Lesen wir jetzt Kapitel 12. Nachdem wir einen Blick auf die Lehre des Briefes geworfen haben, sind wir nunmehr an einem durchaus praktischen Teil angekommen; doch das Gesegnete der Lehre tritt auch hier ans Licht. Der Leser wird sich erinnern, daß wir die verschiedenen Merkmale betrachtet haben, in denen der Herr in die Himmel eingegangen ist. Hier in Vers 1 sehen wir Ihn jedenfalls im Himmel, jedoch in einem neuen, besonderen Charakter. Unser hochgelobter Herr trägt viele Kronen. Auf Seinem Haupt strahlt z.B. eine königliche und eine priesterliche Krone. Könnten Sein Haupt überhaupt zu viele Kronen zieren? Welch eine Fülle von Herrlichkeiten zeigt sich dem Auge, wenn es Christus droben im Licht dieses herrlichen Briefes betrachtet!
Unter anderen Merkmalen sehen wir Ihn dort als „den Anfänger und Vollender des Glaubens”, als Den, der ein Leben des Glaubens auf Erden angefangen und vollendet hat. Es ist die Wonne Gottes, alle Seine Ratschlüsse sind darauf gerichtet, Jesus zu krönen; es ist die Wonne des Geistes Gottes, Ihn als gekrönt darzustellen, und es ist die Wonne des Glaubens, Ihn gekrönt zu erblicken. Gott, der Heilige Geist und der Glaube des armen, auf Jesus vertrauenden Sünders haben Ihn alle zum Mittelpunkt, sei es um Ihn zu krönen oder mit Frohlocken Ihn gekrönt zu sehen.
Christus ist also jetzt im Himmel anerkannt als Der, der das Leben des Glaubens vollendet hat. Er durchlebte es bis zur Vollendung, von der Krippe bis zum Kreuz, und als solcher ist Er in die höchsten Himmel eingegangen. Sein Glaubenspfad setzte Ihn notwendigerweise mit dem Menschen in Widerspruch, wie wir lesen: „ ... der so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat”. In diesen Worten liegt eine schöne Übereinstimmung mit dem Gedanken, daß Er „abgesondert von den Sündern” war. Wir dürften nicht wagen, eine solche Sprache auf uns selber anzuwenden. Sie wäre zu erhaben für irgend jemand anders als den Sohn Gottes. Wurde je dergleichen von Abraham oder Mose gesagt? Nein; der Geist Gottes würde in dieser Weise niemals von einem dieser Männer geredet haben. Der Herr Jesus steht auch hierin allein.
Dasselbe ist der Fall, wenn Er hinsichtlich der Prüfungen und Drangsale des Glaubenslebens uns zusammen mit den Märtyrern vorgestellt wird. Er hat auch da, wie überall sonst, den Vorrang. Christus zu verherrlichen, das ist so natürlich für den Geist Gottes! Wenn Er Ihn in den Würden Seiner Ämter (wie im ersten Teil des Briefes) vorstellt, so fällt es Ihm nicht schwer, Ihn mit vielen herrlichen Kronen gekrönt zu sehen. Oder wenn Er Ihn betrachtet, wie es hier geschieht, so wird es wiederum leicht, Sein Haupt mit einer Krone von ausnehmendem Glanz zu schmücken. Ja, unser Herr hat „so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet”. Das ist eine Auszeichnung, die wir in ihrer vollen Bedeutung selbst dann nicht für uns in Anspruch nehmen könnten, wenn wir unser Zeugnis für Ihn mit dem Märtyrertod besiegeln würden.
Von einem Gesichtspunkt aus betrachtet war das Kreuz ein Märtyrertum. Jesus war dort ebensowohl ein Märtyrer, der von der Hand der Menschen litt, wie Er ein Opfer Gott gegenüber war. In der vorliegenden Stelle erblicken wir Ihn als einen Märtyrer, und mit Ihm als solchem werden wir in Gemeinschaft gesehen. Wir lesen: „Ihr habt noch nicht wider die Sünde ankämpfend, bis aufs Blut widerstanden”, d.h. die gläubigen Hebräer hatten im Zeugnis für Christus und im Widerstand gegen die Sünde noch nicht ihr Leben eingebüßt. Es war Sünde bei den Pharisäern, Sünde bei der Volksmenge, Sünde bei den Hohenpriestern, die unseren Herrn Jesus an das Kreuz brachte. In Ihm Selbst wohnte nicht die geringste Sünde, gegen die Er hätte ankämpfen müssen. Es war die Sünde in anderen. Nun, diesen Kampf müssen auch wir kämpfen, nur mit dem Unterschied, daß unser eigenes Herz der größte Feind ist, gegen den wir auf der Hut sein müssen.
In diesem Kampf kommt Gott uns zu Hilfe. Er züchtigt uns; und als solche gezüchtigte Dulder bringt uns der Apostel jetzt in Verbindung mit dem Vater. Die Genossenschaft mit Christus fällt hier fort; denn niemals befand Er Sich unter der züchtigenden Hand des Vaters. In dem Augenblick, wo ich der Züchtigung und der Erziehung des Vaters teilhaftig werde, höre ich auf, ein Genosse Christi zu sein. Ich bin in besonderer Weise Sein Genosse, wenn ich den Pfad eines Märtyrers zu gehen habe; doch wenn ich mich unter der züchtigenden Hand des Vaters befinde, gibt es keinerlei Genossenschaft zwischen Christus und mir.
Von Vers 5 an werden uns jene Beziehungen vorgestellt, in denen wir zu unserem himmlischen Vater stehen. O die Vollkommenheit dieses heiligen, göttlichen Empfindens, das weiß, wann Christus einzuführen ist und wann es an der Zeit ist, Ihn fortzulassen! - Das weiß, Ihn in herrlicher Gestalt vor unsere Augen zu stellen und im richtigen Augenblick Ihn vor unseren Blicken verschwinden zu lassen! Ja, es liegt eine Herrlichkeit, eine Vollständigkeit in der bloßen Art und Weise, wie der Geist Gottes Sich Seines Auftrags erledigt. Jesus ging durch dieses Leben und erduldete den Widerspruch der Sünder. Ich gehe hindurch, und kämpfe gegen die Sünde an; und indem ich so meinen Weg gehe, bekomme ich die Züchtigungen des Vaters zu spüren, deren Endzweck ist, mich Seiner Heiligkeit teilhaftig zu machen. Aber auf diesem Boden ist Christus nicht eins mit mir. - Wäre der schärfste menschliche Verstand fähig gewesen, diese Vollkommenheit göttlicher Empfindungen gleichsam als Pinselstriche darzustellen, wie sie uns aus dem Buch Gottes entgegenstrahlt?
In Vers 12 werden wir ermahnt, die erschlafften Hände aufzurichten. Es ist kein Grund dafür vorhanden, die Hände schlaff herabhängen zu lassen. Selbst wenn die Rute uns trifft, wenn ernste Züchtigungen unser Teil sind, gibt es keine Ursache, weshalb unsere Hände erschlaffen oder unsere Knie erlahmen sollten; denn hat nicht der Geist Gottes uns zunächst unsere Genossenschaft mit Christus auf dem Weg gezeigt, und dann uns unsere Beziehungen zu unserem Vater, der uns vollkommen liebt, vor Augen geführt? Könnte deshalb irgendein Grund vorhanden sein, unseren Weg mit unsicheren Tritten zu gehen, als ob er uns unbekannt und sein Ende in Dunkel gehüllt wäre? Nein, sagt der Glaube. Er kann nicht anders, als diese schöne Schlußfolgerung zu ziehen. Wohl wissen wir alle, wie geneigt unsere Hände sind zu erschlaffen; aber der Glaube setzt sein Siegel auf jene Worte und sagt: „Ich vertraue Dir, Herr! Dein Wort ist Wahrheit.”
Wir haben also keinen Grund, mutlos zu sein. Nachdem das festgestellt ist, schaut der Gläubige gleichsam um sich. Er will nicht nur die eigenen Hände nicht schlaff werden lassen, sondern auch hinsichtlich anderer dem Frieden und hinsichtlich Gottes der Heiligkeit nachjagen (Vers 14). „Welche Genossenschaft hat Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? oder welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? und welche Übereinstimmung Christus mit Belial?” So schreibt der Apostel an die Korinther (2Kor 6,14,15), und hier lesen wir: „ ... indem ihr darauf achtet, daß nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide, daß nicht irgend eine Wurzel der Bitterkeit aufsprosse und euch beunruhige”. Auch in 5. Mose 29 ist von einer Wurzel der Bitterkeit die Rede; aber sie ist verschieden von dieser hier. Dort entstand sie, wenn jemand sich zum Götzendienst zurückwandte, hier, wenn jemand an der Gnade Gottes Mangel litt. Ziel und Zweck des ganzen Hebräerbriefes geht dahin, unser Ohr, um in der Sprache der Schrift zu reden, an den Türpfosten Dessen zu nageln, der von Gnade redet. Nicht die Stimme eines Gesetzgebers richtet sich hier an uns; nein, Gott redet von den Himmeln her von Erlösung und Heil. Engel, Fürstentümer und Gewalten sind Dem unterworfen, der die Reinigung unserer Sünden bewirkt hat; und Er, der dieses wunderbare Werk vollbrachte, hat unsere Gewissen gleichsam in die höchsten Himmel erhoben, und jede Zunge, die eine Anklage gegen uns erheben könnte, ist zum Schweigen gebracht (lies Römer 8,33.34; vergl. auch 1. Petrus 3,21.22). Laßt uns deshalb achthaben, daß wir nicht an der uns verkündigten Gnade Mangel leiden! Wer weiß? wir möchten sonst in der Ungöttlichkeit Esaus enden (Vers 16).
Dieser Hinweis auf Esau muß für das Gemüt eines Juden sehr verblüffend und treffend gewesen sein. Wenn er an der Gnade Gottes Mangel litt, so geriet er in die Stellung eines Mannes, der von seinem Volk verworfen wurde. Darum noch einmal: laßt uns achthaben! Es kommt nicht so sehr darauf an, was wir an die Stelle Christi setzen; wenn wir nur das Auge von Christus abwenden, so ist es möglich, daß wir uns morgen schon in der Lage des verworfenen Esaus befinden. Wie steht Esau hier vor uns? Als ein Bild jenes Geschlechts, das dereinst sagen wird: „Herr, Herr, tue uns auf!” Aber ach! ihre Tränen werden ebenso fruchtlos sein, wie diejenigen Esaus es waren am Lager seines Vaters. Er kam zu spät. So auch, wenn Gott einmal aufgestanden ist, und die Tür verschlossen hat, werden jene keinen Raum mehr für die Buße finden.
Vers 17 ist sehr ernst. Durch die Handlung des Esau wird unseren Gedanken vergegenwärtigt, was in einem Esau-Geschlecht - aber auch nur in einem solchen — dereinst verwirklicht werden wird. Gottes Strafgericht wird alle diejenigen treffen, die in der Gesinnung Esaus dahingehen. „Sehet, ihr Verächter, und verwundert euch und verschwindet!” (Apg 13,41). Esau verachtete sein Erstgeburtsrecht, und sein Geschlecht hat die Gnade Gottes verworfen und Christus verachtet, der diese Welt der Sünde durchschritt und für Sünder starb.
Beginnend mit Vers 18, finden wir dann eine herrliche Darstellung der beiden Zeitverwaltungen oder Haushaltungen, der jüdischen und der christlichen. Es ist, als ob der Apostel sagen wollte: Ich habe euch einen Märtyrerpfad gezeigt, einen Pfad der Leiden hienieden; aber jetzt sage ich euch, daß in dem Augenblick, wo ihr zu Gott emporblickt, alles für euch ist. Der Märtyrerpfad und die Züchtigungen seitens des Vaters sind nichts als weitere Liebesbeweise; und wenn wir jetzt Christus und den Vater verlassen, so kommen wir zu Gott, und zwar um zu erkennen, daß alle die ewigen Gnadenratschlüsse Gottes sich zu unserem Segen vereinigt haben, geradeso wie sie sich im Blick auf Christus zu Seiner Verherrlichung vereinigt haben. Fürchten wir uns deshalb nicht! Wir sind nicht zu dem Berg gekommen, der betastet werden konnte und im Feuer brannte. Nein, davon wenden wir uns ab. Je entschiedener ich dem gesetzlichen System den Rücken kehre, desto völliger entspreche ich den Absichten der Gnade und Weisheit Gottes und erweise den Gehorsam des Glaubens. Aber darf ich nicht wenigstens den Kopf umwenden und über die Schulter noch einige Blicke rückwärts werfen? Ach, wie mancher Gläubige macht es so! Er kann sich nicht von seinem eigenen Tun und dem gesetzlichen Geist trennen! Aber ich frage: Ist das der Gehorsam des Glaubens? Wohin hat Gott meinen Blick gelenkt? Vorwärts und vorwärts - auf Seine reichen Segnungen! Selbstvertrauen führte mich zum Gesetz; doch was fand ich dort? Nichts, was für mich gewesen wäre. Alles war gegen mich. Nun habe ich meinen Blick in die entgegengesetzte Richtung gewendet, und was finde ich? Alles ist für mich. „Ihr seid gekommen zum Berge Zion und der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem; und zu Myriaden von Engeln, der allgemeinen Versammlung; und zu der Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind; und zu Gott, dem Richter aller.” Sogar in Seiner Eigenschaft als Richter ist Gott für uns; denn es gehört zu den Amtspflichten eines Richters, für den Unterdrückten einzutreten. Doch noch mehr; wir sind ferner gekommen „zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu Jesu, dem Mittler eines neuen Bundes, und zu dem Blute der Besprengung, das besser redet als Abel”. Alles ist für uns, und dorthin sollten wir unseren Blick unverrückt gerichtet halten. So laßt uns unser Antlitz stracks dem Berg Zion zuwenden, und dem anderen Berg, dem Sinai, ebenso völlig und entschieden den Rücken zukehren!
Ich bemerke noch, daß wir an dieser Stelle wieder an den Anfang des Briefes zurückversetzt werden. In Kapitel 2 haben wir gelesen: „Wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so große Errettung vernachlässigen? ... welche den Anfang der Verkündigung durch den Herrn empfangen hat”. Und hier heißt es: „Sehet zu, daß ihr den nicht ab weiset, der da redet!” So ist der Geist Gottes vom Anfang bis zum Ende des Briefes bemüht, unser Ohr für die Gnade zu fesseln, die Gott in der gegenwärtigen Zeit entfaltet hat.
Dann kommt der sehr ernste Schluß: „Auch unser Gott”, d.h. der Gott der gegenwärtigen christlichen Zeitverwaltung, „ist ein verzehrendes Feuer”. Vor dem Feuer des Berges Sinai gab es einen Bergungsort, indem man sich zu Christus wandte und bei Ihm Zuflucht suchte; wenn aber diese von Gott verordnete Zuflucht verachtet wird, so gibt es keinen Bergungsort mehr. Wenn sich jemand von dieser Zuflucht abwendet, die die gegenwärtige Haushaltung der Gnade vorgesehen hat, so bleibt ihm keine andere Zuflucht mehr übrig. „Denn auch unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.”
Zum Schluß möchte ich fragen: Gibt es wohl etwas, wodurch wir so in Gemeinschaft mit Gott gebracht werden könnten, wie durch die Einfalt des Glaubens? Es ist, wie wir schon gesagt haben, der Zweck der ewigen Ratschlüsse Gottes, Christus zu krönen; ist es das Wohlgefallen des Geistes Gottes, Ihn mit vielen Kronen gekrönt darzustellen; und, dank der wunderbaren Gnade, die uns zuteil geworden ist, sind unsere Herzen, wenn wir einfältig glauben, fähig gemacht, mit freudigem Staunen die mancherlei Herrlichkeiten zu betrachten, mit denen unser erhöhter Herr und Heiland bekleidet ist. Gott hat uns der größten Segnung teilhaftig gemacht, die Er einem Geschöpf zuteil werden lassen konnte, indem Er uns in den erhabensten Kreis, den es geben kann, einführte, nämlich in die Interessengemeinschaft mit Ihm Selbst und dem Heiligen Geist. Der Herr gebe, daß wir uns in diesem Kreis heimisch fühlen möchten! Glückselig jeder, der diese Dinge kennt, und dreimal glückselig, wer in ihnen ruht!