Wie der Leser sich entsinnen wird, haben wir im Lauf unserer Betrachtung mehrere leitende Gedanken hervorgehoben, die unserem Brief zugrundeliegen. Zum Abschluß wollen wir uns diese noch einmal vor Augen stellen und sehen, wie diese verschiedenen Grundzüge alle harmonisch zusammenfließen und wie sie, zusammengefaßt, ein unendlich erhabenes, göttliches Ganzes darstellen. Die leitenden Gedanken sind diese:
Der Geist Gottes setzt eine Sache nach der anderen beiseite, um Christus einzuführen.
Nachdem Er Christus eingeführt hat, stellt Er Ihn in den verschiedenen Herrlichkeiten vor uns, in denen Er jetzt die Himmel erfüllt.
Der Geist Gottes zeigt uns, wie Christus, einmal eingeführt, allem Vollkommenheit verleiht; alles, was ein verherrlichter Christus berührt, wird vollkommen; unter anderem macht Er unser Gewissen vollkommen.
Weil das so ist, werde ich als ein versöhnter Sünder in einen Tempel des Lobpreises eingeführt.
Diese vier Dinge können unabhängig voneinander betrachtet werden; doch ist es sehr gesegnet zu sehen, daß sie in neuer, besonderer Herrlichkeit erstrahlen, wenn man sie in Verbindung miteinander betrachtet. Ich brauche kaum zu sagen, daß diesen Aufzeichnungen des Geistes Gottes eine Erhabenheit innewohnt, die für sich selbst zeugt und eines Hinweises seitens anderer nicht bedarf. Wenn ich sie lese, so trete ich in Beziehung zu dem Unendlichen, zu den Gedanken und Ratschlüssen Gottes, sowie zu einigen jener höchst wunderbaren Offenbarungen, die mir Gott von Sich Selbst machen konnte.
Doch betrachten wir jene vier Dinge noch etwas näher. In Kapitel 1 und 2 setzt der Geist Gottes die Engel beiseite, um Christus einzuführen. In Kapitel 3 und 4 folgen Mose und Josua; in Kapitel 5, 6 und 7 der Hohepriester Aaron. In Kapitel 8 setzt Er den ganzen Bund beiseite, mit dem Christus nichts zu tun hat. In Kapitel 9 verschwinden die Verordnungen des alten Heiligtums mit seinen Altären und Dienstleistungen, und der Altar wird eingeführt, auf dem Jesus als das Lamm Gottes geopfert wurde. Eins nach dem anderen wird beiseite gesetzt, um für Christus Platz zu machen. Das ist dem Heiligen Geist eine willkommene und köstliche Aufgabe. Ich sage „köstliche”, denn wenn der Geist Gottes betrübt werden kann, dann kann Er auch erfreut werden.
Und was geschieht mit Christus, nachdem Er durch den Geist eingeführt worden ist? Er bleibt auf immerdar. Er hat keinen Nachfolger; es gibt niemanden, der an Seine Stelle treten könnte. Ja, wenn der Geist Gottes Jesus eingeführt hat, so lenkt Er voll Bewunderung den Blick auf Ihn.
Man fragt oft: Was heißt „geistlich sein”? Nun, ich denke, geistlich sein heißt, die Gesinnung des Heiligen Geistes haben. War es je ein Gegenstand deiner Freude, beiseite gesetzt zu werden, um für Jesus Platz zu machen? Der Geist Gottes nennt die Dinge, von denen wir gesprochen haben, „armselige Elemente”. Hast du sie in dieser Weise behandelt? Ferner kennt der Geist Gottes keinen Nachfolger für Christus, und in den Ratschlüssen Gottes ist keiner vorgesehen, der je an Seine Stelle treten könnte. Ist es in den Vorstellungen und Gedanken deiner Seele auch so?
Wie bereits gesagt, nachdem der Geist Gottes Jesus eingeführt hat, betrachtet Er Ihn voll Bewunderung. Und was sieht Er in Ihm? Herrlichkeit auf Herrlichkeit! In Kapitel 1 erblickt Er Ihn zur Rechten der Majestät in der Höhe als Den, der die Reinigung unserer Sünden vollbracht hat, und hört eine Stimme sagen: „Dein Thron, o Gott, ist in die Zeitalter der Zeitalter”. In Kapitel 2 sieht Er Ihn als unseren Apostel, der von Heil und Erlösung zu uns spricht. Dann erkennt Er Ihn als den Besitzer eines Hauses, das ewigen Bestand hat, als den Geber ewiger Ruhe, und sieht Ihn im Heiligtum droben, mit einem Eid dort eingeführt, und hört die Begrüßung: „Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks”. Auf so verschiedenen Wegen findet der Geist Gottes Seine Wonne an Christus. In Kapitel 9 wird unser hochgelobter Herr in den Himmeln betrachtet als Der, der das ewige Erbe verleiht, nachdem Er zuerst eine ewige Erlösung erfunden hatte. In Kapitel 10 sehen wir Ihn in einer noch anderen Eigenschaft droben; da begrüßt Ihn eine Stimme mit den Worten: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege zum Schemel deiner Füße.” Bist du je im Geist Christus in den Himmel gefolgt, und hast du gehört, wie diese Stimmen sich an Ihn richteten? Es ist notwendig, daß wir uns die Wahrheit gleichsam als eine Persönlichkeit vorstellen. Wir sind so geneigt, sie als bloße Lehrsätze aufzufassen und zu behandeln. Ich fürchte mich davor, sie als etwas vor mir zu haben, was ich vermöge meiner Verstandeskraft erlernen könnte. In diesem Brief ist es eine Person, die immer wieder vor uns gestellt wird; es ist eine lebendige Wirklichkeit, eine lebendige Person, mit der wir es zu tun haben. Es sind himmlische Wirklichkeiten. Mose errichtete eine Hütte in der Wüste; Salomo errichtete einen Tempel im Land; Gott hat einen Tempel im Himmel errichtet. O welch ein Interesse hat Gott an dem Sünder bewiesen, indem Er für unseren Priester ein Heiligtum errichtet hat, und zwar deshalb, weil Er unser Priester ist, dessen Dienst in der Vertretung unserer Interessen besteht. In Kapitel 12 endlich sehen wir Ihn nach Seiner Auffahrt in den Himmel aufgenommen, und Er befindet Sich jetzt dort als der Anfänger und Vollender des Glaubens.
Das also ist die zweite gedankliche Linie, und wir sehen, wie eng sie mit den ersten verknüpft ist. Nachdem der Geist Gottes uns Christus vor Augen gestellt hat, entfaltet Er Seine Herrlichkeiten.
Das dritte Thema unseres Briefes ist Vollkommenheit. Wenn Christus als Erretter vollkommen ist, so ist auch meine Errettung vollkommen. Wenn ich nicht errettet bin, so ist Christus kein Erretter. Ich rede jetzt nicht von einer schwachen, zagenden Seele, die sich mit ihrem eigenen, gesetzlichen Tun abmüht, sondern von meinem Anrecht; und ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß ich ebenso gutes Recht habe, in mir einen erretteten Sünder zu erblicken, wie Christus ein Recht hat, Sich als einen vollkommenen Erretter zu betrachten. Wenn ich als ein Sünder zu Christus komme und noch einen Zweifel hege, ob ich wirklich errettet bin, so muß ich notwendigerweise an Seiner Vollkommenheit als Erretter zweifeln. Das eine steht und fällt mit dem anderen.
Drittens sehen wir also, daß der Hebräerbrief eine Abhandlung über Vollkommenheit darstellt. Er behandelt nicht die Vollkommenheit des Zeitalters des Tausendjährigen Reiches. Christus wird jeglichen Schaden wiederherstellen. Der größte von allen Schäden war in dem Gewissen des Sünders angerichtet, und dem ist Christus begegnet. In der Schöpfung herrscht heute noch weit und breit Verderben und Verwirrung; das Haus Israel ist noch zerstört. Christus hat Seine Hand noch nicht ausgestreckt, um diese Schäden zu heilen. Auch der Thron Davids ist zusammengebrochen, und Christus hat auch diesen Schaden noch nicht geheilt. Aber bald wird sich das Seufzen der Schöpfung in einen Lobgesang verwandeln, und der Thron Davids wird wieder aufgerichtet werden. Doch da der größte Bruch, der schlimmste Schaden, zwischen Gott und dem Sünder bestand, so hat die wiederherstellende Tätigkeit Christi da ihren Anfang genommen. Er hat es unternommen, diesen Bruch zu heilen; und heute trennt den Gläubigen nichts mehr von Gott, er hat Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum!
Viertens finden wir den Geist Gottes in diesem Brief mit nichts Geringerem beschäftigt, als mit der Errichtung eines Tempels der Danksagung. Doch wie tut Er das? Hängt Er den Vorhang wieder auf, den das Blut des Lammes Gottes zerrissen hat? Ruft Er die Dinge wieder ins Leben, die Er Selbst mit einem gewissen Unmut „schwache und armselige Elemente” genannt hat? Nein; unaussprechlich herrlich ist dieses vierte und letzte Thema. Der Geist Gottes hat einen Tempel für uns errichtet, um Gott zu preisen: „Durch Ihn nun laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen”.
Was fehlt uns noch, das dieser Brief uns nicht bietet? Obgleich wir jede der behandelten gedanklichen Linie unabhängig von der anderen betrachten können, so strahlen sie doch, wenn wir sie im Vergleich sehen, in erhöhter Herrlichkeit. Die eine verleiht der anderen Schönheit und Herrlichkeit. Der Geist Gottes verbindet sozusagen viele Fäden zu einer starken Schnur; aber dann muß alles weichen, um Raum zu machen für den Herrn Jesus. Daß Ihm alles willig den Platz einräumt, ist selbstverständlich. Johannes der Täufer sprach gewissermaßen im Namen aller, als er sagte: „Der die Braut hat, ist der Bräutigam; aber der Freund des Bräutigams, der da steht und Ihn hört, ist hoch erfreut über die Stimme des Bräutigams; diese meine Freude nun ist erfüllt. Er muß wachsen, ich aber abnehmen” (Joh 3). Mose, Aaron, die Engel - alle freuten sich, den Platz räumen zu dürfen, damit Christus eingeführt werden konnte.
Diese Dinge dienen vereint dazu, unsere Seelen zu einem tieferen Erfassen des Christus Gottes zu leiten. Welch ein Diener ist der Heilige Geist für unsere Seelen in der gegenwärtigen Zeit, so wie der Herr Jesus von der Krippe bis zum Kreuz ein Diener war!
Daß wir alle, jeder für sich, nötig haben, in der Wahrheit befestigt zu werden, brauche ich kaum zu sagen. Wir wissen nicht, in welchem Umfang katholische Tendenzen und Lehren des Unglaubens und menschliche Spitzfindigkeiten noch an Einfluß zunehmen. Wenn wir nicht, jeder persönlich, in der Wahrheit befestigt sind, so können wir morgen schon ein Spielball Satans werden. Hier ein Beispiel dafür: Die Galater waren ernste, eifrige Leute (und gegen einen Eifer, der aus einer geistlichen Erweckung hervorgeht, möchte ich gewiß nichts einwenden); wenn möglich, hätten sie sich ihre Augen ausgerissen, um sie dem Apostel zu geben. Aber der Tag kam, wo er wieder von vorn mit ihnen anfangen mußte. „Meine Kindlein, um die ich abermals Geburtswehen habe, bis Christus in euch gestaltet worden ist.” Es war Eifer bei den Galatern vorhanden, aber die feste Grundlage der Wahrheit fehlte; und als die Wellen der Verführung auf sie eindrangen, waren die armen Galater nahe daran, Schiffbruch zu leiden. Unser Brief bezeugt dasselbe. Die Gläubigen aus den Hebräern waren unerfahren im Wort und darum in großer Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wir müssen in der Wahrheit gegründet und befestigt sein. Auf einen Zustand der Erweckung muß notwendig eine Befestigung in der Wahrheit Gottes folgen.
Was sollen wir nun sagen? Unwillkürlich müssen wir mit dem Apostel ausrufen: „O Tiefe des Reichtums!” Ja, welch eine Höhe der Herrlichkeit, welch eine unergründliche Tiefe der Gnade hat sich vor unseren Blicken aufgetan! Wunder über Wunder haben wir geschaut. Wir haben Gott in einer Weise Sich offenbaren sehen, daß wir wohl unser Antlitz verhüllen möchten, während wir zugleich still und dankbar Ihm vertrauen und Ihm die tiefste Zuneigung unserer Herzen weihen. Aber sicherlich wird sich auch auf manche Lippe der Seufzer drängen: „O die Dürre und Trägheit meines Herzens!”