Schriften von Erich Sauer
Das Morgenrot der Welterlösung
Der Stufencharakter desHeilsplansDer Stufencharakter desHeilsplans
Gott hat „vielfältig und auf vielerlei Weise geredet" (Heb 1,1).
Gott ist der Ewige, der Schöpfer der Welt. Er ist der überzeitliche Ursprung alles zeitlich Seienden. ,,HErr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit" (Ps 90,1; 2. Luth.).
Dieser „Gott der Ewigkeit" hat die Äonen ins Dasein gerufen (Heb 1,2). Von ihm geht, als das „Geheimnis seines Willens" (Eph 1,9), der Ratschluß der Schöpfung und Erlösung aus. Er, „der alles nach seinem freien Willensentschluß vollbringt" (Eph 1,11), hat diesen Vorsatz „in sich selbst" beschlossen (Eph 1,9 wörtl.) und ist darum nicht nur der Schöpfer des Alls, sondern auch der „König der Weltzeiten (Äonen)" (1Tim 1,17 wörtl.). Er ist der Anfang. Er ist das Alpha; denn „von ihm und durch ihn sind alle Dinge" (Röm 11,36). Und wenn dann das Ende wieder zu ihm zurückkehrt, „auf daß Gott alles sei in allen" (1Kor 15,28), so geschieht dies eben deshalb, weil das Ende im Anfang liegt, das Omega im Alpha. „Zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit Amen" (Röm 11,36).
Dieses sein Endziel — alles unter ein Haupt zusammenzubringen (Eph 1,10) — hat Gott aber nicht sofort und in vollem Umfang geoffenbart. Seine Weisheit ist vielmehr eine ursprünglich „verborgene" (1Kor 2,7), und das „Geheimnis" seines Ratschlusses war „ewige Zeiten hindurch verschwiegen" (Röm 16,5:2 Eph 3,5; 9; Joh 16,12.13). Erst in allmählicher Weiterführung hat Gott seine Pläne in der Heilsgeschichte kundgetan. Glückselig sind darum unsere Augen, daß sie sehen, und unsere Ohren, daß sie hören, was heiligen Männern vor alters, trotz Suchens und Strebens, nicht gewährt worden war zu vernehmen (Mt 13,16.17; 1Pet 1,10.11).
Diese Weiterführung geschah aber nicht etwa in Form eines gleichmäßig fortlaufenden Werdegangs — einer gradlinig aufsteigenden Linie vergleichbar — sondern in Form von markant abgegrenzten Zeitabschnitten, gleich Stufen einer nach oben führenden Treppe. Eine Zeitlang läßt Gott die Menschen einen gewissen Gang gehen; dann greift er ein und beginnt einen neuen Zusammenhang. Er offenbart sich zuerst der Gesamtmenschheit und behandelt sie als eine Einheit, 2300 Jahre lang. Dann aber überläßt er sie plötzlich sich selbst, erwählt sich einen einzelnen (Abraham) und offenbart mit ihm eine vollständig neue Geschichtslinie. 430 Jahre später verordnet er ein Gesetz hinzu, und anderthalb Jahrtausende hat sich das Volk Israel danach zu richten. Dann aber, nach Ablauf dieser Zeit, erklärt er dies Gesetz für unverbindlich, und, was soeben noch strengstens geboten war (z. B. die Beschneidung), wird nun auf das schärfste verboten; das bisherige Volk Gottes wird beiseite gesetzt, und ein neues aus allen Völkern heraus gebildet. Zuletzt aber wird jenes erste Volk trotz allem wieder angenommen und nach jahrhundertelanger Ausschaltung wieder eingeschaltet; das zweite Volk Gottes wird himmlisch verherrlicht und die Gesamtmenschheit sichtbar gesegnet. So geht es hinüber aus der alten Welt in die neue, und als Endziel kommt nach dem Feuergericht die Vollendung.
So stellt sich uns der Heilsverlauf dar als eine farbenreiche Periodenkette, ein nach oben hin führender Stufengang, ein auf das mannigfaltigste gegliederter Geschichtsorganismus. Ja, so sehr beherrscht dieser Stufencharakter den ganzen göttlichen Heilsplan, daß er geradezu als dessen äußerlich sichtbarer Grundzug bezeichnet werden muß, als das Prinzip des gesamten Aufbaus der Offenbarungsgeschichte.
Heilsgeschichtliches Bibelstudium ist darum die Beschreibung dieser Stufen in ihrer jeweiligen Eigenart, Aufdeckung der Etappen in dem Werdegang des ganzen Heilsverlaufs, Erforschung der Heilszeiten, soweit sie in der Bibel geoffenbart sind. Die Heilige Schrift ist eben nicht ein geistlich-göttlich- gleichförmiger „Block" ,sondern ein wunderbar gegliederter, geschichtlich-prophetischer Geistesorganismus. „Sie muß organisch gelesen werden, äonenmäßig, Gottzeitaltern gemäß.
"Ob man diese Stufen nun „Heilszeiten", „Zeitalter" (Äonen) oder „Haushaltungen" (Ökonomien, vgl. Eph 1,10 wörtl.; 3, 2 wörtl.; Kol 1,25; 1Tim 1,4 wörtl.) nennt, ist von geringerer Bedeutung. Die Schrift gibt weder für das eine noch für das andere eine festgelegte Begriffserklärung (Definition). Daher auch die Unterschiede in den Zeitalter- bzw. Haushaltungseinteilungen der einzelnen Schrifterklärer. Weniger auf das Wort als auf die Sache kommt es an. Das Entscheidende ist die Erkenntnis der Stufen an sich und die Einsicht in ihre Unterschiede und inneren Zusammenhänge.
Ein heilsgeschichtlicher Zeitabschnitt ist eine Geschichtsperiode, die durch bestimmte, besondere Grundsätze Gottes gekennzeichnet ist. Er hat stets eine ganz besondere Aufgabe und einen ganz besonderen Inhalt im Gesamtheilsrat Gottes. Jede Heilszeit „bringt den Sohn in einer neuen Größe und Schöne; denn im Sohne kreisen alle Äonen" (vgl. Heb 1,2). Hierbei gehören manche einzelne Grundsätze einer solchen Heilsperiode zuweilen auch anderen Zeitabschnitten an, 354 aber ihr jeweiliger Gesamtkomplex, ihre jeweilig gerade festgesetzte Zusammenstellung findet sich immer nur allein in der betreffenden Sonderhaushaltung. So unterscheidet sich Zeitabschnitt von Zeitabschnitt, und jeder ist eine in sich abgeschlossene Ganzheit. Eine neue Heilsperiode tritt demnach immer erst dann ein, wenn von seiten Gottes eine Änderung in dem jewellig geltenden Prinzipienkomplex vorgenommen wird, d. h. wenn von Gottes Seite aus ein Dreifaches geschieht:
1. eine Beibehaltung einzelner, bisheriger Anordnungen,
2. eine Aufhebung anderer, bis dahin gültig gewesener Einrichtungen,
3. eine Neueinführung weiterer, bis dahin noch nicht in Geltung gewesener Grundsätze.
So blieben bei der Einführung der jetzigen Heilszeit die allgemeinen sittlichen Reichsregierungsgrundsätze der früheren Zeit (Röm 8,4; 13,8-10); 355 neu eingeführt wurden die Grundsätze der freien Gnade (z. B. die bedingungslose Zulassung der Heiden, der Bau der Gemeinde, die himmlische Stellung der Erlösten); aufgehoben wurden die mosaischen Gottesdienstverordnungen. So war das Sabbatgebot in 2. Mose 20 dem Volk Israel eingeschärft worden; doch Kol 2,16 wird es für die Zeit der Gemeinde beiseite gesetzt. Die Beschneidung, die — seit Abraham in der Heilsgeschichte bestehend (1. Mose 17,10) — im mosaischen Gesetz strengstens geboten war (vgl. 2. Mose 4,24.25), wird für die neutestamentliche Zeit als Rechtfertigungs- und Heiligungsmittel schärfstens verboten. „Sonst nützt euch Christus nichts!" (Gal 5,2). Während es im Alten Bunde äußere Opfer, einen besonderen Priesterstand, Weihrauch, Altäre, Priestergewänder gab, gilt heute der Grundsatz des allgemeinen Priestertums (1Pet 2,9). Alle jene Einrichtungen waren zwar Anordnungen Gottes gewesen, aber Haushaltungsgrundsätze, die nur für eine bestimmte Zeit Geltung haben sollten, „bis daß der Same käme, auf den sich die Verheißung bezieht" (Gal 3,19). Nun aber sind sie in Christo „erfüllt" und durch höhere, verinnerlichte Geistesgesetze abgelöst worden (Heb 13,10; 1Kor 5,7.8 u. a.).Hier sehen wir die ungeheure, praktische Tragweite dieser so unbedingt nötigen Unterscheidung von Haushaltungen im Heilsplan Gottes. Ohne sie ist gesetzliche Selbstheiligung, Vermischung und Vermengung die unumgängliche Folge. Nicht nur der Sabbatismus, sondern auch viele Hauptgrundsätze des Katholizismus sind die unvermeidliche Konsequenz der Nichtbeachtung dieses Unterschieds; denn sofern man die Israel (!) gegebenen, mosaischen Haushaltungsgrundsätze — trotz des neutestamentliehen Zeugnisses — als heute für die Völker(!) welt noch gültige Verordnungen ansieht, ist es allerdings nur folgerichtig, das Vorhandensein eines besonderen Priesterstandes, das Räuchern von Weihrauch und noch vieles andere mehr „biblisch" zu rechtfertigen. Wir sehen: Die Unterscheidung von besonderen Haushaltungen im Heilsplan ist zugleich etwas außerordentlich Praktisches und Tiefeingreifendes für Gechichte, Lehre und Gottesdienst der Gemeinde. 356 )
Diesen ganzen Erlösungsplan Gottes zeigt uns die Schrift perspektivisch", „das heißt: je entfernter vom Kreuze aus — nach vorwärts oder rückwärts — ein Heilsabschnitt liegt, desto kürzer beschreibt ihn die Heilige Schrift; je näher er ihm liegt, desto breiter tritt er hervor, am breitesten darum die Zeiten des Gesetzes und der Gemeinde. Nach dem Maße des Fernerliegens richtet sich die Kürze, nach dem Maße des Näherliegens die Ausführlichkeit. Der Schluß ist, genau wie der Anfang, ein Punkt. „Auf daß Gott alles sei in allen" (1Kor 15,28). Was dieser aber im einzelnen in sich schließt, ist zunächst noch verborgen. „Das Geheimnis ist des HErrn" (5. Mose 29,29 Elb.).
Dies eine aber wissen wir jetzt schon: Die Bibel offenbart nicht alle Aonen. Es gab Äonen vor dem Geschichtsbeginn der Welt (Eph 3,9; 1Kor 2,7 wörtl.) und wird „Äonen der Aonen" in der neuen Welt geben (Off 22,5 wörtl.). Was die Bibel enthält, ist nur ein Ausschnitt aus ihrer Fülle, nur der Heilsweg zu unserer Errettung, „nur die Einblicke und Ausblicke, die wir brauchen, um zum Rettungsziel zu gelangen". Gott selbst aber wird auch dann noch aus seiner Unendlichkeitsfülle immer weiter neue Äonen hervorgehen lassen und in diesen „kommenden Weltzeiten den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen uns erweisen in Christo Jesu" (Eph 2,7 Elb.).
354 So gilt die Beschneidung in der Zeit der Patriarchen und bleibt in der darauffolgenden Zeit des Gesetzes bestehen, um erst dann abgelöst zu werden, zieht sich also durch zwei besondere Heilszeiten hindurch. Der Grundsatz der Menschheitszersplitterung durch das babylonische Gericht währt vom Turmbau bis zur Aufrichtung des Messiasreiches, also durch die Patriarchen-, Gesetzes- und Gemeindehaushaltung hindurch.↩︎
355 Wenn auch in einem vollständig neuen Geist; denn das Gesetz ist eine Einheit (Jak 2,10) und als solche ganz abgeschafft.↩︎
356 Man könnte einwenden: Wenn auf diese Weise das Alte Testament oder zum mindesten große Teile desselben, ja sogar Einzelworte der Evangelien (z. B. Mt 10,5; 6) für nicht direkt auf uns bezüglich erklärt werden: ist dies nicht ein Widerspruch zu der Tatsache, daß uns die ganze Schrift gegeben worden ist? (2Tim 3,15-17.) Wir antworten: Allerdings gehört uns die ganze Heilige Schrift; auch das Alte Testament ist von Anfang bis zu Ende heiliges Gotteswort (2Pet 1,20; 21); aber obwohl alles für uns geschrieben ist, so handelt doch nicht alles von und über uns! So wäre es z. B. grundfalsch, die Reichsverheißungen, die Gott seinem irdischen Bundesvolk Israel gegeben hat, lediglich „ vergeistigen" und auf die Gemeinde übertragen zu wollen. Gerade um solchen irrigen Ansichten entgegen zutreten, hat der Heilige Geist Röm 9-11 schreiben lassen! Beim Alten Testament und zum Teil auch gelegentlich bei den Evangelien (z. B. Mt 21,45) ist eben ein Unterschied festzuhalten zwischen
1. direkter Auslegung, die sich nicht immer sofort unmittelbar auf uns bezieht, und
2. indirekter, praktisch-moralischer Anwendung, die uns immer gilt (2Tim 3,15-17).
Diese Unterscheidung ist die notwendige Parallele und das unerläßliche Gegenstück zu der Unterscheidung von Heilszeiten und Offenbarungsstufen im göttlichen Erlösungsplan.↩︎