Frederic C. Jennings
Schriften von Frederic C. Jennings
Mt 26,36-46 , Mk 14,32-42 Lk 22,39-46 Joh 18,1-3 Ps 102 - Gethsemane
Zur Sünde gemachtZur Sünde gemacht
Bevor wir dieses ernste Thema verlassen, sehe ich mich gezwungen, dich zu bitten, mit mir eins der schrecklichen Bilder der Sünde zu betrachten, das wir normalerweise nicht in den Mund nehmen. Aber weil es doch dazu beiträgt, diese heilige Angst hervorzubringen, dürfen wir es nicht ignorieren. Wir wollen zu den Opfern des dritten Buches Mose zurückgehen, und wir gehen an dem Brandopfer, an dem Speisopfer und an dem Friedensopfer vorbei, ohne dieses schlimme Wort zu finden. Aber sobald wir an das Sündopfer kommen, lesen wir: „… und die Haut des Farren und all sein Fleisch, samt seinen Schenkeln und seinen Eingeweiden und seinen Mist“ – ja, den ganzen Farren. Bemerkst du jenes Wort, das zu wiederholen wir uns scheuen? Durch dieses Wort wird die Sünde symbolisiert, und so ist es immer.
Wo immer dieses Wort auftritt, bei irgendeinem Opfer, geschieht es, weil Sünde dort ist. Schaue jenes liebliche Geschöpf an, die rote junge Kuh von 4. Mose 19; nicht einen einzigen Flecken oder irgendeinen Makel kann man bei ihr oder in ihr entdecken. Aber sie wird „zur Sünde“ gemacht und als solche außerhalb des Lagers geschlachtet. Dann soll man die junge Kuh vor seinem Angesicht verbrennen, „ihre Haut, samt ihrem Fleisch und ihrem Blut, samt ihrem Mist soll er verbrennen“. Wunderst du dich da noch über diese Leiden, die starken Schreie und Tränen von Gethsemane, als es auf seiner heiligen Seele lag, dass Er zu diesem vor dem Angesicht Gottes gemacht werden sollte? Wir wollen im Geist die Hände vereinen und mit einem wohlbekannten Liederdichter singen.
In seiner fleckenlosen Seelennot
habe ich meine Sündigkeit gelernt.
Oh, wie verderbt mein niedriger Zustand,
da das Opfer doch so groß war.5
Ein Engel stärkte Ihn
Aber es bricht nun ein Lichtstrahl durch die Finsternis dieser Szene. Und es erschien Ihm ein Engel vom Himmel, Ihn zu stärken (Lk 22,43). Wir müssen hier besonders darauf achten, mit unbeschuhten Füßen der Ehrerbietung hier zu sein und in allen unseren Untersuchungen bei diesen heiligen Geheimnissen sehr eng bei dem zu bleiben, was geschrieben steht. Wie konnte irgendein Geschöpf, selbst wenn es ein Engel war, den stärken, dem es seine ganze Existenz verdankte? Soweit ich mir bewusst bin, wird uns kein menschlicher Kommentator groß helfen, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Aber ich vertraue darauf, dass ich nicht zu weit gehe, wenn ich glaube, dass die Schrift uns doch göttliches Licht darüber gibt. Und dass es göttlich ist, wird dadurch gezeigt, dass hier seine göttliche Würde aufrechterhalten wird – selbst in der Stärkung, die Ihm hier gebracht wird. Denkt doch einmal über die Schwierigkeit nach, wie man solch eine scheinbare Unstimmigkeit miteinander in Harmonie bringen soll – denjenigen zu stärken, der grenzenlose Macht hat. Wenn die Erklärung das nun tut und sowohl seine Gottheit aufrechterhält und doch auch stärkt, muss sie nicht wahr sein?
Sieh dann einmal, was immer und allein Ihn gestärkt hat auf seinem ganzen Weg hier. Eine arme sündige Frau erkennt seine Herrlichkeit, selbst als Er als müder Wanderer bei dem Brunnen sitzt. Indem sie Gott in Ihm erkennt, findet ihr trauriges Herz Ruhe, und Ihm allein konnte sie ihren ganzen traurigen, sündigen Zustand sagen. Er war bereit, ihr das lebendige Wasser zu geben. Und so hören wir Ihn sagen: „Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt“ (Joh 4,32). Er wurde gestärkt dadurch, dass diese arme Sünderin seine Herrlichkeit erkannte und das entgegennahm, was seine Liebe geben würde. So auch, als der Hauptmann dieselbe göttliche Herrlichkeit erkannte und dieser Erkenntnis Ausdruck gab in den Worten: „Rede nur ein Wort und mein Knecht wird gesund werden“ (Mt 8,8). Zeigte da nicht sein Kommentar: „Ich habe niemals so großen Glauben gefunden in Israel“, wie sehr Er erfrischt war? Hat nicht auch die Syrophönizierin, als sie den Platz der Hündlein einnahm und viel mehr als Brotkrumen von seinem Tisch empfing, Christus gestärkt? Es ist ein taubes Ohr, das nicht Freude hört in den Worten: „O Frau, dein Glaube ist groß!“ (Mt 15,21-28).
Ach, und selbst am Kreuz, hat da nicht die Erkenntnis jenes armen Diebes, die Erkenntnis seiner Herrlichkeit, Ihn gestärkt, als er bat: „Erinnere dich meiner, wenn du in deinem Reich kommst“ (Lk 23,42)? Sicherlich hat all dieses seinen Geist erfrischt und Ihn so gestärkt. Dann lasst uns sehen, ob wir in der Schrift eine Vorschattung dieser Szene im Garten finden, die uns zeigt, wie der Engel Ihn stärkte. Sehen wir uns den Titel von Psalm 102 an: „Gebet eines Elenden, wenn er verschmachtet und seine Seele ausschüttet vor dem Herrn“. Wem fällt nicht auf, dass es sich hier um denselben handelt, der in den Tagen seines Fleisches sowohl Bitten als Flehen mit starkem Geschrei und Tränen dargebracht hat (Heb 5,7)? Wo haben wir in den ganzen Evangelien irgendeinen Bericht dieser Art, außer in Gethsemane? Der Psalm hat dann also diese Szene in Gethsemane im Blick, und die Absicht des Heiligen Geistes ist es, Christus als den Armen vor uns zu bringen in diesem Psalm, im Hebräerbrief und in den Evangelien; alle beziehen sich auf die Szene, die wir betrachten.
Wir wollen das sorgfältig im Gedächtnis halten und uns dann dem ersten Kapitel desselben Briefes an die Hebräer zuwenden, wo wir den Herrn in Begleitung der Engel finden. Aber Er ist so weit über ihnen durch göttliche Bestimmung, wie der göttliche Sohn über jedem Geschöpf ist. Und aufgrund des unermesslichen Vorrangs beten Ihn alle Engel Gottes an, wie geschrieben steht. Dann, ein wenig später in demselben Kapitel, hören wir ein Zitat aus Psalm 102, das sich auf Gethsemane bezieht. Dieses Zitat schreibt Ihm göttliche Herrlichkeit zu: „Du, Herr, hast im Anfang die Erde gegründet und die Himmel sind die Werke deiner Hände. Sie werden untergehen, du aber bleibst, sie alle werden alt werden wie ein Kleid, wie ein Gewand wirst du sie zusammenwickeln und sie werden verwandelt werden. Du aber bist derselbe und deine Jahre werden nicht vergehen“ (Ps 102,15-27; Heb 1,10-12). Spricht nicht der Psalm so klar wie eben möglich von den Leiden des Herrn in Gethsemane? Wird ein Teil dieses Psalms nicht gerade in jener Schriftstelle zitiert, die von seiner unendlichen Hoheit über die Engel zu uns spricht? Werden nicht die Engel gebeten werden, Ihm Anbetung zu bringen? Hat nicht diese Anerkennung seiner göttlichen Herrlichkeit Ihn immer gestärkt? Nun, wenn wir dann in Gethsemane einen Engel Ihn stärken finden: Ist es dann nicht die notwendige, schriftgemäße und göttliche Ableitung, dass dieser Engel von Lukas 22,43 die bewundernden Worte der Anbetung, die der Psalm 102 liefert, ausspricht und Ihn damit an seine unveränderliche Herrlichkeit, seine Macht und Gottheit erinnert, durch die seine Person ewig war und Ihn kein Tod halten konnte? Hat er Ihn nicht dadurch gestärkt? Dieser Gedanke ist, wie ich meine, zwingend.
Seine Feinde waren sehr geschäftig während dieser dunklen Stunde. Seine Freunde waren im Schlaf versunken, aber der ganze Himmel war wach, und einer von seinen Bewohnern eilte, Ihn anzubeten. Sicherlich hat Gott selbst uns die Erklärung dieses Phänomens gegeben, dass ein Geschöpf Christus stärkte. Es konnte auf keine andere Art und Weise geschehen.
Aber wir wollen das weiter bestätigen, indem wir das Gegenteil von „stärken“ betrachten, nämlich „schwächen“ oder „ermüden“. Es war ein müder Mensch, der dort an dem Brunnen von Sichar saß; es war ein gestärkter Mensch, der wenig später dort saß. Die Verwerfung seiner Liebe in Judäa ermüdete Ihn, die Aufnahme in Samaria stärkte Ihn. So auch in den Tagen Ahas, als er mit vorgegebener Frömmigkeit sich weigerte, das angebotene Zeichen zu fordern. Da sagt Jesaja: „Ist es eine kleine Sache für dich, Menschen zu ermüden, aber willst du Gott auch ermüden?“ (Jes 7,13). Unglaube ermüdet, Glaube kräftigt oder stärkt, und es ist das vertrauenswürdige „Du aber bleibst“, das Christus kräftigt, „selbst wenn jene Himmel, die die Werke deiner Hände sind, weggeholt werden und die Erde von ihrer Grundlage entfernt wird, so bleibst du doch“. Das war es, was Christus in Gethsemane stärkte.
Aber kein Engel des Lichts brach die Finsternis der letzten drei Stunden am Kreuz. Es gab keine Stärkung während jener Stunden. Darin sehen wir, wie weit das Leiden in der Wirklichkeit den Schatten übertraf. Wir können auch immer noch nicht diese unvergleichlich rührende Szene verlassen, denn wenn das Licht des Passahmondes nicht ausreicht, so offenbart uns eine Stimme, was im Schatten der Olivenbäume geschah, wo „sein Schweiß wurde wie große Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen“ (Lk 22,44). Wie passend ist es, dass der Schreiber Lukas uns dieses erzählt, denn er ist es, der den Herrn vor uns bringt mit dem Angesicht eines Menschen (Off 4,7); das heißt, in diesem Evangelium schauen wir in ein menschliches Angesicht und sehen in Ihm all die vollkommenen Gefühle der Liebe und des Zornes, der Freude und der Trauer und des Leides, das über Ihn kommt. Wir werden bald dieses Angesicht sehen in strahlender Herrlichkeit. Sollten wir es hier nicht betrachten in tiefstem Leid – und das war nur der Schatten von unendlich tieferem Leid?!
5 Wörtliche Übersetzung aus dem Lied „Oh my Saviour Crucified“ von Robert Cleaver Chapman (1803–1902):InHis spotless soul’s distress | I have learned my sinfulness. | O how vile my low estate, |Since my ransom was so great.↩︎