Wir kommen jetzt zu einem anderen herrlichen Teil dieses Briefes und, wie wir schon andeuteten, zu einem neuen Abschnitt. Lesen wir von Vers 19 bis zum Schluß von Kapitel 10. Es wird der Aufmerksamkeit des Lesers nicht entgangen sein, daß die Briefe des Apostels im Blick auf ihren Aufbau einen allen gemeinsamen Charakterzug tragen. Vergegenwärtigen wir uns beispielsweise den Epheserbrief. In den ersten drei Kapiteln werden uns Lehr-Wahrheiten vorgestellt, während in den letzten drei die praktische Anwendung derselben gemacht wird. Das Gleiche finden wir in den Briefen an die Kolosser, Galater, Römer usw. Im Hebräerbrief nun ist es ebenso; wir kommen jetzt zu der praktischen Anwendung dessen, was wir bisher betrachtet haben.
In einem schönen Lied heißt es: „Des Lammes Herrlichkeiten schmücken in Fülle jetzt des Himmels Thron”. Das haben wir im Lauf der Betrachtung unseres Briefes bestätigt gefunden. Beständig haben wir emporgeschaut und diese Herrlichkeiten gesehen. Doch laßt mich fragen: sehen wir irgendwo „am Ende dieser Tage” Herrlichkeiten, die nicht auf den Herrn Jesus Bezug haben? Man wird mir antworten, daß alle Herrlichkeit Ihm gehört, und ich stimme dem völlig zu; aber doch möchte ich sagen, daß es auch Herrlichkeiten gibt, die mit uns in Verbindung stehen, und diese sollten wir gleichfalls anschauen. Es gehört zu den wunderbaren Werken Gottes, daß Er den armen Sünder zu einem herrlichen Geschöpf gemacht hat. Dasselbe „Ende dieser Tage”, das Christus in der Höhe mit glorreichen Herlichkeiten bekleidet hat, versetzte auch den armen glaubenden Sünder hienieden mitten in Herrlichkeiten hinein. Möchten wir wir nur zubereitet sein, um sie uns zu eigen zu machen!
Wir warten nicht auf das Reich, um Herrlichkeiten zu schauen. Nein, sie sind jetzt schon unser Teil. Ist es z.B. nicht eine Herrlichkeit, ein gereinigtes Gewissen zu haben? Ist es nicht eine weitere Herrlichkeit, völlig für die Gegenwart Gottes passend gemacht zu sein und von diesem Vorrecht mit Freimütigkeit Gebrauch machen zu können? Ist es nicht eine Herrlichkeit, Gott unseren „Vater” nennen zu dürfen? Christus als unseren Vorläufer in den himmlischen Örtern zu wissen? In die Geheimnisse Gottes eingeführt zu sein? Ist es nicht eine Herrlichkeit, wenn wir unser Herz erheben und sagen können: „Abba, Vater”? oder „Wer wird verdammen?” oder „Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi?” Wenn wir ferner glauben dürfen, daß wir Bein von Seinem Bein und Fleisch von Seinem Fleisch sind; daß wir einen Teil der Fülle Christi ausmachen, wer möchte da noch sagen, daß in alledem keine Herrlichkeit für uns liegt? - So werden wir also durch den Brief an die Hebräer in sehr köstliche Gedanken eingeführt. Er heißt mich aufschauen und Christus droben erblicken, wie der Thron von Ihm geschmückt und geziert wird; und er heißt mich niederschauen, um den armen Sünder am Fußschemel des Thrones von Herrlichkeiten umgeben zu sehen.
Die Welt nimmt diese Herrlichkeiten nicht wahr, sie sind ihr verborgen. Wir erfassen sie nur in dem Spiegel des Wortes Gottes durch den Glauben; doch ich zögere nicht zu sagen, daß ich nicht auf das Reich warte, um zu wissen, was Herrlichkeit ist. Ich schaue empor und sehe das Lamm inmitten erworbener Herrlichkeiten. Ich schaue hernieder und sehe den Gläubigen inmitten ihm geschenkter Herrlichkeiten.
Und nun beginnt die praktische Anwendung: „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu ... “. Hier wird unser Blick auf uns selbst gerichtet, und wollte irgend jemand sagen, daß es in der hier beschriebenen Stellung keine Herrlichkeit gibt? Nun, auf diese herrliche Stellung habe ich ein Anrecht, und die Ermahnung geht dahin, von diesem Anrecht Gebrauch zu machen und es zu genießen. Genießen aber heißt gehorchen. Die erste Pflicht, die wir Gott gegenüber haben, besteht darin, daß wir uns dessen erfreuen, wozu Er uns gemacht und was Er uns geschenkt hat. „Laßt uns hinzutreten!” Benutze dein Vorrecht, würden wir sagen. Das ist die erste große Pflicht des Glaubens und, ich darf wohl hinzufügen, die lieblichste und angenehmste Pflicht.
Wie engherzig und ängstlich sind wir doch, diese Herrlichkeiten zu genießen! Hast du dich je einmal im Spiegel des Wortes Gottes beschaut, so wie Gott dich in Christus sieht? Wir haben uns ganz daran gewöhnt, uns im Spiegel der Umstände zu betrachten, in dem Spiegel unserer Verhältnisse und Beziehungen hienieden. Aber das ist es nicht, wozu wir hier aufgefordert werden. Nein, erst dann, wenn wir tief im Innern unserer Herzen mit Frohlocken des Geistes ausrufen: „Ich bin ein Kind Gottes”; wenn wir mit gleichem Frohlocken sagen können: „Ich bin ein Miterbe Christi”, erst dann betreten wir den Weg des Gehorsams. Das ist es, was wir hier finden: „Laßt uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewißheit des Glaubens”.
Wir sind Priester Gottes und sollen uns als solche betrachten. Die Priester im Alten Testament wurden, bevor sie in ihr Amt eingeführt wurden, ganz gewaschen. Später mußten sie jeden Tag ihre Hände und Füße waschen, ehe sie in das Heiligtum eintraten, um vor dem Herrn den Dienst zu verrichten. So wurde der Boden des irdischen Heiligtums, der unmittelbaren Gegenwart Gottes niemals durch den Fuß des Priesters befleckt. Er trat in einem Zustand ein, der des Ortes würdig war. Befindest du dich auch den ganzen Tag über in der Gegenwart Gottes, und hast du das Bewußtsein, daß du dieses Ortes würdig bist? Wie wirst du beim Kommen des Herrn vor Ihm dargestellt werden? Im Brief des Judas findest du die Antwort auf diese Frage. Sie lautet: „Der euch ... vor Seiner Herrlichkeit tadellos darzustellen vermag mit Frohlocken”. Du solltest dir allezeit bewußt sein, daß du dich jetzt schon tadellos und unbefleckt in Gottes Gegenwart befindest. Wenn es sich um unseren natürlichen Zustand handelt, um das, was wir im Fleisch waren, so können wir allerdings nie zu niedrig von uns denken; wenn es aber unsere Stellung in Christus geht, so können wir uns auch nie einen zu hohen Platz geben. Es fällt uns allen wohl viel leichter, uns dem Fleische nach herabzusetzen, als unsere Stellung in Christo in Anspruch zu nehmen. Uns dahin zu führen, ist das Bemühen des Geistes Gottes.
Nachdem wir in das Heiligtum Gottes gelangt sind, sagt uns der Heilige Geist, was wir dort tun sollen. Wenn ich mir meines Anrechts auf die Gegenwart Gottes bewußt bin, so sollte ich auch wissen, daß ich dort bin als der Erbe einer verheißenen Herrlichkeit; ich bin dort, um so lange dort zu bleiben, bis die Herrlichkeit in ihrem vollen Glanz hervortreten wird. Wir sind Zeugen einer Reihe von Herrlichkeiten, gerade so wie der Herr Jesus Zeuge einer Reihe von Herrlichkeiten ist. Wir befinden uns an einem herrlichen Platz, und, nachdem wir dorthin versetzt sind, sollen wir unsere Hoffnung unbeweglich festhalten: „Laßt uns das Bekenntnis der Hoffnung unbeweglich festhalten”. Sind wir ohne Zagen eingetreten, so sollen wir auch ohne Zagen unsere Hoffnung festhalten. Das ist es, wozu unser Gott uns berufen hat. Wir sind mit Freimütigkeit in Seiner Gegenwart, und indem wir dort sind, sollen wir uns gegenseitig durch unsere Hoffnung ermuntern. Aber nicht nur das; wir sollen uns auch an Nächstenliebe erinnern und „aufeinander achthaben zur Anreizung zur Liebe und zu guten Werken”. Welch ein herrlicher Dienst! Wer vermag die Schönheiten dieser Dinge würdig zu beschreiben?
Wir lesen weiter: „Indem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen, wie es bei etlichen Sitte ist, sondern einander ermuntern”. Wir sind in das Haus Gottes gebracht worden, und was soll jetzt unsere Beschäftigung dort sein? Sollen wir stets niedergeschlagen am Boden hegen in dem Bewußtsein unseres tiefen Verderbens? Nein, wir sollten vielmehr einander ermuntern zur Liebe und zu guten Werken. Das ist die Tätigkeit der Bewohner dieses Hauses. Wir wohnen beisammen in einem glücklichen Heim und ermuntern einander, und das um so mehr, je mehr wir den Tag herannahen sehen. Wir zeigen zum Himmel und rufen einander zu: „Seht! die Morgendämmerung ist nah, und der Tag bricht an!”
Wir sollten uns viel mehr gegenseitig ermuntern, uns mit unserer Würde in Christus zu beschäftigen und diese kennenzulernen, als auf unser Verderben von Natur zu starren. Sicher ist es ganz richtig und durchaus notwendig, uns als arme, wertlose Geschöpfe zu erkennen. Auch darf das Bekenntnis keineswegs vernachlässigt werden; aber die Lenden unserer Gesinnung zu umgürten zum Erfassen und Ergreifen unserer Würde in Christus, ist ein viel annehmlicheres und unserer priesterlichen Stellung mehr entsprechendes Werk, als immer am Boden zu liegen und aus der Tiefe zum Herrn zu schreien. Wir sehen uns hier also angenommen und annehmlich gemacht in Christus, als solche, die ihre Hoffnung unbeweglich festhalten, sich gegenseitig ermuntern, und, indem sie auf die steigende Röte des Morgenhimmels hinweisen, einander zurufen: „Der Tag bricht an!”
Mit Vers 26 kommen wir dann zu einer sehr ernsten Stelle über das mutwillige Sündigen, nachdem man die Erkenntnis der Wahrheit empfangen hat. Das Gegenstück dazu finden wir in 4. Mose 15,30, wo von vermessenem Sündigen, von einem Handeln „mit erhobener Hand”, die Rede ist. Das Gesetz unterschied zweierlei Übertretung. Ein Mensch fand vielleicht etwas, was seinem Nachbarn gehörte, und er verfuhr damit in unrechtmäßiger Weise, oder er belog seinen Nachbarn und dergleichen. Für solche Übertretungen war ein Sühnopfer vorgesehen. Wenn aber jemand am Sabbath Holz auf las, so sollte er auf der Stelle getötet werden. Für einen solchen blieb nichts anderes übrig als ein „furchtvolles Erwarten des Gerichts und ein Feuereifer, der die Widersacher verschlingen wird”. Es war eine vermessene Sünde, ein mutwilliges Brechen des bestimmten Gebotes Jehovas, eine Verachtung des Gesetzgebers selbst. So ist es auch mit der mutwilligen Sünde im Neuen Testament. Es ist ein unmittelbares Verachten des Gottes der jetzigen Haushaltung, gerade so wie der Mann, der am Sabbath Holz auflas, dem Gott des Gesetzes ins Angesicht hinein sündigte. - Der Herr bewahre uns vor jeder Sorglosigkeit der Sünde gegenüber! Wenn wir die geringste Sünde begangen haben, so geziemt es sich, daß wir sie mit zerbrochenem Herzen bekennen. Aber davon ist an dieser Stelle nicht die Rede. Hier handelt es sich um ein bedachtes Aufgeben der Wahrheit, nachdem man sie erkannt hat, um den Abfall vom Christentum, um eigenwillig in der Sünde zu wandeln. Für jemanden, der das tat, gab es kein Opfer mehr, sondern nur Gericht.
In Vers 32 folgt dann die Ermahnung: „Gedenket aber der vorigen Tage, in welchen ihr, nachdem ihr erleuchtet worden, viel Kampf der Leiden erduldet habt”. Hier möchte ich die Frage stellen: „Gedenkt ihr alle des Tages, an dem ihr erleuchtet worden seid?” Vielleicht möchte der eine oder andere antworten: „Das Licht ist bei mir nicht so plötzlich gekommen; es ist erst nach und nach in meiner Seele hell geworden”. Es mag so sein; ja, ich denke, daß es Timotheus auch so ergangen ist. Wenigstens habe ich oft gedacht, daß er unter der Leitung und Erziehung seiner gottesfürchtigen Mutter gleichsam an sanfter Hand, fast unbemerkt, in die Herde Gottes eingeführt worden ist. Die meisten Gläubigen sind sich aber des Augenblicks ihrer Erleuchtung bewußt; und wenn es in der Geschichte der Seele einen Augenblick geistlicher Energie gibt, dann ist es der Tag, an dem sie des göttlichen Lebens teilhaftig wird. Aber warum begleitet uns die Kraft jenes Augenblicks nicht auf unserem ganzen Weg? Ist der Herr Jesus heute nicht derselbe, der Er damals war? Man redet viel von praktischem Christentum; und mit Recht. Aber was ist praktisches Christentum? Wenn ich weiß, daß es einen Tag gegeben hat, an dem zwischen Gott und mir alles in Ordnung gebracht wurde, und daß jetzt die Zeit gekommen ist, wo jede Brücke zwischen mir und der Welt abgebrochen ist. Was war das für ein Tag, den der Apostel den gläubigen Hebräern ins Gedächtnis rufen wollte? Der Tag, an dem sie, nachdem sie erleuchtet worden waren, „viel Kampf der Leiden erduldet”, ja, „den Raub ihrer Güter mit Freuden aufgenommen hatten”. Wie war das möglich gewesen? Weil ihr Auge auf ein besseres Erbteil gerichtet war. So ist es immer. Ergreife das Vorzüglichere, und das Geringere wird von selbst seinen Wert für dich verlieren.
Der Sieg über die Welt ist nicht schwerer zu erklären, als der Zutritt zu Gott. Ja, ich möchte sagen, daß dies gerade der Knoten ist, den dieser Brief schlingt. Er führt uns innerhalb des Vorhangs und damit außerhalb des Lagers. Siehe, hier ist der wunderbare, göttliche Charakter des Christentums: Die Gnade und das Blut Christi wirken der Lüge der Schlange direkt entgegen. Die Lüge der Schlange machte Adam Gott gegenüber zu einem Fremdling, und heimisch in dieser befleckten Welt. Sie stellte ihn innerhalb des Lagers und außerhalb des Vorhangs. Das Christentum dreht das gerade um: es stellt unser Bürgertum in der Gegenwart Gottes wieder her und macht uns zu Fremdlingen in dieser Welt. Vers 34 unseres Kapitels ist der Vers in diesem Brief, der die beiden Dinge miteinander verknüpft. „Werfet eure Zuversicht nicht weg”, und sie wird das Geheimnis der Kraft für euch sein. Wo und bei wem erblicken wir am meisten Sieg über die Welt? Bei denen, die die Glücklichsten in Christus sind. Warum liegen wir so oft am Boden in dem Treiben dieser Welt? Weil wir nicht so glücklich in Christus sind, wie wir es sein sollten. Zeigt mir eine Seele, die Freimütigkeit und Freudigkeit in Gottes Gegenwart hat, die ihr volles Genüge in Christus findet, und ich will euch jemand zeigen, der Sieg auf Sieg über die Welt davonträgt.
Schließlich sagt der Apostel, daß zwischen dem Tag der Erleuchtung und dem Tag der Verherrlichung ein Leben des Ausharrens liegt. Ich habe mir nicht einen vergnüglichen Pfad, einen Pfad der Gemächlichkeit und der Wohlfahrt vorzustellen. Ich kann nicht darauf rechnen, morgen reicher und größer und angesehener zu sein als heute, sondern ein Pfad des Ausharrens liegt vor mir. Tritt uns darin nicht wieder eine Herrlichkeit entgegen? Aber gewiß, denn auf diesem Pfad sind wir Genossen Christi. Eine größere Herrlichkeit kann uns doch nicht zuteil werden, als Genossen unseres verworfenen Meisters zu sein. Und das ist der Pfad, der uns vorgezeichnet ist. „Wenn jemand sich zurückzieht, so wird meine Seele kein Wohlgefallen an ihm haben.” Gott schämte Sich nicht, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu heißen; sie waren Fremdlinge hienieden. Doch wenn wir hier einheimisch werden, Bürger statt Fremdlinge, wenn wir mit der Welt Verbindungen eingehen, so muß Er, der Sich der Gott der Fremdlinge nennt, von dem Bürger der Welt sagen: „Meine Seele hat kein Wohlgefallen an ihm”.
Möchten wir einander anreizen zur Liebe und zu guten Werken und auch, hinweisend auf den östlichen Himmel, mit Freuden ausrufen: „Der Tag bricht an!” Amen.