erhabenheit, eine siegreiche, überwindende Kraft, ein klares und tiefes Erfassen; alle diese schönen Glaubenseigenschaften treten im Leben Abrahams deutlich ans Licht. Er zog sozusagen blindlings aus, „nicht wissend, wohin er komme”; doch der Gott der Herrlichkeit führte ihn an Seiner Hand. So kam er in das Land der Verheißung und hielt sich dort auf, ohne daß ihm ein Fußbreit Boden gegeben worden wäre. Er mußte mit dem Glaubens gehorsam auch das Ausharren des Glaubens verbinden; und was immer von den Lippen Gottes kommen mochte, war ihm willkommen. Abraham wandelte sein ganzes Leben hindurch in der Kraft der Erinnerung an das, was er unter der Leitung des Gottes der Herrlichkeit gesehen hatte. Stephanus, der in seiner Rede an das versammelte Synedrium gerade von dem „Gott der Herrlichkeit” spricht (vergl. Apg 7,2.3), sah in seinen Tagen den Himmel offen. Angenommen nun, das Gesicht des Stephanus wäre an deinem Geistesauge vorübergegangen - nicht daß du erwarten dürftest, dasselbe Gesicht zu schauen, das er einst sah; aber du hast es in ihm gesehen - was würdest du sagen, wenn man dich zum Scheiterhaufen führen würde? Du würdest, wie Stephanus, deinen Feinden zurufen können: „Ich habe die Himmel über mir geöffnet gesehen, und den Herrn Jesus zur Rechten Gottes stehend”. Nun ist es, Gott sei Dank, jetzt nicht die Zeit der Scheiterhaufen; aber wenn wir einfältige Leute mit aufrichtigen, treuen Herzen sind, so werden wir gerade so vorangehen, wie Abraham es tat, nachdem er den Gott der Herrlichkeit gesehen hatte.
In Sarah wiederum erblicken wir eine andere Art von Glauben. Wir müssen in Gott Den sehen, der die Toten lebendig zu machen vermag. Noah kannte Gott so. Auch die Israeliten lernten Ihn hinter den mit Blut bestrichenen Türpfosten in dieser Eigenschaft kennen. Der Tod herrschte in Ägypten und bedrohte jedes Haus im Land; doch die Israeliten hatten Gott als Den erkannt, der die Toten lebendig macht. Und von dieser Seite lernten auch Noah, Abraham und Sarah Gott kennen. Wenn ich aus Gott weniger mache als einen Gott, der die Toten lebendig macht, so mache ich aus mir selber mehr als einen toten Sünder. Ich muß mit Ihm Zusammentreffen als dem Gott, der die Toten lebendig macht.
Der 13. Vers unseres Kapitels ist besonders schön und lieblich. Das erste, was mit einer Verheißung geschehen muß, ist, daß man sie sich aneignet, dann, daß der Glaube bezüglich dieser Verheißung in Tätigkeit kommt, und schließlich, daß man sie mit dem Herzen aufnimmt. Die Gläubigen, von denen wir bisher gesprochen haben, „sahen sie von ferne und begrüßten sie”. Ihre Herzen ergriffen sie. Und nun mögen wir uns fragen: Inwieweit haben unsere Herzen die Verheißungen ergriffen? Jeder von uns wird die Armut und Dürre seines eigenen Herzens kennen. Doch eins ist gewiß: Je inniger unsere Herzen sie ergreifen, desto freudiger werden wir bereit sein, als Pilgrime und Fremdlinge durch diese Welt zu gehen. Wir haben hier ein wunderbares Bild vor uns von Herzen, die durch den Glauben geleitet wurden. Hatten jene Gläubige etwa deshalb das Gefühl der Fremdlingschaft, weil sie Mesopotamien, das Land ihrer Verwandtschaft, verlassen hatten? Nein, sondern weil sie die ihnen von Gott bereitete himmlische Stadt noch nicht erreicht hatten. Sie hätten zurückkehren können, wenn sie gewollt hätten; aber das hätte sie von ihrer Fremdlingschaft nicht abgebracht.
Angenommen, es würde ein Wechsel in deinen Umständen eintreten, würde das deine Fremdlingschaft aufheben? Sicherlich nicht, wenn du dem Volk Gottes angehörst. Mesopotamien stillte das Sehnen jener Fremdlinge nicht. Nichts konnte ihre Fremdlingschaft aufheben, ihr ein Ziel setzten oder sie beendigen, als nur die Erlangung des Erbteils. Vorwärts führte ihr Weg, der himmlischen Stadt entgegen, und Gott schämte Sich nicht, ihr Gott genannt zu werden.
In Kapitel 2 haben wir gelesen, daß Christus Sich nicht schämte, uns Seine Brüder zu nennen. Hier hören wir, daß Gott Sich nicht schämte, diese Fremdlinge Sein Volk zu nennen. Warum schämt Christus Sich nicht, die Geheiligten Seine Brüder zu nennen? Weil sie in ein und demselben göttlichen, ewigen Ratschluß mit Ihm stehen; weil Der, welcher heiligt, und die, welche geheiligt werden, alle von einem sind. Die Auserwählten und Christus sind in einer Familie miteinander verbunden. Ein Band umschlingt sie alle. Wie könnte Er Sich ihrer schämen? Und gerade so ist es, wenn du mit der Welt abgeschlossen hast, wenn du ein Fremdling in ihr geworden bist; Gott schämt Sich dann nicht, dein Gott zu heißen. Denn Er Selbst hat mit der Welt abgeschlossen, und so kann Er Sich deiner nicht schämen, weil du eines Sinnes mit Ihm bist. Gerade deshalb, weil jene sich Fremdlinge nannten, nannte Gott Sich ihr Gott.
Stehen wir hier einen Augenblick still, um auf die ernste Zurechtweisung zu lauschen, die uns hier zuteil wird. Wie tief sitzt in den meisten von uns noch eine Neigung zu Verbindungen oder zu Freundschaft mit der Welt! Wie wenig zeigt sich jene himmlische Fremdlingschaft, die ein für allemal entschieden mit der Welt und ihren Dingen gebrochen hat, und die nur ein Ziel kennt - den Himmel!
Darum wird Abraham in einem neuen Licht vor unsere Blicke gestellt. Alle Hoffnungen Abrahams konzentrierten sich auf Isaak, ruhten auf dem Sohn der Verheißung. „In Isaak soll dein Same genannt werden”, war über ihn gesagt worden. Isaak hinzugeben, hieß nicht nur Bankrott in der Welt machen, sondern schien geradezu einem Bankrott im Blick auf Gott gleichzukommen. Abraham hätte fragen können: Soll ich denn nun auch an Gott zu Schanden werden, nachdem ich in Mesopotamien alles eingebüßt habe? Eine höhere Anforderung hätte an den Glauben unseres Patriarchen nicht gestellt werden können. Hast du je gefürchtet, Gott könnte dich an Ihm Selbst zu Schanden werden lassen? Hat Er Sich wohl je von dir abgewandt, um Sich dir nie wieder zuzuwenden?
Was Abraham betrifft, so empfing er Isaak im Gleichnis zurück, als ein Siegel und einen neuen Zeugen der Auferstehung. Und ich möchte fragen: Verlieren wir wohl je etwas dadurch, daß wir Gott in dunkler Stunde vertrauen? Wahrlich nicht; und wenn jemand Gott jemals in dunkler Stunde vertraut hat, so war es Abraham.
Nach Abraham kommen wir zu Isaak. Isaak bewies seinen Glauben darin, daß er Jakob und Esau in Bezug auf zukünftige Dinge segnete. Das ist das Wenige und Einzige aus seinem Leben, das der Geist Gottes erwähnt. Wir mögen darüber erstaunt sein; aber wenn wir Isaaks Leben betrachten, so werden wir finden, daß dies in der Tat den Höhepunkt bildete. Jene Handlung war in den Augen Gottes bedeutsam.
Jakob ist wieder bemerkenswerter, gleichwie es in dem Leben Noahs mehr Bemerkenswertes gab als im Leben Henochs. Sein Leben war sehr ereignisreich; dennoch wird uns hier nur das eine von ihm berichtet: „Durch Glauben segnete Jakob sterbend einen jeden der Söhne Josephs”. Das ist ausnehmend schön, aber es zeigt uns auch, wieviel Wertloses es in dem Leben eines Gläubigen geben mag. Ich glaube nicht, daß man Jakobs Leben die Darstellung des Lebens eines Dieners Gottes nennen kann. Er war das Bild eines Gläubigen, der immer wieder irre ging und dessen ganzes Leben ein beständiges Fallen und Aufstehen, ein stetes Gehen und Umkehren war. Jene Glaubenshandlung finden wir erst ganz am Ende seines Weges: „sterbend segnete er einen jeden der Söhne Josephs”. Da kam er in Berührung mit unsichtbaren Dingen, mit Dingen, die dem Lauf der Natur entgegen waren. Sein Leben bestand, wie gesagt, aus fortgesetztem Fallen und Wiederaufstehen, und erst am Schluß tat er diesen schönen Dienst des Glaubens aus Gott, ungeachtet der natürlichen Empfindungen seines Herzens und des Einwandes seines Sohnes Joseph.
Josephs Leben dagegen ist sehr lieblich; es war von Anfang an ein Leben des Glaubens. Joseph war ein durch und durch heiliger Mann; doch in einer Beziehung gleicht er seinem Vater Jakob: auch an seinem Lebensende strahlte der Glaube in ganz besonderem Glanz hervor. Er konnte seine Hand an die Schätze Ägyptens legen und seinen Fuß auf den Thron Ägyptens setzten; aber angesichts dieser Machtstellung redete er von dem Auszug seiner Brüder. Sein Glaubensauge war auf die unsichtbaren Dinge gerichtet, und das ist das einzige, was der Geist Gottes hier als eine Handlung des Glaubens hervorhebt. Joseph sagte gleichsam zu seinen Brüdern: „Ich wandle nicht durch Schauen. Ich weiß was kommen wird, daß ihr aus diesem Land ausziehen werdet; darum, wenn ihr auszieht, so nehmt meine Gebeine mit.”
Das ganze Leben Josephs war, wie gesagt, untadelig, aber am Ende, bei seinem Abschied, gab sich sein Glaube in besonders herrlicher Weise kund. Nun, das ist es, was auch uns nottut. Möchtest du bloß gerecht sein, von aller Schuld gereinigt in dem Blut des Lammes? Du mußt das natürlich sein, um den Pfad des Glaubens überhaupt wandeln zu können; aber würde das genügen, um ein Leben des Glaubens auszumachen? Nein, dazu mußt du suchen, unter die Macht und den Einfluß dessen zu kommen, „was man hofft”, der Dinge, „die man nicht sieht”, unter den Einfluß der Erwartung der Wiederkunft des Herrn. Du magst ohne diese Erwartung vielleicht geistliche Energie zeigen, magst auch untadelig wandeln, aber du führst nicht jenes Leben des Glaubens, durch das „die Alten Zeugnis erlangt haben.”
So haben wir also gesehen, daß der Glaube ein Grundsatz ist, der sich wirksam und tätig erweist. Der Glaube des Sünders, der zu dem Herrn Jesus kommt, ist ein Glaube, der nicht wirkt; wie geschrieben steht: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt . . .” (Röm 4,5). Sobald ich aber durch den Glauben, der nicht wirkt, gerechtfertigt bin, tritt der wirkende Glaube in seine Rechte, und ich muß in der Kraft dieses Glaubens leben. „Denn wie der Leib ohne den Geist tot ist, also ist auch der Glaube ohne die Werke tot” (Jak 2,26).
Wir müssen weitergehen, wollen uns aber noch einmal daran erinnern, daß das ganze 11. Kapitel abhängig ist von Kapitel 10,35 und diesen Vers illustriert. Je stärker unser Glaube ist, desto mehr wird unsere Seele in dem Besitz einer mächtigen, geistlichen Energie sein. Dieses Kapitel zeigt uns, welch eine siegende Kraft dem wahren Glauben zu allen Zeiten innewohnt. Laßt es uns nicht so lesen, als würden hier Noah, Abraham, Mose und andere gerühmt. Nein, es wird der Glaube gerühmt, wie er sich in Noah, Abraham, Moses und anderen kundgab. Welch eine einfache und gesegnete Sache ist doch das Christentum! Ich kann es nicht fassen, wenn ich sehe, wie der Teufel ein zweifaches Verderben angerichtet hat, indem er uns außerhalb des Vorhangs und innerhalb des Lagers brachte, und wie Christus dementsprechend ein zweifaches Heilmittel erfunden hat. Frohlockt mein Herz nicht bei dem Gedanken, daß ich Gott gewonnen habe, wenn auch um den Preis dieser Welt? - Das ist wahres Christentum! „Durch Glauben wurde Moses, als er geboren war, drei Monate von seinen Eltern verborgen, weil sie sahen, daß das Kindlein schön war. ” Was will das sagen? Ohne Zweifel dürfen wir diesen Worten entnehmen, daß, als Mose geboren wurde, in seinem Gesicht ein Ausdruck lag, den der Glaube wahrnahm. In Apostelgeschichte 7 lesen wir: „In dieser Zeit (d.h. als „die Zeit der Verheißung” nahte) wurde Mose geboren, und er war ausnehmend schön” (Vers 20; vergl. auch Vers 17). „Schön für Gott” heißt der hebräische Ausdruck. Es war also eine gewisse Schönheit in dem Kind, die den Glauben Amrams und Jokebeds wachrief; sie übersahen diese Schönheit nicht, sondern beachteten sie mit einem unterwürfigen Herzen. So strahlte auch eine besondere Schönheit aus dem Antlitz des sterbenden Stephanus. „Alle, die in dem Synedrium saßen, schauten unverwandt auf ihn und sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht” (Apg 6,15). Seine Mörder hätten dadurch zur Besinnung kommen müssen. Aber ach, bei ihnen war es ganz anders als bei den Eltern Moses’; der herrliche Anblick machte keinen Eindruck auf sie, es sei denn, daß ihre Feindschaft nur umsomehr dadurch angestachelt wurde. Unter der Leitung Gottes erkannten die Eltern von Moses den göttlichen Vorsatz und verbargen das Kind drei Monate lang.
In Mose selbst sehen wir die Entfaltung einer wunderbaren Kraft des Glaubens. Sein Glaube errang den dreifachen Sieg; ja, drei glänzende Siege, die auch wir zu erringen berufen sind. Erstens errang sein Glaube den Sieg über die Welt. Er war ein von den Ufern des Nil aufgelesenes Findelkind und wurde der Tochter des Pharao zum Sohn. Aus diesem Zustand persönlicher Niedrigkeit gelangte er an die Stätte der Pracht und des höfischen Glanzes. Doch welchen Wert maß er seiner hohen Stellung bei? „Er weigerte sich, ein Sohn der Tochter des Pharao zu heißen”. Welch ein Sieg über die Welt war das! Von Natur lieben wir alles, was uns Ehre und Ansehen in dieser Welt zu verleiht. Nicht so bei Mose. Er schlug alles aus. Wird nicht unser Glaube auch heute noch auf denselben Kampfplatz geführt, und findet er nicht Gelegenheit, sich in gleicher Weise zu betätigen und Siege gleicher Art zu erringen?
Weiter sehen wir Mose einen Sieg inmitten der Schwierigkeiten und Bedrängnisse des Lebens erringen: „Durch Glauben verließ er Ägypten und fürchtete die Wut des Königs nicht”. Wie schrecklich erscheint das Leben des Glaubens der Natur! Da gibt es nie Ruhe, nie ist ein Ablegen der Rüstung oder ein Nachlassen in der Wachsamkeit gestattet. Hat man auch heute einen Sieg erfochten, so heißt es morgen doch wiederum: Stehe fest! „Deshalb nehmet die ganze Waffenrüstung Gottes”, schreibt der Apostel an die Epheser, „auf daß ihr an dem bösen Tag zu widerstehen und, nachdem ihr alles ausgerichtet habt, zu stehen vermöget”. In dem vorliegenden Fall traten die Bedrängnisse des Lebens an Mose heran, nachdem er den Anziehungen und Reizen des Lebens siegreich widerstanden hatte.
Drittens entsprach Mose den Anforderungen Gottes. Es ist ein erhabenes Bild, eine Seele mit der Kraft des Glaubens umgürtet zu sehen, wie es hier der Fall ist. „Durch Glauben hat er das Passah gefeiert.” Der Verderber ging durch das Land, doch das schützende Blut befand sich an den beiden Türpfosten und der Oberschwelle. Von Anfang an hat die Gnade Vorkehrungen getroffen, damit der Sünder den Anforderungen Gottes zu entsprechen vermag. Es ist die Sache des Glaubens, diese Vorkehrungen einfältig für sich in Anspruch zu nehmen. So gab Gott damals das Blut des Lammes, und der Glaube machte Gebrauch davon. Heute ist Christus die Vorkehrung, die Gott für den Sünder getroffen hat. Er ist die große Heilsverordnung Gottes für den Verlorenen; und der Glaube wandert mit Ihm vom Kreuz bis zur himmlischen Herrlichkeit.
Weiter lesen wir: „Durch Glauben gingen sie durch das Rote Meer” - „durch Glauben fielen die Mauern Jerichos” — „durch Glauben kam Rahab, die Hure, nicht mit den Ungläubigen um”. Und was sollen wir noch weiter sagen? Die Zeit würde uns fehlen, wenn wir die ganze Geschichte im einzelnen verfolgen wollten. Es ist die Geschichte, die gleichsam die ganze Schrift beseelt, die Geschichte der Gnade und des Glaubens, der Gnade von seiten Gottes und des Glaubens auf unserer Seite. Diese Geschichte verleiht dem ganzen Buch Gottes, wenn wir so sagen dürfen, Seele und Leben. Wir werden nicht eher aufgefordert, außerhalb des Lagers zu gehen, bis wir uns innerhalb des Vorhangs befinden. Die ersten Kapitel unseres Briefes zeigen dem Sünder sein Anrecht an ein Heim in Gottes Gegenwart, und dann soll er, von diesem Heim ausgehend, die Welt erkennen lassen, daß er in ihr nur ein Fremdling ist. Das ist, mit wenigen Worten, die Lehre dieses herrlichen Briefes. Er macht uns mit unserem Anrecht, in der Gegenwart Gottes zu stehen, bekannt, ehe er uns die daraus hervorgehende Berufung vorstellt. Ehe Abraham berufen wurde, in ein fernes, ihm unbekanntes Land zu ziehen, erschien ihm der „Gott der Herrlichkeit”. Sendet Gott jemals jemanden auf seine eigenen Kosten in den Kampf hinaus? Fordert Er dich auf, den Kampf mit der Welt zu beginnen, bevor du Frieden mit Ihm Selbst hast? Nie und nimmer! Alles steht mir zu Gebote, alles ist für mich von dem Augenblick an, da ich mich zu Gott wende. Geborgen in Ihm, bleibt mir nichts vorenthalten; Gott Selbst ist für mich. Ich bin „gekommen zu dem Berg Zion und der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu Myriaden von Engeln, der allgemeinen Versammlung . . Doch das ist Kapitel 12. Bevor David wie ein Rebhuhn über die Berge hin gejagt wurde, war sein Haupt mit dem Salböl Gottes gesalbt worden.
Bei den beiden Schlußversen unseres Kapitels müssen wir noch einen Augenblick verweilen. Sie sind sehr wichtig, kostbar und inhaltsreich. Jene Alten erlangten ein gutes Zeugnis, aber mit dem guten Zeugnis erlangten sie nicht die Verheißung. Das erinnert mich an den Propheten Maleachi. Dort heißt es in Kapitel 3,16.17: „Ein Gedenkbuch ward vor ihm geschrieben für die, welche Jehova fürchten und welche seinen Namen achten. Und sie werden mir, spricht Jehova der Heerscharen, zum Eigentum sein an dem Tage, den ich machen werde”. Jener Tag war noch nicht erschienen, sie waren noch nicht Seine „funkelnden Kronensteine”; aber ihre Namen sind alle in Seinem Buch aufgezeichnet, und Er wird sie bald verherrlichen und als kostbare Steine, als „ein königliches Diadem”, vor aller Augen darstellen. Gerade so ist es mit diesen Alten, den Glaubenshelden. Weshalb haben sie die Verheißung noch nicht erlangt? Weil wir zuvor eingehen mußten, und zwar in den reichen Vorkehrungen, die der gegenwärtige Zeitabschnitt des Evangeliums in sich schließt; denn alles, was sie in jenem armseligen Zeitalter als Schatten zukünftiger Dinge besaßen, hätte nie für sie genügt. (Gott hat uns für etwas Besseres vorgesehen, die himmlischen Dinge, die die alttestamentlichen Heiligen wohl aus der Ferne begrüßten, aber nie besaßen. Wir besitzen jetzt dieses „Bessere” durch unsere Vereinigung mit Christus droben und durch den Zugang in die Gegenwart Gottes, der uns auf Grund des vollbrachten Werkes Christi geöffnet ist. Wie gesegnet auch der Pfad eines Abraham, des Freundes Gottes, gewesen sein mag, so war Abraham doch niemals mit dem Himmel verbunden vermittelst des verherrlichten Menschen, der jetzt dort sitzt. Es war unmöglich, weil Christus zu der Zeit Sich nicht in dieser Eigenschaft im Himmel befand. Auch hatte Abraham keinen Zutritt in das Allerheiligste durch einen zerrissenen Vorhang. Obgleich also die alttestamentlichen Heiligen Anteil an der himmlischen Berufung haben, besaßen sie doch nicht das, was uns zuteil geworden ist. Sie werden mit uns vollkommen gemacht werden in der Auferstehung. Aber auch dann werden wir, als der Leib und die Braut Christi, ein besseres und höheres Teil haben als sie. Jetzt ist es unser hohes Vorrecht, Genossen des Christus in Seiner Verwerfung zu sein, zu Ihm hinauszugehen außerhalb des Lagers, Seine Schmach tragend, mit Ihm zu leiden, damit wir auch mit Ihm verherrlicht werden. — Das also ist es, was der Apostel als „etwas Besseres” bezeichnet; doch behandelt unser Kapitel dieses Thema nicht weiter.)
Das Wort „besser” begegnet uns immer wieder in diesem Brief: „Eine bessere Hoffnung” - „ein besserer Bund” — „bessere Verheißungen” - „bessere Schlachtopfer” „Gott hat für uns etwas Besseres vorgesehen” - „das Blut der Besprengung, das besser redet als Abel”. Auch wird das Wort „vollkommen” beständig gebraucht, eben weil jetzt alles vollkommen gemacht worden ist. Alles ist vollendet, was für die Ruhe Gottes nötig war, wie wir dies bereits gesehen haben; alle Forderungen Gottes sind erfüllt. Die Befriedigung, die Gott in Christus und Seinem Werk gefunden hat, ist vollkommen. Allen Anforderungen Seiner Gerechtigkeit ist Genüge geschehen; da wo der Mensch Ihn verunehrt hatte, ist Er vollkommen verherrlicht worden; alle Seine Eigenschaften sind zur Entfaltung gelangt - und zwar alles das in Christus. Auf diesem Weg ist das „Bessere” gekommen. Die Einführung Christi hat alles verändert. In Verbindung mit Ihm gelangen auch die Gläubigen des Alten Testaments, die die Verheißung nicht empfangen haben, zur Vollkommenheit.
Von einem Gesichtspunkt aus betrachtet, könnten wir unseren Brief eine Abhandlung über Vollkommenheit nennen. In Kapitel 2 lesen wir, daß es der Herrlichkeit Gottes geziemte, uns einen vollkommenen Heiland zu geben; nicht nur die Befriedigung meiner Bedürfnisse, sondern Gottes Herrlichkeit erforderte es, daß mein Heiland durch Leiden zur Vollkommenheit geführt wurde. „Es geziemte Ihm”, hören wir; Gottes Herrlichkeit verlangte es. Der Sünder sollte einen Anfänger haben zum Beginn des Errettungswerkes, und einen Vollender zum Abschluß des Werkes. Den Unterschied zwischen einem Anfänger (Urheber) und einem Vollender sehen wir in den beiden Männern Mose und Josua dargestellt. Mose war ein Anfänger (Urheber) des Heils, als er sich der armen, geknechteten Israeliten in Ägypten annahm. Josua war der Vollender des Heils oder der Errettung, indem er sie über den Jordan führte, geradewegs in das gelobte Land hinein. Christus nun führt uns sowohl durch das Rote Meer wie auch durch den Jordan. Er hat sowohl das grundlegende Werk Moses, als auch das vollendende Werk Josuas getan.
In Kapitel 5 hieß es: „und vollendet worden, ist er allen, die Ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden”. Hier handelt es sich selbstverständlich nicht um die moralische Vollkommenheit Christi als Mensch hienieden, - wir alle wissen, daß Er vollkommen rein und fleckenlos war, - sondern um Sein Vollendetsein als „der Urheber des Heils”. Er wäre in dieser Weise nie vollendet worden, wenn Er nicht in den Tod gegangen wäre. Doch wie es Gott geziemte, uns einen vollkommenen Heiland zu geben, so geziemte es Christus, ein vollkommener Heiland zu werden. Ferner heißt es in Kapitel 6: „Laßt uns fortfahren zum vollen Wüchse” (oder: zur Vollkommenheit), das heißt: Laßt uns genau acht haben auf die Belehrungen des Geistes Gottes über dieses Thema. Einige fassen diese Stelle so auf, als ob wir fortfahren sollten, bis keine Sünde mehr in uns wäre. Das aber ist nicht gemeint. Nein, es ist, als ob der Apostel sagen wollte: „Hört gut zu! Ich möchte euch eine Belehrung über die Vollkommenheit geben; seid nun bereit, diese Belehrung von mir anzunehmen!” Dann setzt er dieses Thema in Kapitel 7 fort. Er sagt uns, daß wir diese Vollkommenheit nicht im Gesetz finden können. „Das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht.” Wir müssen dieselbe also anderswo suchen. Mit dem Ausdruck „Gesetz” sind hier nicht die zehn Gebote, sondern die ganzen levitischen Verordnungen gemeint. Inmitten dieser armseligen Elemente ist also keine Vollkommenheit zu finden. Wohin sollten wir denn unseren Blick richten? Kapitel 9 zeigt uns, daß die Vollkommenheit in Christus ist und sagt uns zugleich, daß in dem Augenblick, wo der Glaube mit dem Blut in Berührung tritt, das Gewissen gereinigt wird; und Kapitel 10 belehrt uns, daß in dem Augenblick, wo Christus mich anrührt, ich auf immerdar vollkommen gemacht werde. Nicht als ob mein Fleisch fleckenlos würde; ach nein, davon ist keine Rede. Aber so wie Christus allem, womit Er in Berührung kommt: Aposteltum, Priestertum, Altar, Thron u.s.w., Vollkommenheit verleiht, so macht Er auch den armen Sünder hinsichtlich seines Gewissens und seiner Stellung vor Gott vollkommen.
Dieser Brief bildet also, von einem Gesichtspunkt aus betrachtet, eine Abhandlung über Vollkommenheit. Wir haben einen vollkommenen Heiland; und wir sollen fortfahren zum vollen Wuchs, zur Vollkommenheit. Suchen wir sie im Gesetz, so befinden wir uns in einer Welt von Schatten und Vorbildern. Kommen wir aber zu Christus, so befinden wir uns mitten unter lauter Vollkommenheiten. Ein Dichter sagt: „Hier stehe ich, ich armer Wurm”.
Die alttestamentlichen Gläubigen konnten also das Erbteil nicht erlangen, bis wir eingegangen waren, überhäuft, sozusagen, mit all den Herrlichkeiten der gegenwärtigen Zeitverwaltung. Jetzt aber können sie das Erbteil mit uns teilen, wenn die Zeit dazu gekommen sein wird. Noch einmal: Welche Herrlichkeiten strahlen uns aus diesem Brief entgegen! Welche Herrlichkeiten erfüllen den Himmel, weil Christus droben ist! Mit welchen Herrlichkeiten sind wir in Verbindung gebracht, weil Christus uns angerührt hat! Ein gereinigtes Gewissen zu haben, in das Heiligtum mit Freimütigkeit eintreten zu können, zu Satan sagen zu können: „Wer bist du, daß du Gottes Kleinod antasten dürftest?” - sind das nicht lauter Herrlichkeiten? Ach, wie oft kriechen wir im Staub dieser Erde herum, anstatt uns in diese Herrlichkeiten emporzuschwingen und so unsere Herzen zu ermuntern!