Wir kommen jetzt zum Schluß unseres Briefes und finden, wie in fast allen anderen Briefen, einige kleine Einzelheiten. Es ist allen Briefen des Apostels Paulus eigen, daß sie mit Belehrungen beginnen und mit Ermahnungen enden. Auch hier ist das der Fall. Wir lesen zunächst: „Die Bruderliebe bleibe”. Da nun ein Bruder ein Fremdling sein kann, so wird hinzugefügt: „Der Gastfreundschaft vergesset nicht”. Und um die Gläubigen bezüglich dieser Pflicht zu ermuntern, erinnert der Apostel sie daran, daß einige ihrer Vorfahren ohne ihr Wissen Engel beherbert hätten. Dann folgt eine weitere Pflicht: „Gedenket der Gefangenen”, und, in Verbindung damit die Ermunterung: „als Mitgefangene”; d.h. nehmt euren Platz an dem Leib Christi als Seine Gefangenen ein, nicht als Gefangene dem Leibe nach, sondern in geistlichem Sinn. Wenn der Apostel von Leiden um Christi willen redet, so wendet er sich an uns, indem er auf unsere geistliche Stellung Bezug nimmt; redet er aber von Leiden und Ungemach gewöhnlicher Art (Vers 3), so bezieht er sich auf das natürliche Leben: „als solche, die auch selbst im Leibe sind”.
Dann wird uns die ernste Pflicht vorgestellt, uns rein und von der Welt unbefleckt zu erhalten. Die Trennung von der Welt und ihren Dingen findet in den Worten Ausdruck: „Der Wandel sei ohne Geldliebe; begnüget euch mit dem, was vorhanden ist”. Unser Ziel soll also nicht sein, morgen angesehener und reicher zu werden als heute - eine Ermahnung, die für unsere Tage eine ganz besondere Bedeutung hat. In Vers 5 wendet Sich der Herr an den Gläubigen; Vers 6 enthält die Antwort des Gläubigen. Vers 6 ist die Antwort des Glaubens der Gnade gegenüber, oder die Antwort des Herzens des Gläubigen dem Herzen Gottes gegenüber.
Dann folgt in Vers 7 die Pflicht der Unterwürfigkeit: „Gedenket eurer Führer, die euch das Wort Gottes verkündigt haben”. Von den Gläubigen wird nicht ein blindes Nachfolgen gefordert, wie etwa die Heiden ihren stummen Götzen nachfolgen (1Kor 12,2). Sie sollten nicht blindlings, wie mit verbundenen Augen, sich führen lassen, sondern mit Verständnis und Einsicht, indem sie diejenigen, die als Lehrer in ihrer Mitte aufstanden, prüften, nach der Anweisung des Apostels: „Niemand kann sagen: Herr Jesus! als nur im Heiligen Geiste”. Wir sind lebendige Steine in einem lebendigen Tempel. Wir werden daher aufgefordert, „den Ausgang ihres Wandels anzuschauen”. Jene Führer waren im Glauben gestorben, so wie sie im Glauben gepredigt hatten. Ein Bruder sagte kurz vor seinem Heimgang: „Ich habe Jesus gepredigt, ich habe Jesus gelebt, jetzt verlangt es mich, bei Jesus zu sein.”
Der Apostel verläßt dann dieses Thema und beginnt in Vers 8 etwas Neues. Dieser Vers könnte das Motto des ganzen Briefes genannt werden; allerdings nur von einem Gesichtspunkt aus betrachtet. Was ich meine ist dies: Wie wir bereits wiederholt bemerkt haben, stellt der Geist Gottes in diesem Brief eine Sache nach der anderen vor unsere Blicke; Er redet von den Engeln, von Mose, Josua, Aaron, von dem alten Bund, von den Altären mit ihren Opfern u.s.w., aber Er tut es nur, um sie alle beiseite zu setzen und Christus an ihrer Stelle einzuführen! Mit inniger Freunde und von ganzer Seele setzen wir unser Siegel darunter. Laß alles verschwinden und Raum machen für Christus! Und wenn Christus einmal eingeführt ist, so laßt Ihn um nichts in der Welt wieder fahren. Das ist sozusagen der Inhalt von Vers 8. Er betrachtet für einen Augenblick den Gegenstand des Briefes: „Jesus Christus derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.” „Ich habe alles beiseite gesetzt, um Ihn einzuführen. Und was nun? Behaltet Ihn vor euren Augen!” Fürwahr, ein gesegneter Schluß der ganzen Belehrung dieses Briefes!
Dann kommt ein Zusatz, gewissermaßen eine Schlußfolgerung aus dem Gesagten; sie lautet: „Laßt euch nicht fortreißen durch mancherlei und fremde Lehren”, - Lehren, die Christus fremd sind! In Christus ist alles euer geworden; wendet daher Fleiß an, nahe bei Ihm zu bleiben!
Ferner, wenn Christus meine Religion ausmacht, so stehe ich auf dem Boden der Gnade: „Es ist gut, daß das Herz durch Gnade befestigt werde”. Der Herr steht vor uns als die Summe, der Inbegriff unserer Religion, und diese Religion atmet Gnade für den armen Sünder.
Laßt uns Vers 9 nicht so lesen, als ob es irgendwie möglich wäre, unsere Herzen durch Speisen zu befestigen. Nein, Speisen nützen gar nichts, wie es auch an einer anderen Stelle heißt: „Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht”. Sie bringen uns keinen Nutzen. Religiöse Satzungen mögen „einen Schein von Weisheit” haben, wie wir in Kolosser 2 lesen, aber wenn man sie auf die Probe stellt, so erweist sich bei allen, daß sie der Befriedigung des Fleisches dienen. Sobald ich aber den Herrn einführe, wird mein Herz durch Gnade befestigt. Hast du je daran gedacht, daß es außer der göttlichen Religion keine einzige Religion auf der Erde gibt, deren Geheimnis in der Gnade liegt? Alle ohne Ausnahme zielen darauf ab, Gott zufriedenzustellen, Ihn, den Zürnenden, auf irgend eine Weise zu beruhigen. Gottes Religion ist die einzige, deren Grundlage die Gnade bildet; und das ist es gerade, was uns hier vorgestellt wird. Laßt euch nicht fortreißen durch Lehren, die Christus fremd sind. „Wir haben einen Altar, von welchem kein Recht haben zu essen, die der Hütte dienen.” Was sollen wir darunter verstehen? Was ist der Altar der gegenwärtigen Zeit? Es ist ein Altar, der einzig und allein für Brandopfer, für den Dienst der Danksagung, bestimmt ist. Die Juden hatten einen Altar für Sühnopfer. Wir haben keinen solchen Altar. Christus hat Sich einmal auf dem Sühnaltar geopfert, und wir, als Priester, dienen jetzt an einem Altar der Danksagungen. Wir erinnern uns daran, daß das Blut des Lammes Gottes geflossen ist; wir dienen an einem Altar, von dem wir wissen, daß die Sünde vernichtet und ausgelöscht ist, und wir bringen auf diesem unserem Altar ein beständiges Lobopfer dar. Alle aber, die zu dem Dienst zurückkehren, der mit der Stiftshütte in Verbindung stand, haben kein Recht, keine Befugnis, als Priester an dem Altar der gegenwärtigen Haushaltung zu stehen.
Manche liebe und teure Seele müht sich in einer gesetzlichen Gesinnung ab; aber das ist etwas ganz anderes als die Neigung und das Bemühen, irgend etwas an die Stelle von Christus zu setzen, wie die Galater z.B. es taten, die mit Christus angefangen hatten, dann aber im Fleisch vollenden wollten. Sie meinten, Christus allein genüge nicht, sie müßten Ihm mit der Beschneidung noch eine Krücke unterschieben. Der Geist Gottes spricht in unserem Brief der armen, sich mühenden und quälenden Seele keinen Tadel aus; aber wenn heute jemand sucht, ein Sühnopfer darzubringen und seinen Altar nicht mit Fleiß nur dem Dankopfer zu weihen, so schmäht er das Opfer des Sohnes Gottes. Er gibt dadurch zu verstehen, daß das Opfer Christi ungenügend sei und noch einer Beihilfe seitens des Menschen bedürfe.
Nachdem wir so zu unserem Altar und auch innerhalb des Heiligtums geführt worden sind, wird uns unser Platz „außerhalb des Lagers” gezeigt. Jesus wurde von seiten Gottes in das Heiligtum aufgenommen, aber von seiten der Menschen außerhalb des Lagers getan. In diesen beiden Stellungen sollen wir mit Christus vereinigt sein. „Außerhalb des Lagers” ist der Platz, den die gegenwärtige christliche Haushaltung für uns vorgesehen hat; und wenn jemals einem Geschöpf sittliche Herrlichkeit verliehen würde, so ist sie uns heute zuteil geworden. Überlegen wir nur einen Augenblick: wir sind berufen, mit Christus außerhalb des Lagers zu stehen und Seine Schmach zu tragen! Befinden sich die Engel in einer solchen Stellung? Hat Er je zu ihnen gesagt: „Ihr seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen”? Engel sind nie eingeladen worden, an Seinen Leiden und an Seiner Verwerfung teilzunehmen. So hat Er uns also mit einer Ehre bekleidet, deren die Engel niemals teilhaftig werden können. Deshalb wird auch die Versammlung dereinst in der Herrlichkeit dem Thron näher stehen als die Engel. Hier haben wir allerdings „keine bleibende Stadt”, - Christus hatte auch keine; aber wir suchen und erwarten „die zukünftige”.
In Vers 16 sehen wir noch etwas Schönes, noch eine andere Art des Dienstes in Verbindung mit unserem Altar: „Des Wohltuens aber und Mitteilens vergesset nicht”. In verschiedenen Schriftstellen finden wir, daß in demselben Maß, wie unsere Freude in Gott zunimmt, unsere Herzen anderen gegenüber weit werden. Es liegt gerade im Wesen der Freude, daß sie das Herz weit macht. Als ein Beispiel von vielen möge Nehemia 8 dienen. Dort ruft der Prophet dem Volk zu: „Gehet hin, esset Fettes und trinket Süßes, und sendet Teile denen, für welche nichts zubereitet ist; denn der Tag ist unserem Herrn heilig; und betrübet euch nicht, denn die Freude an Jehova ist eure Stärke ... Und das ganze Volk ging hin, um zu essen und zu trinken und Teile zu senden und ein großes Freudenfest zu begehen”. Ein Mann, der selber glücklich ist, kann es sich leisten, sich nach anderen umzusehen, die er an seiner Freude teilnehmen lassen könnte; ja, er verlangt danach.
Hierauf redet der Apostel von Männern, die damals noch Führer waren. Die in Vers 7 erwähnten Führer waren bereits gestorben. „Gehorchet euren Führern und seid ihnen unterwürfig” (Vers 17). Wiederum möchte ich fragen: Ist hier eine blinde Unterwürfigkeit gemeint? Nein, aber wir sollen wohl auf unsere Führer achthaben, denn „sie wachen über unsere Seelen”. Ein Amt ohne Kraft, ohne die Salbung des Heiligen Geistes, ist eine Sache, die das Christentum nicht kennt; wenn sie uns dennoch (und leider nur zu sehr) bekannt geworden ist, so kommt das daher, weil alles, was Gott dem Menschen anvertraut hat, vom Menschen verdorben worden ist. Man hat auch im Blick auf diese Sache die Gedanken Gottes völlig vergessen. Wollen wir aber treu sein gegen Gott, so geziemt es uns, die christliche Wahrheit rein und lauter zu erhalten. Und vergessen wir nicht, eine bloß äußerliche, amtliche Autorität, ohne die Salbung von oben, ist ein Götze.
Dann wendet sich dieses auserwählte Gefäß des Heiligen Geistes, der mächtigste Diener, der je in Gottes Namen gedient hat, mit einer Bitte an den schwächsten Gläubigen. „Betet für uns”, sagt er, und zwar empfiehlt er sich der Fürbitte der Heiligen auf Grund eines guten Gewissens. Könntest du dich der Fürbitte eines anderen empfehlen, wenn dein Gewissen dich hinsichtlich deines Wandels anklagt? Nein, laß mich für dich antworten; du könntest es nicht. So empfiehlt sich der Apostel Paulus der Fürbitte, weil er mit gutem Gewissen sagen konnte, daß er in allem ehrbar zu wandeln begehrte. Dann gibt er den Gläubigen auch einen Gegenstand an, wofür sie beten sollten: „auf daß ich euch desto schneller wiedergegeben werde”. Welch eine Vertraulichkeit ist doch der Schrift eigen! Sie nimmt uns nicht aus dem Kreis unserer Zuneigungen und Gefühle heraus, sondern zeigt uns, wie wir sie in einer Gott wohlgefälligen Weise offenbaren können.
Im Gegensatz zu unserer bisherigen Betrachtung finden wir in Vers 20 etwas ganz Neues und Eigentümliches. Wir sehen den Herrn hier vor uns als den Auferstandenen, nicht als Den, der zur Rechten Gottes sitzt. Das große Thema des Hebräerbriefes ist, wie wir von Anfang an gesehen haben, die Entfaltung der Herrlichkeiten Christi im Himmel; hier jedoch geht der Apostel nicht über die Auferstehung hinaus. Warum das? Weshalb stellt er uns am Schluß seiner Belehrung Christus nicht als im Himmel befindlich vor die Augen? Er hat bis dahin unsere Blicke unentwegt auf Ihn gerichtet und uns in die' geöffneten Himmel hineinschauen lassen, und nun am Ende versetzt er Jesus gleichsam auf diese Erde zurück. O wie kostbar ist es, zu verstehen, daß wir nicht jenseits des Todes und der Auferstehung zu gelangen brauchen, um mit dem Gott des Friedens in Berührung zu kommen! Wir sind mit dem Gott des Friedens in Verbindung gebracht, sobald wir zu dem Gott der Auferstehung gelangen. Die Auferstehung zeigt, daß der Tod abgeschafft ist. Der Tod ist der Sünde Sold; und wenn der Tod abgeschafft ist, so ist auch die Sünde abgeschafft, weil der Tod so innig mit der Sünde verbunden ist, wie der Schatten mit dem Gegenstand, der ihn hervorruft. Verschwindet dieser, so schwindet auch jener ganz von selbst.
Der Bund wird „ewig” genannt, weil er niemals aufgehoben werden wird. Der alte Bund wurde hinweggetan. Der neue Bund aber bleibt immer neu und wird niemals abgeschafft. Das Blut hat in diesem Augenblick die gleiche Kraft, dem Gewissen Frieden zu geben, wie damals, als es den Vorhang zerriß. So sehen wir uns, wenn wir zum täglichen Leben kommen, in aller Einfalt mit dem Gott des Friedens in Gemeinschaft gebracht, mit Ihm, der den großen Hirten der Schafe aus den Toten wiederbrachte durch das Blut des ewigen Bundes, das die Vergebung der Sünden auf ewig besiegelt hat. Wir brauchen daher der Sünden nicht mehr zu gedenken. In einem Sinn werden wir ihrer in Ewigkeit gedenken; denn wie könnten wir jemals vergessen, wo wir einst waren und was es den Herrn Jesus gekostet hat, uns aus unserem schrecklichen Sündenelend zu befreien? Aber hinsichtlich unserer Stellung vor Gott können wir sie auf ewig vergessen.
Schließlich bittet der Apostel, daß Gott uns zubereiten und vollenden möge, um Seinen Willen zu tun, in uns schaffend, was vor Ihm wohlgefällig ist, durch Jesum Christum. Wie wenig sind wir doch noch in Übereinstimmung mit dem Inhalt dieses Verses! Wie wenig fühlen wir uns noch da zu Hause, wo wir ganz und gar heimisch sein sollten! Möchte Gott geben, daß sich der Wunsch Seines Knechtes mehr als bisher an uns erfüllt! - Der Brief schließt mit einem Lobpreis und einigen allgemeinen Worten an die Brüder. „Die Gnade sei mit euch allen! Amen”.